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Mörder oder Störenfried?

Von Hans Förster

Reflexionen

Bei der Erinnerung an die Novemberpogrome 1938 stellt sich einmal mehr die Frage nach christlicher Mitschuld - und nach Antijudaismus im Neuen Testament: Zum Teil ist dieser ungenauen Übersetzungen geschuldet, aber nur zum Teil. Eine Recherche.


Im Jahr 2018 ist auch der schrecklichen Ereignisse während der Novemberpogrome des Jahres 1938 zu gedenken. Während dieser Pogrome wurden über 1400 Synagogen und jüdische Versammlungsräume zerstört. Tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe fielen den Pogromen zum Opfer.

Unverständlich scheint heute, warum es nur wenig Widerstand gegen die systematische Zerstörung jüdischer Gotteshäuser und jüdischen Eigentums gab. Ein wichtiger Grund hierfür scheint in der durchaus spannungsgeladenen Beziehung des Christentums zum Judentum zu liegen.

Es mag sein, dass in den Anfängen des Christentums dessen Gläubige gelegentlich unter Juden litten. Das Christentum entstand innerhalb des Judentums, entwickelte sich jedoch in eine Richtung, die von Seiten des Judentums nicht akzeptiert werden konnte. Die vom Apostel Paulus propagierte Abwendung von der Beschneidung und den rituellen Vorschriften des jüdischen Gesetzes wurde verständlicherweise von der Mehrheit der Juden als Provokation angesehen.

Mit dem Erstarken des Christentums und der Umkehr des Kräfteverhältnisses - im vierten Jahrhundert stieg das Christentum zur beherrschenden Religion des Römischen Reiches auf - begann eine jahrhundertelange Ausgrenzung von Juden in den christlich geprägten europäischen Gesellschaften und Herrschaftssystemen. Dass es hierbei auch wiederholt zu gewaltsamen Übergriffen von christlicher Seite kam, ist bekannt. Christlicher Antijudaismus lässt sich für die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sogar bei Theologen feststellen, welche dem Nationalsozialismus gegenüber reserviert oder sogar ablehnend auftraten. Dies ließ sich instrumentalisieren.

"Christusmörder"

Die Polemiken des Nationalsozialisten Julius Streicher im Hetzblatt "Der Stürmer", das von ihm 1923 gegründet wurde und am 22. Februar 1945 zum letzten Mal erschien, zeigen, dass nationalsozialistische Propaganda eng mit christlichen Motiven verquickt war. Die dort verwendete Darstellung der Juden als Teufel ist wesentlich durch das Johannesevangelium inspiriert. Das Motiv der Juden als "Christusmörder" wird ebenfalls aus zahlreichen neu-testamentlichen Belegstellen abgeleitet und war ein zentraler Bestandteil nationalsozialistischer Propaganda. Eben diese Verwendung "traditionell" christlicher Motive machte es vielen Christen so schwer, angesichts eines in der christlichen Tradition über Jahrhunderte gewachsenen Antijudaismus tatsächlich für die verfolgten Juden aufzustehen.

In diesem Zusammenhang muss Gerhard Kittel, Professor für neutestamentliche Wissenschaft in Tübingen und Wien, erwähnt werden. Er war ein Jahr nach den Novemberpogromen an die Universität Wien berufen worden und lehrte dort bis 1943. Gerade vor dem Hintergrund, dass im Jahr 1943 der Warschauer Ghetto-Aufstand stattfand, sind Ausführungen dieses Theologieprofessors, der seit 1933 Mitglied der NSDAP war, anlässlich seines Abschieds von der Universität Wien heute unerträglich.

Er spricht etwa lobend davon, dass die "abendländischen christlichen Völker bewußt und in der Hauptsache konsequent das Judentum aus ihrer Gemeinschaft ausgesondert hielten, als einen Fremdkörper, mit Ghetto und Judenabzeichen". Bei der Abgrenzung von Juden in Ghettos habe es sich nach Kittel um das der Kirche von Gott zu treuen Händen gesetzte Wächteramt gehandelt.

Kittel insinuiert damit, dass die nationalsozialistische "Ghettolösung" zutiefst christlich sei. Es muss nicht eigens erwähnt werden, dass nur sehr wenige Juden die nationalsozialistischen Ghettos überlebten. Angesichts derartiger Ausführungen ist man auf den ersten Blick gerne bereit, den Theologen Maria Neubrand und Johannes Seidel zuzustimmen, wenn sie bemerken: "Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Aufarbeitung der Verstrickung in die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes in keiner Berufsgruppe so spät und bis heute so wenig durchgeführt wurde wie in der deutschen [. . .] Theologenschaft." Dieses vorschnelle Urteil von Neubrand und Seidel verhindert jedoch eine tatsächliche Aufarbeitung der gemeinsamen christlichen Schuld.

Biblische Wurzel

Gerhard Kittel war eine vielschichtige Persönlichkeit, deren Einfluss bis heute spürbar ist. Theologen beider Konfessionen, Protestanten wie Katholiken, verwenden bis heute den sogenannten "Kittel", das von Gerhard Kittel herausgegebene "Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament". Nach Kittel handelt es sich beim Neuen Testament um das "antijüdischste Buch der Welt". In konsequenter Rezeption des christlichen Antijudaismus kommt der international hoch angesehene Neutestamentler Raymond Brown als Fazit eines langen Forscherlebens zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem Verfasser des Johannesevangeliums um einen dem Judentum gegenüber bewusst feindseligen Autor gehandelt habe. Der Text scheint dies jedenfalls auf den ersten Blick zu bestätigen.

Bei der Lektüre der revidierten Einheitsübersetzung aus dem Jahr 2016 stellt man fest, dass an zahlreichen Stellen der Evangelien von einem Tötungsbeschluss jüdischer Autoritäten die Rede ist. Hier ist, so scheint es, eine biblische Wurzel der "Christusmörder" zu finden. Es sei nur auf Mt. 12,14 verwiesen - die Mordabsichten scheinen dort eindeutig:

"Die Pharisäer aber gingen hinaus und fassten den Beschluss, Jesus umzubringen." Jemanden umzubringen, ist sprachlich nicht mehr mit einem geregelten Gerichtsverfahren in Einklang zu bringen, hier wird den Pharisäern ausdrücklich unterstellt, sie hätten den Plan gefasst, Jesus zu ermorden. Aus philologischer Sicht wäre jedoch eine weitaus zurückhaltendere Übersetzung möglich und wohl auch dem griechischen Text gemäß: "Als aber die Pharisäer hinausgegangen waren, berieten sie über ihn, wie sie ihn loswürden." Einen Störenfried - auf welche Art auch immer - loszuwerden, ist etwas ganz anderes, als der bewusste Vorsatz, diesen töten zu wollen.

Angesichts der dezidiert erklärten Intention der Herausgeber, unnötige Antijudaismen zu vermeiden, ist diese Übersetzungsentscheidung der revidierten Einheitsübersetzung, die sich so selbstverständlich als traditionelle Übersetzungsentscheidung auch in anderen Übertragungen des Neuen Testaments findet, nur schwer nachvollziehbar.

Offensichtlich ist: Das Motiv der "Christusmörder" wird ohne ausreichende philologische Rechtfertigung in den Text getragen. Grund hierfür ist die christliche Tradition. Das Motiv der Christusmörder ist seit Jahrhunderten Teil christlicher Identität. So verwendet zum Beispiel bereits Thomas von Aquin, einer der bedeutendsten Theologen des 13. Jahrhunderts, dieses Motiv. Allein auf die fehlende Aufarbeitung nationalsozialistischer Verwicklungen zu verweisen, greift also zu kurz.

Vielmehr gibt es ein grundlegendes Problem in der christlichen Bibelwissenschaft. Die Theologin Leonore Siegele-Wenschkewitz hat nicht ohne Grund bereits vor Jahrzehnten die Frage aufgeworfen, ob christliche Theologie als solche antijüdische Tendenzen besitze. Eine derart allgemein formulierte Frage ist natürlich rhetorisch und als solche unlösbar.

Aufgrund neuerer Forschungen lässt sich das Problem weitaus klarer formulieren: Neutestamentliche Wissenschaft und neutestamentliche Übersetzungspraxis sind von der Geschichte des Christentums beeinflusst. Interpretierende Übersetzungsentscheidungen konstruieren einen antijüdischen Sinn, welcher in einer ganzen Reihe von Fällen nicht zwingend vom griechischen Text gefordert ist. Das Beispiel des vermeintlichen "Tötungsbeschlusses" zeigt dies. Derartige Übersetzungsentscheidungen prägen protestantische wie katholische Bibelübersetzungen in gleicher Weise. Dies ist auch nicht weiter verwunderlich: In der Übersetzungswissenschaft ist allgemein anerkannt, dass ein existierendes Vorverständnis in eine Übersetzung hineingetragen wird.

Luthers Beitrag

Da in der neutestamentlichen Forschung der antijüdische Charakter der neutestamentlichen Schriften mehrheitlich anerkannt ist, prägt dieses Vorverständnis auch Übersetzungen. Zusätzlich war bereits Martin Luthers Übersetzung, die im 16. Jahrhundert entstand, keinesfalls ausgewogen. Luther bevorzugte nachweislich judenfeindliche Übersetzungsentscheidungen. Seine Übersetzung war weit über die Theologie hinaus auch für die deutsche Sprachgeschichte bedeutend. All dies scheint es noch heute fast unmöglich zu machen, eine ausgewogene Übersetzung zu erreichen.

Als grobe Schätzung sei für das Johannesevangelium festgehalten, dass wohl in fünf bis zehn Prozent des übersetzten Textes Antijudaismen durch die Übersetzungsentscheidungen verschärft oder überhaupt erst erzeugt wurden.

Hier muss nun noch einmal das Wörterbuch von Kittel erwähnt werden: Dieses zieht - in methodisch einwandfreier Weise - die bisherige christliche Rezeptionsgeschichte als Grundlage für das Verständnis der neutestamentlichen Wörter heran und setzt damit das eigene Konzept eines "theologischen Wörterbuches" um.

Ein "theologisches Wörterbuch" unterscheidet sich damit in grundsätzlicher Weise von einem philologischen Wörterbuch: Mit der Rezeptionsgeschichte hält der sich in der christlichen Tradition verfestigende Antijudaismus Einzug in die begriffliche Deutung der griechischen Begriffe. An seinen eigenen methodischen Voraussetzungen gemessen, handelt es sich in der Tat um ein mustergültig erarbeitetes Wörterbuch.

Es wird jedoch nur theologischen, aber nicht philologischen Kriterien gerecht. Kittel und andere Theologen aus der Zeit des Nationalsozialismus haben mit Standardwerken wie dem "Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament" mit dazu beigetragen, dass es zwei aktuellen Revisionen, also Überarbeitungen von zentralen Bibelübersetzungen, unzureichend gelungen ist, traditionelle Antijudaismen zu überwinden. Vielmehr verschärfen die revidierte Lutherbibel (2017) und die revidierte Einheitsübersetzung (2016) das Motiv einer Dämonisierung der Juden im Neuen Testament, verglichen mit Übersetzungen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg.

Deshalb sei in Erinnerung gerufen: Die Darstellung der Juden als Teufel und Dämonen war eines der am häufigsten verwendeten Motive der nationalsozialistischen Propaganda. Damit zeigt sich: Der wissenschaftlichen Aufarbeitung philologisch problematischer antijüdischer Verzerrungen des Neuen Testaments hat sich die Theologie überhaupt erst anzunehmen. Dabei handelt es sich nicht nur um eine faszinierende und schwierige wissenschaftliche Herausforderung - es ist vielmehr eine moralische Pflicht.

Hans Förster ist Kirchenhistoriker und Projektleiter zweier Forschungsprojekte zur koptischen Überlieferung des Johannesevangeliums an der Universität Wien.

Siehe auch: Eine Chronik der Ereignisse im November 1938. Von Thomas Hofmann.