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Abseits der Konventionen

Von Markus Vorzellner

Reflexionen
"Monsieur Crescendo" Gioachino Rossini.
© ullstein bild/Heritage Images

Der italienische Komponist Gioachino Rossini schrieb mit seinem Stil Operngeschichte. Am 13. November jährt sich sein Todestag zum 150. Mal.


"Zu einer Oper, Ciro in Babilonia, hatte ich eine schauderhafte Secunda-Donna. Sie war nicht allein über die Erlaubniß häßlich, auch ihre Stimme war unter aller Würde. Nach der sorgfältigsten Prüfung fand ich, dass sie einen einzigen Ton besaß, das B der eingestrichenen Octave, welcher nicht übel klang. Ich schrieb ihr daher eine Arie, in welcher sie keinen anderen, als diesen Ton, zu singen hatte, legte Alles ins Orchester und da das Stück gefiel und applaudirt wurde, so war meine e i n t ö n i g e Sängerin überglücklich über ihren Triumph."

Diesen Satz sprach Gioachino Rossini, wenn man der Quelle Glauben schenken darf, im Jahr 1855 in Trouville in der Normandie während einer Unterhaltung mit dem Komponisten Ferdinand Hiller. Der 20-jährige aufstrebende Rossini hatte diese Arie, "Chi disprezza gli infelici", tatsächlich für die Ferrareser Sängerin Anna Savinelli geschrieben und mit der unkonventionellen Melodieführung nicht nur der stimmschwachen Dame und sich selbst eine Art Denkmal gesetzt, sondern unbeabsichtigt auch eine Traditionslinie begründet, die in gewisser Weise über Peter Cornelius’ "Ein Ton op. 3/3" bis hin zu bestimmten Kompositionstechniken innerhalb der musikalischen Avantgarde nach 1945 führt.

Musikalischer Haushalt

Unkonventionelles begleitet das Leben des an einem Schalttag, dem 29. Februar 1792, in Pesaro geboren Gioachino von Beginn an. Einer Überlieferung zufolge hielt sich Vater Giuseppe Rossini während der Niederkunft seiner Gattin Anna im Nebenzimmer auf. Bei jedem Schmerzensschrei hätte er jeweils eine der in diesem Raum befindlichen Gipsstatuen zertrümmert. Als die Reihe an den heiligen Jakob, den Vater Marias, kam, hätte er jedoch den Schrei des Neugeborenen vernommen und in seiner Zerstörungswut innegehalten: Das Kind wurde zunächst auf den Namen Giovachino getauft, wobei das "V" bald abhanden kam.

Den musikalischen Haushalt prägten beide Elternteile: Der Vater war als Trompeter und Hornist, die Mutter als eine über den Regionalbereich hinaus bekannte Sängerin tätig. Die Praxis überrollte Gioachino schon in relativ jungen Jahren: Bei einem Auftritt seiner Mutter konnte der Zehnjährige zum ersten Mal die Gnadenlosigkeit des Publikums erleben: Anna Rossini war 1802 nach Triest eingeladen worden, um am Teatro Nuovo, dem heutigen Teatro Giuseppe Verdi, die Titelpartie in Giovanni Battista Borghis "La morte di Semiramide" zu singen - ein Stoff, dem sich ihr Sohn zwanzig Jahre später ebenfalls widmen sollte.

Der Auftritt der Gast-Primadonna geriet zum Desaster: Das Publikum empfing sie mit einem Buh-Konzert, weil an dem Abend nicht die weitaus berühmtere Giuseppina Grassini zu erleben war. Anna Rossini täuschte eine Ohnmacht vor und wurde vom Sohn, sowie umstehenden Helfern hinausgetragen.

In Lugo bei Ravenna erhielt der Knabe ab 1802 Gesangs- und Cembalo-Unterricht bei dem Kanonikus Giuseppe Malerbi und verfasste seine ersten geistlichen Kompositionen. Seine stimmlichen Qualitäten waren überdies derart herausragend, dass er mit seinem hellen Sopran im heute nicht mehr existierenden Teatro Comunicativo in Ravenna in Valentino Fioravantis Oper "I due Gemelli" für einen Bass-Buffo einsprang.

Zur Opern-Saison 1803/04 übersiedelte die Familie nach Ravenna und wohnte in Untermiete bei Agostino Triossi, einem Amateur-Spieler am Kontrabass. Für diesen schrieb Rossini in drei Tagen sechs Streichersonaten für zwei Violinen, Violoncello und Kontrabass, die er später, wie auf einem erhaltenen Manuskript zu lesen ist, als "sechs schreckliche Sonaten" bezeichnete. Bei der Aufführung im Hause Triossi hätten seine Mitspieler "wie Hunde" gespielt, wobei er selbst, mit dem Part der ersten Violine, auch nicht "der am wenigsten Hundische" gewesen sei.

In Bologna, wohin die Familie 1804 übersiedelt war, erwuchs ihm in Padre Angelo Tesei 1806 der erste Kompositionslehrer, der ihm zwar das Handwerkszeug, nicht jedoch die Bühnenpraxis näherbringen konnte. Seine im selben Jahr komponierte erste Oper, "Demetrio e Polibio", war ein Gelegenheitsauftrag des ihm befreundeten Bologneser Tenors Domenico Mombelli. Dieses, einer Laune der Familie Mombelli entsprungene Bühnenstück erfuhr sechs Jahre später seine professionelle Uraufführung, zu einer Zeit, als der 20-jährige Rossini bereits seine ersten Erfolge verzeichnen konnte.

Melodieführung

Auch wenn diesem Frühwerk so mancher epigonenhafte Zug nicht abgesprochen werden kann, so zeigen sich bereits Ansätze des später so typischen Rossini-Stils. Die Arie "Pien di contento" etwa lässt - sowohl hinsichtlich der Melodieführung als auch der Orchesterbegleitung - bereits Rosinas "io sono docile, son rispettosa" aus der heute zum Standardrepertoire gehörenden "Una voce poco fa" aus "Il barbiere di Siviglia" erahnen.

Aus Venedig erging 1810 an Rossini der erste definitive Kompositionsauftrag. "La cambiale di matrimonio", "Der Heiratswechsel", hatte am 3. November im Teatro San Moisè Premiere. Diese Produktion fungierte als Initialzündung für die Karriere Rossinis. Ferrara, Mailand, Bologna und Venedig erteilten Kompositionsaufträge, und im Zeitraum zwischen 1811 und 1814 schrieb der Twen zwölf Bühnenwerke, darunter "L’italiana in Algeri" oder "Il turco in Italia", die bis heute ihren Platz in den Spielplänen behaupten können.

Rossinis erstes Auftragswerk für die Mailänder Scala war "La pietra del paragone", "Der Prüfstein". In diesem am 26. September 1812 uraufgeführten Stück präsentiert sich ein militärischer Befehlshaber bei seinem ersten Auftritt sofort mit dem entsprechenden Klischee. Man wird unweigerlich an den Narzissmus des Sergente Belcore in Gaetano Donizettis "L’elisir d’amore" erinnert, der sich in seinem Auftrittslied mit Paris vergleicht, welcher den Apfel "der Schönsten" zu überreichen hat. ("Come Paride vezzoso porse il pomo alla più bella").

In einem wesentlichen Aspekt aber unterscheidet sich der selbstsichere "Sergente" von Rossinis Lucindo in "La pietra del paragone": Dieser ist zum Zeitpunkt "seines" Auftrittes längst nicht mehr unter den Lebenden, sondern wird von dessen Schwester Clarice in militärischer Verkleidung verkörpert. Diese möchte durch "seine" Ankündigung, die Schwester mit sich nehmen zu wollen, die Liebe des von ihr begehrten Grafen Asdrubale prüfen.

Mailand war damals Hauptstadt des Dipartimento dell’Olona, welches wiederum einen Teil des kurzlebigen napoleonischen "Königreichs Italien" darstellte. Die dort stationierten Truppenkontingente mussten dem in Bedrängnis geratenen italienischen König Napoleon Bonaparte auch von Mailand aus in immer größerer Zahl zugeführt werden. Aufgrund ihrer Dauerpräsenz wurde ihnen auf der Opernbühne eine zwischen Klischee und Ironie angesiedelte Erscheinungsform zuteil. In bestimmten Situationen griffen die politischen Konstellationen direkt in die Biographie Rossinis ein.

Am 30. März 1815 ließ der von Napoleons Gnaden eingesetzte König von Neapel, Joachim Murat, die im Kirchenstaat stationierten österreichischen Truppen angreifen, und am 5. April rief er in Rimini die "Unabhängigkeit Ita-liens" aus, wodurch er den Fortbestand des napoleonischen Königreichs sichern wollte.

Siegeshymne

Da Bologna ein beachtliches Truppenkontingent zur Verfügung gestellt hatte, wurde im dortigen Teatro Contravalli eine große Siegesfeier anberaumt, zu der Rossini mit seiner "Siegeshymne", dem "Inno della independentia" entscheidend beitrug. Da dieser "Sieg" sich als Wunschdenken entpuppte und Murats Anhänger mit Konsequenzen zu rechnen hatten, flüchtete Rossini nach Neapel, das sich ebenfalls im Umbruch befand und 1817 Palermo als Hauptstadt des 1816 ausgerufenen Königreichs beider Sizilien nachfolgte.

Auf diesem musikdramatisch fruchtbaren Boden schrieb Rossini einige seiner Meisterwerke für diese Stadt, so etwa "Otello", vor dem noch Giuseppe Verdi großen Respekt bezeugte, oder "La donna del lago" nach Sir Walter Scotts Poem "The Lady of the Lake". Aber auch von anderen Opernhäusern ergingen Aufträge an Rossini: Für Rom schrieb er seine berühmtesten Werke, "Il barbiere di Siviglia" und "La Cenerentola", die Geschichte von Aschenputtel, für Mailand "La gazza ladra", deren mitreißende Overtüre bis heute das Repertoire sämtlicher Symphonieorchester bereichert.

Die neapolitanische Periode Rossinis betrug knapp sieben Jahre. Nach der Uraufführung von "Zelmira", der Vertonung eines eher unbeholfenen Librettos, das den König von Lesbos, Polidoro, dessen Tochter Zelmira, ihren edlen Bräutigam Ilo und den bösen Antenore in eine banale Handlungskonstellation zwingt, begab sich Rossini nach Wien. Der neapolitanische Impresario und Direktor des Teatro San Carlo in Neapel, Domenico Barbaja, leitete zur selben Zeit auch das Wiener Kärntnertortheater. Der Aufenthalt des gefeierten Komponisten in der Kaiserstadt löste einen wahren Rossini-Taumel aus, vor dem auch Franz Schubert kapitulieren musste, der soeben "Alfonso und Estrella" beendet hatte.

Rossini bei Beethoven

Schubert war dem italienischen Superstar freilich keine Begegnung wert, sehr wohl aber Beethoven. Ihn besuchte Rossini auf Vermittlung des in Wien lebenden Dichters und Zensors Giuseppe Carpani in seiner Wohnung in der Landstraßer Hauptstraße: "Ich drückte ihm meine volle Bewunderung seines Genies aus, meine ganze Dankbarkeit dafür, dass er mir erlaubt hatte, sie ihm persönlich auszusprechen. Er antwortete mit einem tiefen Seufzer und einem Wort: ‚Oh, un infelice‘".

Die wichtigste Destination Rossinis sollte jedoch ab 1825 Paris werden. Sein Ruf eilte ihm freilich auch dort voraus, bei Bewunderern wie bei Kritikern. Gegenüber Ferdinand Hiller gesteht er, von einem französischen Kritiker Monsieur Crescendo genannt worden zu sein. Doch Rossini stellte sich auch dort auf das Publikum ein, studierte die Prinzipien der Grand Opéra und bereicherte dieses Genre mit seinen Bühnenwerken, als deren krönender Abschluss "Guillaume Tell" gesehen werden kann. Dieser am 3. August 1829 uraufgeführten Oper sollte kein Bühnenwerk mehr folgen. Auf Hillers Frage nach der Ursache dieses Verstummens antwortete Rossini "Ohne Veranlassung, ohne Anregung, ohne die bestimmte Absicht, ein bestimmtes Werk zu schaffen? Ich brauchte nicht viel, um zum Komponieren gereizt zu werden, meine Opernbücher bezeugen es (!!!) - aber doch etwas!"

Im Lauf der verbliebenen 49 Jahre trug Rossini seine "Alterssünden" zusammen - "Péchés de vieillesse", Klavier- und Kammermusikstücke sowie Vokalwerke mit teils kuriosen Titeln - und schrieb sein großes Alterswerk, die "Petite Messe solennelle". Auf deren letzter Partiturseite lässt er uns noch einmal an seinem unkonventionellen Denken teilhaben: "Lieber Gott! (. . .) Ist es wirklich geistliche Musik, die ich da geschrieben habe, oder am Ende gar Musik des Teufels? Ich bin für die opera buffa geboren, wie Du genau weißt. (. . .) Sei also gesegnet und gewähre mir den Einzug ins Paradies." Am 13. November 1868 starb der Komponist in seiner Villa in Passy bei Paris.

Markus Vorzellner lebt als Pianist, Musikpublizist und Pädagoge in Wien.