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Super global, made in Japan

Von Leopold Federmair

Reflexionen

Warum fast alle Japaner kein Englisch sprechen, fast alle Schüler eine Zweitschule besuchen - und die Jugend sich dem Erwachsenen-Stress verweigert.


Japans Schüler: kurze Ferien, hoher Leistungsdruck, große Müdigkeit.
© Federmair

Japan-Besucher machen zumeist die Erfahrung von freundlichen oder zumindest höflichen Menschen, mit denen man sich nicht eingehender unterhalten kann, weil sie kaum Englisch sprechen. Dabei ist Englisch in den Schulen ein Pflichtfach, die meisten Schüler werden ab dem Alter von sieben, acht Jahren mit der Fremdsprache konfrontiert, am Test of English for International Communication nehmen jährlich zwischen zwei und drei Millionen Japaner - nicht alle ganz freiwillig - teil. Das Erziehungsministerium hat längst die Parole der Globalisierung ausgegeben. Das scheint aber alles nichts zu nützen. Warum?

Aus der Zeit, als ich mich bemühte, systematisch Japanisch zu lernen, kenne ich japanische Lehrer in Privatschulen ebenso wie an Universitäten. So gut wie überall war der Unterricht schematisch, wenig Raum für Spontaneität. Ich erinnere mich an eine Lehrerin, die nichts anderes tat, als eine Tonmaschine zu bedienen, von der aufgenommenes Sprachmaterial kam, und an einen anderen, lustigen Lehrer, der vorzeiten in Griechenland Austauschstudent gewesen war und etwas von dortiger Lebensfreude mitgenommen hatte. Er sprach oft von seiner Auslandserfahrung, doch der Satz, an den ich mich am deutlichsten erinnere, war: "Nihonjin ha hanashi ga heta desu." Nicht leicht zu übersetzen, wie so oft die einfachen japanischen Adjektive: "Japaner können nicht gut kommunizieren", so ungefähr.

Absentismus

An derselben Universität begegnete ich einmal einem deutschen Japanologie-Studenten, der seine Masterarbeit über Absentismus an japanischen Schulen schrieb. Durch ihn wurde ich auf dieses Thema aufmerksam, auf bekannte Tatsachen, die man nicht gern an die große Glocke hängt, zum Beispiel, dass gegenwärtig rund 130.000 Schüler von der ersten bis zur neunten Schulstufe mehr als 30 Tage dem Unterricht fernbleiben - viele noch viel länger, und nicht wenige gehen überhaupt nicht zur Schule. Einer pro Klasse, der Statistik zufolge. Auch in der Grundschule meiner Tochter gibt es so einen Fall, einen Schüler, der von einem Tag auf den anderen verschwunden war und nicht wiederkam - und nicht etwa, weil er mit der Familie an einen anderen Ort gezogen wäre.

In europäischen Massenmedien ist die Figur des Hikikomori seit einigen Jahren ein beliebtes Thema. Schriftsteller haben Bücher darüber geschrieben, zum Beispiel, sehr feinfühlig, Milena Michiko Flašar ("Ich nannte ihn Krawatte"). Diese Figur ist allerdings nur die Spitze eines Eisbergs, der Absentismus heißt: Rückzug aus gesellschaftlichen Strukturen mit ihren pausenlosen Anforderungen, die vom Individuum als unerträglich empfunden werden.

Erwähnen könnte man in diesem Zusammenhang auch, dass Japan, eines der wohlhabendsten und friedlichsten Länder, eine der höchsten Selbstmordraten weltweit aufweist. Die Behörden versuchen, durch Sozialprogramme gegenzusteuern, was wohl dazu beigetragen hat, dass die Kurve in den vergangenen Jahren gesunken ist, aber gleichzeitig gab es mehr Selbstmorde unter Schülern. Ein Zahlenverhältnis, das ich so verstehe, dass ältere Menschen durch Unterstützung von außen das Durchhalten-Müssen vermehrt akzeptieren, während jüngere sich dem Stress des Erwachsenseins, den ihnen die Schule bereits auferlegt, mehr verweigern denn je, weil die Zukunftsaussichten insgesamt nicht besser werden, die Bevölkerung schrumpft, es schwierig ist, Erfüllung zu finden - was für viele ganz schlicht bedeutet: einen Lebenspartner zu finden, mit dem sie eine Familie gründen können. Nihonjin ha hanashi ga heta desu. Man kommt dem anderen nicht leicht näher, und das gilt nicht nur gegenüber Ausländern, sondern auch, wenn Japaner unter sich sind.

In den allermeisten Schulen Japans herrscht Uniformplicht; darüber hinaus gibt es noch eine Reihe von Regeln und Verboten, was Haartracht, Winterkleidung, Schmuck betrifft. Es gibt kaum Schüler, die daran etwas auszusetzen haben, und viele mögen ihre Uniform; die Jungen und Mädchen in blauen Sakkos, blauen oder grauen Kitteln, weißen Hemden und Krawatte gehören zum japanischen Straßenbild.

Lernt man den schulischen Alltag kennen, wird klar, dass die Uniformierung nicht nur das Äußere betrifft, nicht nur die Formen, sondern auch die Inhalte. Vor sechs Jahren war ich mit meiner Frau bei der Schulbeginnfeier, wo die Erstklassler, darunter meineTochter, an der Seite der Sechstklassler hereinkamen, Hand in Hand. Ein schöner Brauch, aber auch Ausdruck von Hierarchisierung, dem sogenannten Senpai-System, wo die Älteren stets über den Jüngeren stehen, im Guten wie im Schlechten.

Zu der Feier waren alle Eltern mit großer "Verfrühung" erschienen und saßen eine halbe Stunde im geschmückten, mit Stühlen bestückten Turnsaal, ohne sich miteinander zu unterhalten; man hätte die berühmte Stecknadel fallen hören können. Feiern, Ansprachen, Appelle takten den Schulalltag. Bei der Abschlussfeier darf meine Tochter, jetzt in der sechsten und letzten Grundschulklasse, eine kleine, formale, vorgefertigte Rede halten, weil sie gut lesen und artikulieren kann. Sie freut sich darauf.

Enormes Lernpensum

In Schulen lernt man nicht nur etwas, sie haben unweigerlich auch Gewöhnungs- und Anpassungseffekte - das ist überall auf der Welt so. In Japan verbringen Schüler sehr viel Zeit in der Schule; man könnte meinen, hier herrsche die Ganztagsgesamtschule vor, allerdings ohne innere Differenzierungen (ich würde eher von "Einheitsschule" sprechen).

Es gibt im Vergleich zu europäischen Ländern kürzere Ferien und, nach meinem Eindruck, viel mehr Hausaufgaben. Dass Schüler am Wochenende damit beschäftigt sind, ist normal, ebenso, dass die Lehrer Hausaufgaben für die Sommer- und Frühlingsferien geben, und zwar so, dass die Schüler jeden Tag ein gewisses Pensum zu erledigen haben. Im Grunde genommen haben japanische Schüler keine Ferien im vollen Sinn des Wortes.

Hinzu kommen ab der 7. Schulstufe noch die Sport-, Musik- und sonstigen Klubs, in denen die Schüler oft vier Stunden täglich trainieren. Und die Nachhilfeschulen, die sogenannten juku, die fast alle Schüler besuchen, in geringerem Ausmaß während der Grundschule, obwohl viele Eltern heutzutage schon ihre Vier- und Fünfjährigen in Jukus für die Kleinen stecken, weil sie glauben, dass ihr Kind dadurch eine blendende Zukunft vor sich hat. In den Köpfen dieser Eltern umgreift die Planung zwanzig Jahre und mehr.

Vor einigen Jahren waren in europäischen Medien Fotos von in Zügen oder Parks schlafenden, meist gut gekleideten oder uniformierten Japanern beliebt. Das Publikumsinteresse war irgendwann gesättigt, doch das Phänomen verschwand damit nicht. Warum schlafen Japaner in der Öffentlichkeit? Erstens, weil sie sich sicher fühlen und nicht fürchten müssen, dass ihnen jemand die Handtasche klaut. Zweitens, und das ist natürlich der Hauptgrund, weil sie müde sind.

Ich glaube, ein Leben ohne ständige Müdigkeit kann sich ein Japaner gar nicht vorstellen. Die Kinder werden in der Schule daran gewöhnt; das Programm, das ihnen Lehrer und Eltern vorgeben, lässt sich nur bewältigen, wenn sie spät schlafen gehen, oft gegen Mitternacht. Für Grundschüler gibt es sogar Regeln, bis wann sie aufbleiben dürfen (21 Uhr), doch diese Regel bewirkt nur, dass die Hausaufgaben noch mehr Stress bedeuten. Irgendwann geben die Lehrer die Bettparole ohnehin auf; zu offensichtlich ist es, dass die Zeit nicht reicht.

Damit ist allerdings nicht gesagt, dass die Schüler immer etwas Sinnvolles tun. In Japan herrscht in allen Lebensbereichen Umständlichkeit vor; ein Großteil der Zeit wird mit Vorbereitungen, Saubermachen (die Schüler reinigen ihre Schule selbst), diversen Formalitäten oder auch mit Warten verbracht.

In den höheren Stufen ist der Unterricht auf Tests ausgerichtet, die zentral erstellt und ausgewertet werden und landesweit zum selben Zeitpunkt stattfinden. Das geht dann bis zur Zentralprüfung für die Zulassung zum Universitätsstudium, mit einer fast paranoiden Sorge, dass auch alles korrekt abläuft. Die Universitätsgebäude, in denen diese Prüfungen stattfinden, werden schon am Vortag - in der Regel ein Freitag - geschlossen, damit keine Manipulation möglich ist.

Bei solchen Prüfungen überwiegen Multiple Choice und ähnliche Verfahren. Die Jukus vermitteln den Schülern und angehenden Studenten das entsprechende Know-how. Vielfach ist es schwierig, ohne ein spezielles, antrainiertes Know-how zu bestehen. Schulen und Jukus greifen ineinander, manche Lehrer verlassen sich darauf, dass bestimmte Teile des Lehrprogramms von der Zweitschule erledigt werden. Auf diese Weise entsteht ein Juku-Zwang, dem sich wenige entziehen.

Fremdsprachenpraxis

Als Lehrer an der Universität - über 60 Prozent der jungen Erwachsen erlangen einen Hochschulabschluss - bin ich dann mit ausgelaugten Erstsemestrigen konfrontiert, die kein Erinnerungsvermögen und kein substanzielles Wissen haben, weil sie immer nur für Tests gelernt, aber die Zentralprüfung, die dann schon einige Monate zurückliegt, problemlos geschafft haben. Natürlich können sie nicht Englisch, geschweige denn eine andere Fremdsprache.

Die Universität, an der ich Deutsch unterrichte, trägt die schöne, vom Erziehungsministerium verliehene Bezeichnung "super global". Eine der Maßnahmen des entsprechenden Programms bestand darin, alle Lehrer zu veranlassen, ihre Lehrveranstaltungen im Syllabus auf Englisch (neben japanisch) zu veröffentlichen.

Viele Lehrer sammelten gruppenweise ihre Texte und trugen sie zu einem Übersetzungsbüro, das für seine Dienste natürlich bezahlt werden musste. So sieht die "globalisierte" Praxis aus. Werden ausländische Professoren zu Vorträgen eingeladen, erwartet man, dass diese ihren Vortragstext Monate im Voraus schicken, damit er übersetzt werden kann. Sind die Gastvortragenden dann da, führen sich die Zuhörer etwas zu Gemüte, das sie schon fast auswendig können; die Fragen, die sie stellen, haben sie längst vorbereitet.

Mangel an Korrektheit und annäherungsweises Formulieren, wie sie spontane Kommunikation auszeichnen, sind hier undenkbar; lieber gar nicht sprechen als fehlerhaft. In naher Zukunft werden ohnehin bei all diesen Anlässen, auch auf der Straße, Übersetzungsmaschinen zum Einsatz kommen. Das ist die wahre Globalisierung.

Leopold Federmair, geboren 1957 in Oberösterreich, ist als Schriftsteller, Essayist, Kritiker und Übersetzer tätig. Der Autor lebt in Hiroshima, wo er an der Universität Deutsch unterrichtet. Zuletzt erschienen: "Tokyo Fragmente" (siehe dazu Besprechung)..