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Google im Taschenbuchformat

Von Miguel de la Riva

Reflexionen

Wie mit Stewart Brands "Whole Earth Catalog" vor 50 Jahren ein Printprodukt die globale Epoche erfand.


Die beschützenswerte Erde im Fokus: Magazin-Cover, 1969.
© Archiv

Die Erde aus dem Weltraum zu sehen, ist beeindruckend und bewegend. Vor dem Hintergrund der unendlichen Leere des Alls wirkt der Blaue Planet klein und verletzlich. Der Blick aus dem Weltraum macht sinnfällig, dass wir nur eine Erde haben, dass wir sie gut behandeln und mit unseren Mitmenschen gerecht teilen müssen.

So berichten es übereinstimmend zahlreiche Astro- und Kosmonauten, die der Wissenschaftshistoriker Frank White interviewte. Für die Wirkung des Blicks auf die Erde aus großer Distanz prägte er 1987 den Begriff "Overview effect": Die Erde vom Mond oder von einer Weltraumstation aus zu sehen, erzeugt eine intensive Erfahrung von Einheit und Ganzheit, die an fernöstliche Spiritualität erinnert.

Whites Gespräche förderten immer wieder dieselben Eindrücke zutage: Im Blick über ganze Kontinente und Ozeane wirken nationale Grenzen unbedeutend. Die Menschheit, ja das Leben überhaupt erscheint als ein großer Zusammenhang, als Einheit. Die Erde stellt sich als die kleine, kostbare Insel dieses Lebens dar, als Organismus, in dem alles miteinander verbunden ist. Ließe sich diese Erfahrung auch all jenen vermitteln, die nicht den Weltraum bereist haben, um mehr Bewusstsein für unsere Umwelt zu schaffen?

1966 hat der kalifornische Hippie Stewart Brand die Vision, ein Foto der Erde aus dem Weltraum würde "alles ändern". So ein Bild gab es damals noch nicht, trotz eines milliardenschweren Raumfahrtprogramms. Also prägt er Buttons mit der Aufschrift "Why haven’t we seen a photograph of the whole Earth yet?", verkauft sie an der Berkeley University und schickt sie in den Kongress nach Washington.

Von der Linie zum Kreis

Das berühmte "Earthrise"-Foto.
© NASA/Bill Anders

Die Idee kam Brand während eines LSD-Trips. Er denkt über einen Gedanken des Ingenieurs, Tüftlers und Ideengebers der Hippie-Bewegung, R. Buckminster Fuller, nach. Fuller zufolge denken Menschen, die natürlichen Ressourcen seien unerschöpflich, weil sie sich die Erde in Wirklichkeit noch als Scheibe vorstellen.

Um der Einsicht zum Durchbruch zu verhelfen, dass unsere Ressourcen endlich sind, musste man den Planeten also als Kugel zeigen, das Bild offener Horizonte durch das geschlossene Rund des Erdballs ersetzen: Wenn wir uns im Kreis bewegen statt zu immer neuen Horizonten aufzubrechen, können wir nicht fortwährend expandieren, sondern müssen haushalten. Ein Foto der Erde aus dem Weltraum müsste darum das Verhältnis zu unserem Planeten radikal verändern, schließt Brand.

Er sollte recht behalten. Als Apollo 8 im Dezember 1968 mit dem "Earthrise"-Bild zurückkehrte, das den Aufgang der Erde vom Mond aus zeigt, war die Wirkung überwältigend. Berühmter noch wurde das Foto der "Blue Marble", das 1972 während der letzten bemannten Mission zum Mond entstand und die Erde in vollem Umfang zeigt. Mitten im Kalten Krieg erreichten so Bilder die Erde, die sie als Einheit zeigen und die Blockkonfrontation gleichsam kleinkariert aussehen ließen.

"Whole Earth Catalog"-Gründer Stewart Brand im Jahr 2013.
© Steve Jurvetson

Millionenfach reproduziert, wurden diese Bilder nicht nur Ikonen für Umweltschutz und globale Gerechtigkeit. Sie haben das Verständnis unseres Platzes in der Welt unwiderruflich verändert. Sie markieren einen Umbruch, der von vielen mit den wissenschaftlichen Revolutionen von Kopernikus, Darwin und Freud verglichen wird. Mit ihnen begann die Epoche eines planetarischen Bewusstseins, das die Erde als Einheit betrachtet: Die Reise in die unendliche Offenheit des Alls führte zur Schließung der Welt als zusammenhängender Raum nach innen. "Wir alle sind Astronauten an Bord des Raumschiffs Erde", brachte es Fuller mit einer epochemachenden Metapher auf den Punkt.

Die neue Perspektive auf unseren Planeten popularisierte Brand mit dem von ihm herausgegebenen Whole Earth Catalog, einem zentralen Dokument der amerikanischen Gegenkultur. Schon auf der ersten Ausgabe, vor 50 Jahren im Herbst 1968 erschienen, prangt eine kreisrunde Erde, noch kurz vor den berühmten Apollo-Aufnahmen, die spätere Cover zieren sollten. Brand nahm damals mit einer kongenialen Montage ein Bild vorweg, das erst vier Jahre später realisiert wurde: Er benutzte eine noch weitgehend unbekannte Aufnahme des Wettersatelliten ATS-III vom November 1967, verkleinerte sie, umgab sie mit schwarzem Grund und schuf so die Illusion eines aus weitaus größerer Distanz aufgenommenen Bildes.

Der Whole Earth Catalog richtete sich an die Aussteigergemeinschaften, die sich damals in die Berge und Wälder Colorados und New Mexicos zurückzogen, und erreichte schnell eine Millionenauflage. Mitte der 60er Jahre wandte sich eine ganze Generation junger Amerikaner vom Leben in der konformistischen Gesellschaft des Kalten Krieges ab und gründete Kommunen auf dem Land. Statt zu einem Zahnrad in der Maschinerie des militärisch-industriellen Komplexes zu werden, suchten die Back-to-the-landers nach Authentizität, Gemeinschaft und einem Leben im Einklang mit der Natur.

Anders als die vielen neuen sozialen Bewegungen der Zeit - wie etwa das Free Speech Movement, die Bürgerrechts- oder die Frauenbewegung - sahen sie die Lösung nicht in der Politik, sondern in der Transformation des eigenen Bewusstseins und dem Erproben neuer Lebensformen.

Unter dem Motto "Access to tools" sollte der Catalog Dinge verfügbar machen, die nützlich sind bei dieser spirituell aufgeladenen Rückkehr zur Natur. Als kommerzielles Projekt enthielt er Informationen über zahlreiche Produkte, die man als Versandartikel bestellen konnte: Die persönliche Befreiung und Rettung des Planeten vollzog sich im Medium des Konsums. Neben Utensilien zum Überleben in der Wildnis oder Büchern über Yoga spielten im Sortiment auch Computer und die kybernetischen Schriften Norbert Wieners eine wichtige Rolle.

Im "globalen Dorf"

Das reflektiert die utopischen Hoffnungen, die die Aussteiger an moderne Technologie knüpften. Während man in der europäischen Umweltbewegung Technik und Wissenschaft - etwa der Atomenergie - skeptisch gegenüberstand, weil sie als Gestalter der Entfremdung von der Natur wahrgenommen wurden, sahen die US-Kommunarden in ihnen Mittel zur Schaffung neuer Formen von Gemeinschaft und Bewusstsein.

So sehr man auch die Gesellschaft des Kalten Krieges ablehnte, bediente man sich doch ihrer Technologien und Theorien zur Erschaffung der angestrebten neuen Gesellschaft. Die von Fuller entwickelten geodätischen Kuppeln, aus denen Kommunen wie Drop City entstanden, wurden zuvor vom US-Militär zur Behausung eines Warnsystems vor sowjetischen Raketenangriffen eingesetzt. Obwohl man ein ganz neues Bewusstsein prägen wollte, war man fasziniert vom systemisch-kybernetischen Denken, mit dem in Thinktanks wie der RAND Corporation das Gleichgewicht des nuklearen Schreckens modelliert wurde.

In den Augen der Siedler versprach die Kybernetik, Hierarchien zu überwinden. Betrachtet man mit Wiener soziale, biologische und mechanische Prozesse unterschiedslos als Informationsflüsse, entsteht ein Bild, in dem Dinge, Tiere und Menschen auf Augenhöhe miteinander wechselwirken. Der Mensch verschwindet als das Maß aller Dinge aus dem Zentrum der Welt, er wird gleichberechtigter Teil eines größeren Ganzen.

Statt uns von der Welt zu entfremden, kann Technologie dann den Weg zu ursprünglicheren Formen von Gemeinschaft und Bewusstsein bahnen. So dachte etwa der Medientheoretiker Marshall McLuhan, dessen Bücher im Catalog ebenfalls Erwähnung fanden, die Informationstechnologie führe zu einer Retribalisierung der modernen Gesellschaft: Das lineare und hierarchische Denken des Zeitalters des gedruckten Buches werde mit Computern und modernen Medien von einem Denken in Zirkeln und Bildern abgelöst, wie es einst in Stammesgesellschaften dominierte. Vernetzte Computer könnten zu einer weltumspannenden Erweiterung unseres Nervensystems werden. Die Welt würde so zum "globalen Dorf", in dem wir alle in unmittelbarem Kontakt zueinander stehen.

Diese kybernetische Weltsicht sollte der Catalog nicht nur verbreiten, sondern auch selbst erproben. Durch das Feedback der Leser, die Produkte vorschlugen und bewerteten, wurde er seinerseits zum Exempel eines selbstregulierenden Systems. Als virtuelle Begegnungsstätte der räumlich zerstreuten Kommunen war er so ein analoger Vorbote des Internets. Steve Jobs, der den Catalog 1974 las, bezeichnet ihn darum später als "Google im Taschenbuchformat".

Virtuelle Gemeinschaft

Tatsächlich war Brands Vision schon 1968, eine Datenbank aufzubauen, mit der "jeder auf der Welt zum Telefon greifen und vollständige Informationen über alles erhalten kann". So überrascht es nicht, dass viele mit der Entstehung des Internets und der digitalen Kultur des Silicon Valley verbundene Entwicklungen aus dem Umfeld des Whole Earth Catalog stammen. Brand war sowohl 1985 an der Entstehung des Echtzeit-Onlineforums "The WELL" (Whole Earth ’Lectronic Link) als auch 1993 an der Zeitschrift "Wired" beteiligt.

Diese Verbindung von Gegenkultur und beginnendem Informationszeitalter erklärt, warum Computer in den 60er Jahren noch als Instrumente entmenschlichender Technokratie angesehen, in den 90er Jahren mit Metaphern von Intimität und Gemeinschaftlichkeit aufgeladen wurden, wie es von Brand propagierte Bezeichnungen wie "Personal Computer" oder "Online Community" zeigen: Die utopischen Hoffnungen, die sich mit dem Rückzug in die Wildnis verbanden und an dessen rauer Wirklichkeit bald zerbrachen - die meisten Kommunen bestanden nur wenige Monate -, hatten sich auf vernetzte Computer übertragen.

Die Verschränkung von Umweltbewusstsein, Technologie-enthusiasmus und ganzheitlich-romantischem Denken macht den Catalog zu einem zentralen Knotenpunkt der Geschichte unserer Gegenwart. Im Zeitalter des Klimawandels ist es heute selbstverständlich geworden, die Erde als großes Ökosystem zu betrachten, in dem Mensch und Umwelt unentwirrbar zusammenhängen. Ebenso haben wir uns daran gewöhnt, mit unseren Smartphones ausgelagerte Gehirne mit uns zu tragen. Schließlich sind uns im Plattform-Kapitalismus die Formen von Konsum bestens vertraut, die der Catalog prägte: Die bessere Welt kann man angeblich kaufen, Orientierung im schier uferlosen Angebot bietet das algorithmisch ausgewertete Verhalten anderer Nutzer.

Das Bild der ganzen Erde ist beides: Ikone von Bewegungen für Umweltschutz und globaler Gerechtigkeit, aber auch Emblem des globalisierten Kapitalismus. Immerhin prangt der Globus in der Totalen auch auf Kreditkarten, Flugzeugen oder den Lieferwagen von Logistikkonzernen.

Miguel de la Riva studiert Philosophie an der Uni Wien und absolviert gerade ein Auslandsjahr an der Pariser Sorbonne.