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Ein Haus voll Bücher

Von Monika Jonasch

Reflexionen
Ausleihe und Rückgabe sind ab 18. Mai möglich. In Büchern schmökern kann man vorerst aber weiterhin nur daheim.
© Karin Wasner/PID

Was muss eine Bibliothek rund um die digitale Zeitenwende sein? Ein Wissensspeicher, ein Ort der Begegnung zwischen Büchern und Lesern, das Gedächtnis einer Gesellschaft, ein kostenloser Zugang zu Bildung und Weiterbildung, eine gemütliche Schmökerstube. Zu Gast im Flaggschiff der Städtischen Büchereien Wien, in der Hauptbücherei.


Draußen tobt der erste Herbststurm des Jahres, drinnen herrscht eine fast schon heimelige Atmosphäre. Wer zum ersten Mal in die Hauptbücherei am Wiener Gürtel, immerhin einer der Hauptverkehrsadern der Stadt eintritt, dem fällt vor allem eines auf: die Ruhe. Hier herrscht ein geradezu anachronistischer Frieden. Schlendern, nicht hetzen, das ist die Bewegungsgeschwindigkeit, leises Murmeln, Seitenrascheln, Tastaturgeräusche und hin und wieder ein Husten, das ist alles, was zu hören ist, wenn man sich hineinbegibt, in diesen Wissenstempel.

Niederschwelliger Zugang, sei es, was die Büchereien hier bieten wollen, erklärt Christian Jahl, Leiter der Hauptbücherei. Jeder darf eintreten, Zeit verbringen, lesen, arbeiten, in die Luft schauen. Nur wer Bücher mit nach Hause nehmen will, muss einen Entlehnausweis lösen.

Jahl führt gerade eine Gruppe von Schülern im Rahmen einer Rechercheschulung zur Vorwissenschaftlichen Arbeit (VwA) durch das Haus. Die Jugendlichen sollen sich Themen überlegen, potenzielle Quellen finden, zitieren lernen. Dabei ist das Suchen nach entsprechenden Büchern im Katalog eine der Einstiegshürden.

Über 400.000 Medien

Bei über 400.000 Medien, etwas über 300.000 davon sind Bücher, der Rest elektronische Medien, DVDs, e-Books, Spiele, Zeitungen und Zeitschriften verliert man leicht den Überblick. Also brauchen die Schüler zuallererst Orientierungshilfen und Rechercheanleitungen, damit sie sich zurechtfinden.
Gebühren werden für Schüler bis 18 Jahre keine fällig, so man die Entlehnfrist nicht überzieht, erklärt der Büchereien-Chef den aufmerksamen Jugendlichen. Automaten erleichtern das schnelle und eigenständige Ausborgen, Verlängern am PC von zu Hause aus ist für die Teenager ohnehin kein Problem. Das Finden der jeweiligen Bücher in den Regalen hingegen gestaltet sich anfangs hingegen durchaus als gewöhnungsbedürftig, allein schon aufgrund der Fülle des Angebots. Aber auch da gibt es ein System sowie die hilfreichen Mitarbeiter der Bücherei, die an VwA-gestresste Jugendliche gewöhnt sind.

Auf immerhin 6000 Quadratmetern erstrecken sich die Bücherregale der Hauptbücherei – "Das ist eigentlich wenig im Vergleich zu anderen Städten, in Berlin sind es 53.000 Quadratmeter, in Amsterdam 20.000, aber wir haben mehr Zweigstellen als andere Städte, bemühen uns in der Nähe der Schulen zu sein", so Jahl.

Die Schüler verlaufen sich zwischen den in "Colleges" aufgeteilten Schwerpunkt-Abteilungen wie Literatur, Lokal-Regional-Global, Know-how oder Kunst. Zu jedem dieser Colleges gibt es eine Infotheke mit Bücherei-Mitarbeitern, die mit den Hilfesuchenden bei Bedarf sogar bis zum gesuchten Buch gehen, beraten und weitere Anregungen geben.

Von Mythologie bis Zeitgeschichte

Körper und Gesundheit, Schönheits-Operationen und Ernährung seien als VwA-Themen seit einigen Jahren schwer angesagt, weiß die Expertin in der Wissensabteilung. Fußball und andere Sportarten sind auch recht beliebt, geradezu wohltuend seien da exotischere Fragestellungen, lacht sie.
Der Arbeitsauftrag an die Schüler ist jedenfalls klar definiert, erläutert die begleitende Lehrerin: Drei relevante Medien zu einem selbst auszuwählenden Thema finden, Lang- und Kurzzitate in die vier- bis fünfseitige "Mini-VwA", eine Übung vor der großen Arbeit, einbauen.

Einige wissen schon ganz genau, was sie interessiert, andere sind noch unentschlossen. Die Plätze vor den Computern mit der Katalogsuche sind schnell ausgebucht, zwischen den Regalen streichen ein paar Ratlose herum, überlegen noch: "Rassentrennung in den USA?", "Der Kalte Krieg ist cool!" und: "Frau Professor, ich suche etwas zu Thor in der nordischen Mythologie. Kann ich auch die Sagen machen? Ich möchte das mit der Comicfigur in den Marvel-Comics vergleichen." "Pass auf, dass es nicht zu groß wird", gibt die rührige Frau Professor zu bedenken, die von einem zum anderen geht.

Wer glaubt, Büchereien seien nur für ältere Semester interessant, irrt übrigens. "52 Prozent der Leser in der Hauptbücherei sind zwischen elf und dreißig Jahre alt", weiß es Christian Jahl ganz genau. "Dass die jungen Leute heute nicht mehr lesen, stimmt also überhaupt nicht." Natürlich ist die vorwissenschaftliche Arbeit einer der Hauptgründe, der junge Menschen in die Bücherei führt. "Wir sind in Sachen VwA-Führungen in der Hauptbücherei derzeit komplett ausgebucht. Aber auch in den Zweigstellen kann man solche Führungen machen, sogar individuell", erläutert Jahl.
Die unzähligen Veranstaltungen – vom Debattierklub für Deutschlernende über die Bewerbungswerkstatt bis zu Autorenlesungen oder Kinderbuch-Vorstellungen, in der Hauptbücherei, aber auch in den 39 Wiener Zweigstellen, tun ihr Übriges, um Leser aller Altersgruppen, von Kleinkindern bis zu Pensionisten anzulocken.

Nischen zum Lesen

Bequeme Sitzgelegenheiten sowie Arbeitsplätze, teils in leicht abgetrennten Nischen, laden zum Verweilen, zum Gleich-Lesen ein. Von diesem Angebot machen offenbar auch viele Studenten Gebrauch. An den seitlichen, Bullaugen nachempfundenen, Fenstern füllen sich die Arbeitsplätze am schnellsten, Notebooks und Skripten sowie dicke Bücher stapeln sich auf den Tischen. Auch jener Bereich mit der über zwei Stockwerke reichende Verglasung und einem großartigen Blick Richtung Kahlenberg scheint beliebt und wird intensiv genutzt, selbst an einem grauen Tag wie diesem.
Am lebhaftesten geht es im Eingangsbereich zu. Die Mitarbeiter bei der Entlehnung beantworten geduldig alle Fragen zum Thema Gebühren und Ausleihfristen. – "Was, 30 Euro? Das letzte Mal hat es noch 18 Euro gekostet!", ist eine ältere Dame überrascht. "Dann waren Sie schon länger nicht mehr da", lächelt die Bücherei-Dame hinter dem Tresen.

Gleich daneben ist ein Bereich für Zeitungen und Zeitschriften. Eine Riege älterer Männer mit wettergegerbten Gesichtern sitzt dort aufgereiht, einer schläft leise schnarchend, ein zweiter hat sich eine italienische Tageszeitung auf den Schoß gelegt, würdigt sie aber keines Blickes. Ein warmer, trockener Platz an einem kalten Tag, für einige ist die Hauptbücherei vielleicht auch das. Und womöglich schauen sie doch irgendwann in die Zeitungen hinein. So niederschwellig kann der Zugang zum geschriebenen Wort sein. Daneben fotografiert eine Dame mit dem Handy eifrig Seite für Seite aus einer Zeitung, eine Besucherin mit Baby im Tragetuch lässt sich kurz aufseufzend nieder und ein älteres Paar kommt, um die Entlehnausweise zu verlängern. Ein ganz normaler Tag in einem ungewöhnlichen Haus voller Bücher.