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1969 feiert seinen 50er

Von Georg Biron

Reflexionen
Ihr Hit "Je t’aime . . . moi non plus" sorgte 1969 für wummernde Herzen und trockene Gaumen: Jane Birkin & Serge Gainsbourg.
© Hulton-Deutsch/Getty

Im Schatten von 1968 stehend, war das Folgejahr aufregend und merkwürdig zugleich - ein persönlich gehaltener Rückblick.


Der 7. Mai 1969 war ein Mittwoch. Am Vormittag zeigte sich der Himmel über Wien grau in grau, und es nieselte. Die Hausfrau Elisabeth Chlumetzky hatte ihr schönstes Kleid angezogen und war an diesem Tag sehr aufgeregt. Sie wartete in ihrer Gemeindewohnung Am Kaisermühlendamm 1-5, erste Stiege, elfter Stock, Tür 67 auf hohen Besuch.

Immer wieder schaute Frau Chlumetzky nervös aus dem Fenster, dann war es schließlich so weit. Die englische Königin, Queen Elizabeth II., betrat in Begleitung des Wiener Bürgermeisters Bruno Marek den Marshallhof und besuchte die Zwei-Zimmer-Wohnung ihrer unbekannten Namensvetterin. Nachdem die Queen das Wohnzimmer, das Schlafzimmer und den neuen Herd in der Küche inspiziert hatte, trank man gemeinsam noch ein Tässchen Tee. Elizabeth II. war offenbar ein wenig misstrauisch, denn sie hatte in einer Feldflasche ihr eigenes Teewasser mitgebracht.

"Sehr schön wohnen Sie hier", soll die Queen gesagt haben.

Warum man ausgerechnet die Wohnung von Elisabeth Chlumetzky für die Besichtigung ausgesucht hatte, ist heute nicht mehr zu eruieren. Fest steht: Das "Rote Wien" war sehr stolz auf seine Gemeindebauten, und in England konnte man von solchen modernen Sozialwohnungen nur träumen.

Elizabeth II., seit 1952 Königin von Großbritannien und Nordirland sowie fünfzehn weiterer Staaten, Oberhaupt des 52 Staaten umfassenden Commonwealth of Nations und weltliches Oberhaupt der anglikanischen Church of England, absolvierte vom 5. bis 7. Mai 1969 nach strengem Protokoll und unter Beobachtung von Tausenden Schaulustigen einen Staatsbesuch in Wien. Begleitet wurde sie von Prinz Philip und ihrer Tochter Anne.

1969 war die Geburtsstunde des Farbfernsehens in ganz Österreich, und so konnte das korallenfarbene Kleid der Königin und die prächtige Feldmarschallsuniform des Prinzgemahls in einer Live-Übertragung mitverfolgt werden. Die Royals besuchten das Parlament und Schloss Schönbrunn, die Schatzkammer und den Stephansdom, die Staatsoper, die Hofburg und die Spanische Hofreitschule, wo Prinzessin Anne auf einem Lipizzaner reiten durfte. Nach drei Tagen in Wien besuchte die königliche Familie Innsbruck, Salzburg und Graz und war am 10. Mai wieder in England.

"Und in Österreich herrschte wieder Ruhe", berichtete die APA. Zumindest in royaler Hinsicht, denn wenige Tage zuvor hat die SPÖ ein Volksbegehren zur schrittweisen Einführung der 40-Stunden-Woche gestartet, das von 889.659 Bürgerinnen und Bürgern unterzeichnet worden ist.

Die Gewerkschaften und die Wirtschaftskammer einigen sich daraufhin auf eine stufenweise Senkung der Wochenarbeitszeit. Oppositionsführer Bruno Kreisky treibt sein Reformprogramm "Für ein modernes Österreich - eine Kampagne der 1400 Experten" voran und legt die Grundlinien der Wirtschafts-, Sozial-, Rechts- und Bildungspolitik fest, die ihm schließlich die Kanzlerschaft einbringen.

Manche Jahre sind spannender als andere. Oder zumindest merkwürdiger. 1969 ist so ein Jahr. Aufregend und merkwürdig zugleich. Es steht zwar im Schatten von 1968, das ein Mythos der globalen Hippie-Bewegung geworden ist. Doch 1969 war ein Jahr, das viele nachhaltige Veränderungen gebracht hat.

So entwickelte der US-Thinktank "Intel" für die japanische Firma "Busicom" den ersten Mikrochip (Intel 4004), was die Welt weitaus mehr revolutionierte als der 9. Parteitag unter dem Vorsitz von Mao Zedong im April 1969, bei dem die "Große Proletarische Kulturrevolution" für beendet erklärt wurde. Auch die Vernetzung des militärischen "Arpanet" mit Großrechnern in Forschungseinrichtungen und Universitäten begann 1969 und wird heute als der Beginn des Internets gesehen.

Manche Ereignisse von damals haben in der Folge auch Einflüsse auf den Verlauf meines Lebens genommen. An ein paar Geschehnisse beziehungsweise an die Bilder davon erinnere ich mich auch heute noch sehr gut, weil ich als Elfjähriger mit meinen Eltern hin und wieder untertags ins Ohne-Pause-Kino auf dem Wiener Graben Nr. 29 oder ins Nonstop-Kino auf der Mariahilferstraße Nr. 2 gegangen bin. Das sind Kinos ohne fixe Beginnzeiten gewesen, in denen von in der Früh bis zum Abend ein rund einstündiges Programm ohne Altersbeschränkungen und Unterbrechungen gezeigt worden ist. Man hat so lange zugeschaut, bis die Bilder wiedergekommen sind, die man beim Betreten des Kinosaals auf der Leinwand gesehen hat. Und dort habe ich nicht nur Tierdokumentationen und Zeichentrickfilme mit Donald Duck oder Tom und Jerry gesehen, sondern auch die aktuellen Schwarz-Weiß-Berichte der "Austria Wochenschau".

Danke, Jane Birkin!

1969 beträgt die Gesamtzahl der Weltbevölkerung 3,62 Milliarden Menschen (1,82 Mrd. Männer und 1,80 Mrd. Frauen). In Hollywood werden die begehrten Oscars vergeben - an den Film "Oliver" und seinen Regisseur Carol Reed, an Cliff Robertson für seine Darstellung in "Charly" und an Katharine Hepburn für ihr Spiel in "Der Löwe im Winter". Über einen Oscar für das beste Drehbuch kann sich Mel Brooks ("Frühling für Hitler") freuen.

Jane Birkin und Serge Gainsbourg stöhnen sich mit dem Lied "Je t’aime . . . moi non plus" für acht Wochen auf Platz eins der Schweizer Hitparade und sind auch vier Wochen lang die Nummer eins in Österreich, aber nur Platz drei in Deutschland. In England wird die erotisch aufgeheizte Single zunächst skandalisiert und von den Radiostationen boykottiert, erreicht aber trotzdem die Spitze der UK-Charts. In Italien protestiert der Vatikan gegen das Lied, in der Folge wurden der Produzent der italienischen Plattenfirma "Paradise" verhaftet und der Vertriebsleiter exkommuniziert. Doch der Erfolg des melodiösen Orgasmus-Hörspiels ist nicht zu stoppen. "Je t’aime . . . moi non plus" wurde weltweit mehr als zwei Millionen Mal verkauft und zu einem Kultsong.

1969 gab es eine Telefonnummer, die man anrufen konnte: "Die Platte des Tages". Dort war "Je t’aime . . . moi non plus" zu hören, und meine Gymnasiasten-Kollegen und ich, wir drängten uns zu dritt oder sogar zu viert in die öffentliche Telefonzelle am Urban-Loritz-Platz neben der Schule, steckten 1-Schilling-Münzen in den Schlitz, ohne zu ermüden, drückten unsere Ohren an den schmierigen schwarzen Hörer und belauschten mit wummerndem Herzen und trockenem Gaumen Jane Birkin und Serge Gainsbourg beim Liebesspiel.

Dafür danke ich dir, liebe Jane Birkin, auch noch nach so vielen Jahren. Du hast für uns die Drehtür zum Reich der Sexualität geöffnet und uns damit ganz schön schwindelig gemacht.

Ein Höhepunkt ganz anderer Art gelingt am Abend des 20. Juli 1969: Damals betritt Neil Armstrong als erster Mensch den Mond und sagt: "Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein gewaltiger Sprung für die Menschheit!" - Über diesen berühmten Ausspruch gibt Armstrong 2011 zu Protokoll: "Ich dachte darüber nach der Landung nach. Und weil wir viele andere Dinge zu tun hatten, war es nichts, worauf ich mich besonders konzentrierte, sondern etwas, das im Unterbewusstsein herumschwirrte. Aber es war im Grunde eine ziemlich einfache Aussage. Es war nicht sonderlich komplex. Es war, was es war."

Edwin "Buzz" Aldrin folgt ihm wenige Minuten später, während Michael Collins in der Kommandokapsel von Apollo 11 bleibt und den Mond umkreist.

Die Fernsehübertragung der Mondlandung ist ein Medienereignis, das von 600 Millionen Menschen verfolgt wird. Der ORF berichtet in einer 28 Stunden und 28 Minuten dauernden Live-Sendung über die Mission von Apollo 11. Kommentiert wird die Sendung von Peter Nidetzky, Herbert Pichler, Othmar Urban und Hugo Portisch.

Seit 1969 arbeitet das Institut für Nachrichtentechnik und Wellenausbreitung der Technischen Universität Graz an Entwicklung und Bau von Instrumenten für die Erforschung des Weltalls und zur Satellitenkommunikation. Schon früh hat sich Österreich entschlossen, in Weltraumangelegenheiten aktiv zu sein. Diese Entscheidung hat die Entwicklung der Österreichischen Raumfahrttechnologie, Raumfahrtindustrie und Weltraumforschung gefördert. Auf diese Weise werden Arbeitsplätze geschaffen, und Österreich wird ein seriöser Partner in der Raumfahrt und arbeitet in internationalen Kooperationen.

Nach ihrer geglückten Rückkehr zur Erde schickt Wiens Bürgermeister Bruno Marek mit einhelliger Zustimmung des Stadtsenates an die drei Astronauten wie auch an den Botschafter der Vereinigten Staaten in Wien Glückwunschtelegramme. Das Telegramm an die drei Astronauten lautet: "Die ganze Welt und auch die Bewohner der traditionsreichen österreichischen Bundeshauptstadt Wien sind fasziniert von Ihrer einmaligen Leistung. Ihr Flug zum Mond hat das Tor zu einem neuen Zeitalter in der Entwicklung der Menschheit aufgeschlossen. Die Stadt Wien, Hauptstadt des neutralen Österreichs, würde sich glücklich schätzen, die Wegbereiter dieses neuen Zeitalters in ihren Mauern begrüßen zu können."

Und an den Botschafter der Vereinigten Staaten erging folgendes Telegramm: "Die österreichische Bundeshauptstadt und ihre Bevölkerung haben mit Spannung, Anteilnahme und Bewunderung das großartige Ereignis des geglückten Mondfluges verfolgt. Im Namen aller Wiener gestatte ich mir, zu dieser säkularen Leistung zu gratulieren"

Noch im selben Jahr, am 14. November, macht sich Apollo 12 auf den Weg. Charles "Pete" Conrad und Alan Bean betreten am 19. November den Mond, während Richard Gordon den Trabanten umkreist. Am selben Tag findet im Theater an der Wien die Premiere des von Gerhard Bronner "eingewienerten" Musicals "My Fair Lady" statt. Die neueste Musical-Produktion gestaltet sich zu einem großen Erfolg für Gabriele Jacoby, Josef Meinrad, Egon Jordan und vor allem für Hugo Gottschlich, der in der Rolle des "Vater Dolittle" sein Musical-Debüt gab.

U-Bahnbaubeginn

1969 ist auch das Jahr, in dem Richard Nixon amerikanischer Präsident wird, im Fernsehen läuft die "Sesamstraße", in Großbritannien feiert "Monty Python" Erfolge, die britische Armee marschiert in Nordirland ein. Oberst Muamar al Gaddafi kommt in Lybien nach einem unblutigen Putsch gegen die Monarchie an die Macht.

Fußballstar Pelé schießt sein 1000. Tor, der Martin-Luther- King-Mordprozess schürt Zweifel an der Schuld des Angeklagten, Presseberichte über das Massaker von My Lai schockieren die Öffentlichkeit und befeuern die Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg, in Wien beginnt der Bau der U-Bahn, der tschechische Student Jan Palach verbrennt sich in Prag selbst, um gegen die Besatzung durch die Warschauer-Pakt-Staaten zu protestieren, die Radikalisierung der späteren RAF-Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof wird regis-triert, im ZDF startet die "Peter Alexander Show", und das internationale Netzwerk "Mufon" zur Erforschung von UFO-Sichtungen wird gegründet.

Deutschland wählt Willy Brandt zum Kanzler, und Charles Manson, der die musizierenden Beach Boys verehrt, lässt von Gefolgsleuten in Hollywood unter Berufung auf die Beatles mehrere Prominente ermorden.

Pop-Fest der Liebe

Sechs Tage später findet "Woodstock" statt (von 15. bis 18. August), das Fest des Friedens und der Liebe. "Das Pop-Versprechen, alles schöner aussehen und klingen zu lassen und am Ende besser, hatte sich erledigt", schreibt der Feuilletonist Michael Pilz in der deutschen Tageszeitung "Die Welt". "Woodstock galt als letzte paradiesische Zusammenkunft im Pop. Die Vertreibung aus dem Paradies folgte im Spätherbst. Bei einem Konzert der Rolling Stones in Kalifornien wurde direkt vor der Bühne der schwarze Jugendliche Meredith Hunter erstochen, von einem Mitglied der Hell’s Angels, die als Ordner auftraten. Die Stones setzten das Konzert fort. Es war das Ende aller Unschuld, nicht der Träume. So wird die Geschichte seit jeher erzählt."

"Der Tod, das muss a Wiener sein", singt Georg Kreisler im Jahr 1969. Zu diesem Zeitpunkt ruhen am Wiener Zentralfriedhof bereits mehr als drei Millionen Tote - die lebende Bevölkerung ist nur etwa halb so groß. Platzpro-bleme sind also über kurz oder lang zu erwarten. Udo Proksch gilt damals bereits als Enfant terrible der österreichischen Gesellschaft. Zu seinen ausgefallenen Ideen gehörte der 1969 gegründete "Club der senkrecht Begrabenen", der Tote in Plastikröhren einschweißen und senkrecht in die Erde stellen will. Gründungsmitglieder sind Prokschs erste Ehefrau Erika Pluhar und Helmut Qualtinger, dem 1969 der Goldene Rathausmann verliehen wird.

Realität und Satire sind bereits damals nicht immer unterscheidbar: In Wien ist beschlossen worden, den Verpflegungssatz für die fünf Wachhunde der Magistratsabteilung 30 (Kanalisation) zu erhöhen. Diese fünf Wachhunde bewachen die Hochwasserpumpwerke und Kläranlagen. Die vierbeinigen kommunalen Wachorgane könnten mit Recht darauf hinweisen, dass eine Anhebung ihrer "Bezüge" längst fällig ist: Sie stehen auf einem Verpflegungskostensatz von fünf Schilling pro Hund und Tag, während etwa die Polizeihunde mit zwölf Schilling pro Tag vergleichsweise luxuriös leben. Die fünf Kanalisations-Vierbeiner können von nun an insgesamt einen Jahresbetrag von 21.900 Schilling verschlingen - im wahrsten Sinn des Wortes . . .

Die schneereichsten Winter in Westösterreich sind 1966/1967 und 1969/1970 gewesen. Im Bregenzer Wald werden insgesamt an die 17 Meter Neuschnee gemessen. In Ostösterreich bringt der Winter 1969/1970 ebenfalls Rekord-Schneemengen: In Wien-Mariabrunn misst man 288 cm Neuschnee.

Der guten Ordnung halber sei hier noch vermerkt: Südamerikanische Atmosphäre herrscht im Wiener Rathaus, als die Botschafterin der Bananenanbauländer, Ximena Iragorri aus Kolumbien, dem Wiener Bürgermeister einen Sombrero voller Bananen überreicht. Es ist das Symbol für 1000 Kilogramm Bananen, die "Chiquita" für Wiener Alters- und Kinderheime spendet.

Das Statistische Amt der Stadt Wien weist in seinem 1969er-Bericht für November 864 Eheschließungen, 1436 Geburten und 2284 Sterbefälle aus. Nach dem Bericht der Polizeidirektion sind im November 12.624 Personen nach Wien zugewandert. 10.109 haben sich abgemeldet. Und das Silvester-Programm des Österreichischen Fernsehens hat seinen Auftakt im Wiener Rathaus. Um 18.15 Uhr präsentiert Heinz Conrads eine einstündige Sendung unter dem Motto "Hereinspaziert ins Neue Jahr". Gabriele Jacoby, Otto Schenk, Fritz Muliar, Eberhard Wächter wirken u.a. mit.

Den 1969 herrschenden Zeitgeist drückt für mich am besten Hippie-Ikone Janis Joplin aus: "Mein Job ist es, zu genießen und Spaß zu haben. Und warum auch nicht, wenn am Ende sowieso alles endet, oder? Ich lebe lieber zehn überglückliche, ausgelassene Jahre als schließlich 70 zu werden, um in einem verdammten Sessel dem Fernsehen zuzuschauen . . ."

Georg Biron, geboren 1958 in Wien, ist Schriftsteller, Reporter, Regisseur und Schauspieler.