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Die weiße Kuppel von Prijedor

Von Christopher Erben

Reflexionen
© Alex Bodmann

Eine junge Künstlerin erinnert mit einem ungewöhnlichen Denkmal an ein heute vielfach vergessenes Massaker in Bosnien.


Ein kleines Atelier in Wien-Fünfhaus. Anita Zečić führt den Besucher in die Mitte des Raumes, vorbei an Bilderrahmen und Postern. Eine Staffelei steht auf dem Boden. Alte, hohe Fenster erhellen den Raum. Aus einer Sporttasche nimmt Anita Zečić einen zusammengefalteten Stoff, den sie auf dem Boden des Ateliers ausbreitet. Schritt für Schritt setzt sie die verschiedenen Seiten des Stoffes wie ein Puzzle zusammen, bis daraus eine große Kuppel entsteht.

Anita Zečić kommt aus Prijedor, einer heute knapp 80.000 Einwohner zählenden Stadt in Bosnien-Herzegowina. Seit 2005 lebt die 31-Jährige in Wien. Hier absolvierte sie die Wiener Kunstschule und studiert seit einigen Jahren an der Universität für angewandte Kunst Kunstpädagogik. Anita Zečić war noch ein Kind, als in Bosnien der Krieg begann und sie fluchtartig ihre Heimatstadt verlassen musste. So wie sie flohen Tausende Bosnier vor dem blutigen Bürgerkrieg in ihrer Heimat - etwa nach Österreich oder Deutschland. Anita Zečić verschlug es zunächst nach Deutschland und dann weiter nach Österreich.

Krieg der Worte

Prijedor war vor dem Krieg multiethnisch. Kroaten, Bosniaken und Serben lebten hier friedlich zusammen. Seit Jahren kehren viele der Vertriebenen wieder nach Prijedor zurück. Es seien sogar mehr Rückkehrer als in anderen Städten des Landes, hört man. Doch die drei Volksgruppen finden hier sowie auch in anderen Landesteilen seit Ende des Krieges nicht mehr zusammen. Heute leben sie mehr neben- als miteinander. Anita Zečić führt das auf die von bosnischen Politikern geschürten Nationalismen zurück.

Diese verhindern eine Annäherung. "Die Angst vor der Bedrohung durch die jeweils andere Volksgruppe bestimmt die Politik bis in die Gegenwart", bestätigt
Vedran Dzihic. Er ist Wissenschafter am Institut für Internationale Politik in Wien und setzt sich mit den politischen Entwicklungen am Westbalkan auseinander. Der Krieg in Bosnien werde bis heute mit rhetorischen Mitteln fortgesetzt, stellt er fest. Eine gemeinsame Aufarbeitung der Geschichte und des Krieges existiere zudem kaum. Jede Volksgruppe erzähle ihre eigene Version und Wahrheit.

Schicksalstag für die Bewohner von Prijedor war der 31. Mai 1992. Die von den Serben übernommene Verwaltung ordnete an, dass nicht-serbische Frauen, Männer, Kinder sowie Ältere weiße Schleifen an ihren Oberarmen tragen mussten; manche hängten auch weiße Tücher aus ihren Wohnungen oder Häusern. Viele verloren ihre Arbeit, wurden schikaniert. Bald mussten sie auch ihre Häuser und Wohnungen verlassen. Bis 1993 war Prijedor "ethnisch gesäubert", erklärt Dzihic.

Über 27.000 Zivilisten wurden in die Lager Omarska, Keraterm und Trnopolje gebracht und dort interniert. 3176 von ihnen fanden entweder auf dem Weg dorthin oder in diesen Lagern den Tod. "Die ethnischen Säuberungen in Prijedor wurden systematisch geplant", ist Vedran Dzihic überzeugt. Auch die Dörfer der Umgebung wurden ausgelöscht; die Bevölkerung in Massengräbern verscharrt. Das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag stuft die Verbrechen bis heute nicht als Völkermord ein, da die Beweislage den Richtern nicht ausreicht. Die Mehrheit der Bosniaken sei aber nach wie vor der Meinung, dass hier ein Völkermord oder Genozid geschah, so Dzihic.

Anita Zečić, ihre Schwester und ihre Mutter entkamen nur knapp der Deportation in ein Lager. Sie konnten mit dem letzten Bus, der die Stadt verließ, nach Belgrad fahren. Ihr Onkel gilt aber seit dem Sommer 1992 als vermisst. Anita schlägt ein dickes Buch mit allen Toten und Vermissten von Prijedor auf. Auf einer Seite zeigt sie auf ein Bild. "Da ist er", sagt sie mit trauriger Stimme. "Wahrscheinlich liegt er bis heute irgendwo in einem Massengrab."

Für den österreichischen Schriftsteller Martin Pollack verbergen Massengräber die Opfer. Ohne sie könne kein Verbrechen nachgewiesen und auch keine Anklage erhoben werden. Über Massengräber wachse Gras, schreibt er in seinem 2014 erschienenen Buch "Kontaminierte Landschaften". In Tomašica bestand eines der größten Massengräber seit dem Zweiten Weltkrieg. Erst 2017 wurde es geöffnet und die sterblichen Überreste von über 400 Bosniaken und bosnischen Kroaten exhumiert, erklärt Valentin Inzko, seit 2009 Hoher Repräsentant von Bosnien-Herzegowina.

Über zwanzig Jahre nach Ende des Krieges gelten viele Menschen immer noch als vermisst. Ihre Familien geben aber die Hoffnung nicht auf, die Wahrheit darüber herauszufinden, was mit ihren Angehörigen passiert ist, sagt der Diplomat. "Für die Überlebenden sind die Geschehnisse nicht vergessen, sie tragen die Narben des Krieges weiterhin jeden Tag mit sich." Die Ereignisse in Prijedor scheinen im Gegensatz zu Srebrenica und Goražde heute nicht nur vergessen; sie werden auch von der Weltgemeinschaft nicht anerkannt, bedauert Zečić. Würde sie das tun, müsste sie zugeben, dass sie nichts dagegen unternommen hatte. Erst die Einnahme von Srebrenica und die Angriffe auf Sarajevo sorgten für ein Umdenken, so die Künstlerin.

Narben verheilen nicht

Im Jahr 1995 beendete schließlich der Friedensvertrag von Dayton den über drei Jahre dauernden Bürgerkrieg zwischen den drei Volksgruppen. Dieser teilte das Land in zwei annähernd gleich große Entitäten: in die bosnisch-kroatische Föderation, in der heute überwiegend Kroaten und Bosniaken leben, und in die Republika Srpska, in der heute überwiegend bosnische Serben leben und in dem Prijedor heute liegt.

Vor über zehn Jahren wurde Zečić von den schrecklichen Erlebnissen ihrer Kindheit wieder eingeholt: Sie begann sich damit auseinanderzusetzen; gestaltete in einem Atelier in Wien zuerst ein bosnisches Minenfeld nach. Auch erzählte sie Mitstudierenden über den Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina und die Tausenden Toten. Das kann alles nicht wahr sein, bekam sie öfters zu hören. Prijedor war niemandem ein Begriff. Das musste sich ändern.

Als Künstlerin wählte Zečić einen nicht ungewöhnlichen Weg: sie wollte den Toten und Vermissten ein Denkmal setzen - und zwar nicht an Ort und Stelle, sondern dort, wo Anita Zečić es wollte. Im November 2015 verbrachte sie mit Freundinnen einige Tage in Rom. Sie besichtigten hier auch den Petersdoms. In der Kuppel bekam die Künstlerin es plötzlich mit der Angst zu tun. Hunderte Menschen, schlechte Luft und eine bedrückende Enge - sie empfand nach, wie sich Menschen gefühlt haben mussten, die eingepfercht in einem Lager festgehalten wurden. "Hier oben kam mir in den Sinn, wie meine Erinnerung an die Ermordeten von Prijedor aussehen wird."

Zurück in Wien und viele Monate später: Anita Zečić entwarf zunächst eine Skizze, reichte diese dann an der Universität als Di-
plomarbeitsthema ein. Nach deren Zusage nähte sie los. Vier Monate lang arbeitete sie an dem Kunstwerk (ihrer Diplomarbeit), das sie später Prijedor 92 nennen würde. 846 Dreiecke verband sie mit 846 Knoten und 423 Schnüren, 48 Schnittmuster, die Länge des Garns - all das ergab in Summe die Zahl 3176. Diese Zahl steht für die zivilen Opfer, die in Prijedor und in den Dörfern der Umgebung von serbischen Paramilitärs unschuldig ermordet wurden. Als Stoff verwendete sie weißes Segeltuch. Im November 2016 nähte sie die Kuppel fertig. Nach dem Aufbau ist sie drei Meter hoch und sechs Meter breit.

Bei der Präsentation ihres "wandernden Denkmals" am 27. April 2016 in Sarajevo kam kein einziger Politiker, obwohl sie viele einlud, bedauert die Künstlerin. "Nicht einmal der Hohe Repräsentant Valentin Inzko ließ sich blicken." Dafür die früheren Generäle - darunter auch Jovan Divjak, ein bosnischer Serbe, der im Krieg auf der Seite der bosnischen Regierung gegen die bosnischen Serben kämpfte. Diesen Tag wählte Zečić nicht zufällig, da Anfang Mai 1992 die Paramilitärs der bosnischen Serben die Kontrolle über Prijedor übernahmen.

Die Künstlerin erinnerte nicht nur in Sarajevo mit ihrem mobilen Denkmal an das Geschehen. Auch in vierzehn europäischen Städten und vor dem Gerichtsgebäude in Den Haag baute sie es auf. "Bei der letzten Aktion im vergangenen Mai in Belgrad brauchte ich nur mehr eine Stunde." Über 45 Polizisten beobachteten sie dabei skeptisch, während sie es zwischen Regierungssitz und Präsidentenpalast in die Höhe zog. Proteste gegen das Denkmal gab es dort keine, wundert sie sich bis heute. Eingeladen wurde sie vom serbischen Verein "Humanitäre Rechte". Dieser übernahm die Kosten für den Transport des Denkmals von Wien nach Belgrad.

Vorgelesene Namen

Was möchte die Künstlerin mit ihrem Denkmal erreichen? "Ich möchte Menschen wachrütteln und sie zum Nachdenken bringen." Sie sollen sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen und gegenseitige Vorurteile abbauen, wünscht sie sich. Leider tun das immer noch zu wenige - gerade in Bosnien-Herzegowina.

Sie möchte damit nicht nur an die kulturelle Vielfalt von Prijedor erinnern; sie will damit auch zeigen, dass Synagogen, orthodoxe wie katholische Kirchen oder Moscheen oft über eine Kuppel am Dach verfügen. "Dieses Merkmal verbindet alle Religionen", ist sie überzeugt.

Wie erleben Besucher das Kunstwerk? Sie können hineingehen und sehen darin die Bilder von einigen der Menschen, die in Prijedor ermordet wurden. Ihre Namen werden darin vorgelesen.

Bis heute weigert sich die Stadtverwaltung von Prijedor, ein zentrales Denkmal wie in Sara-
jevo zu errichten, das an die Vertreibungen und Ermordungen erinnert, schüttelt die Künstlerin den Kopf. Mladen Filipovic, Leiter der Vertretung der Republika Srpska in Österreich, weist das zurück: "Unserer Kenntnis nach boten Vertreter der Stadt Prijedor den Opfern, vor allem für die Kinder unter den Opfern, mehrere Standorte für eine Gedenkstätte an, aber die Vertreter der bosniakischen Vereine waren mit keinem dieser Orte einverstanden." Das sei aber nicht das Gleiche, betont Anita Zečić.

Die Künstlerin schaltet den Kompressor wieder aus; die Kuppel bricht in sich zusammen. Danach faltet sie den Stoff und verstaut ihn in der Tasche. "Mein Denkmal kann ich fast an jedem Ort innerhalb kürzester Zeit aufbauen", freut sie sich. "Prijedor 92 ist in der Kunst einzigartig."

Nein, vergessen darf man das Geschehene in Prijedor nicht, findet Anita Zečić. Und gegen das Vergessen kämpft sie seit Jahren an - an verschiedenen Orten, auf verschiedenen Plätzen. Im kommenden Jahr geht sie mit ihrem Denkmal in die USA auf Tournee. Zečić möchte auch hier die Besucher wachrütteln und ihnen die Grausamkeit des Bosnienkriegs näherbringen. "Das bin ich meinem Land, meinem Onkel und den vielen Toten aus meiner Stadt schuldig."