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Reichenbachs Spiritismus und Forschergeist

Von Christian Hlavac

Reflexionen

Zum 150. Todestag des Unternehmers und Naturforschers Karl Ludwig Freiherr von Reichenbach.


Karl Ludwig Freiherr von Reichenbach (1788-1869). Lithographie von Josef Kriehuber.
© Archiv

Stuttgart, Blansko, Wien und Leipzig. Alle genannten Städte haben eines gemeinsam: Sie waren Lebens- und Arbeitsorte eines - im doppelten Sinne des Wortes - merkwürdigen Mannes, der in Stuttgart geboren wurde und fast 81-jährig am 19. Jänner 1869 in Leipzig starb.

Reichenbach wird im Nachruf in der Tageszeitung "Die Presse" - idealtypisch für eine zeitgenössische Beschreibung seiner Person - wie folgt charakterisiert: "Als Chemiker hat sich Freiherr v. Reichenbach unstreitig nicht unbedeutende Verdienste erworben, und wollen wir ihm mit Rücksicht auf diese Verdienste verzeihen, daß er dem spiritistischen Humbug so kräftig Vorschub geleistet. Der Verstorbene besaß einst ein großes Vermögen - das reizende Kobenzel bei Grinzing gehörte ihm - allein seine odischen und magnetischen Versuche, sowie seine landwirtschaftlichen Experimente (Reichenbach war ein ziemlich erfahrener Landwirth) machten dasselbe dahinschmelzen."

Worauf bezog sich der Autor, wenn er vom "spiritistischen Humbug" Reichenbachs sprach? Es war der Umstand, dass sich dieser über viele Jahre mit der Lebenskraft "Od" beschäftigte. Reichenbachs zweibändiges, 1600 Seiten umfassendes Hauptwerk "Der sensitive Mensch und sein Verhalten zum Od" erschien 1854/1855 als Fortsetzung seiner "Odisch-magnetischen Briefe".

Stark vereinfacht ausgedrückt, ging es bei seiner "Lebenskraft Od" um Leuchterscheinungen, die mittels der seit 1937 möglichen Kirlianfotografie für jeden sichtbar gemacht werden können. Die Leuchterscheinungen gehen von einer Elektrode, wie zum Beispiel einem Finger, aus. Es handelt sich dabei um selbstleuchtende Entladungskanäle infolge einer Gasentladung.

Od & Seidenraupen

Damals waren viele physikalische Phänomene nicht näher erforscht und unerklärlich. Daher verwundert es nicht, dass Reichenbach zu Lebzeiten auf einiges Unverständnis stieß und er seit den 1930er Jahren - bis heute - als "Zauberer vom Cobenzl" bezeichnet wird. Diese Zuschreibung bezieht sich auf seine Experimente im Laboratorium des Schlosses Cobenzl, welches er ab 1835 besaß. Unabhängig von dieser vermeintlich "dunklen Seite" war Reichenbach ein vielseitiger Forscher und Praktiker.

Seide war und ist immer noch ein edler und teurer Stoff. Zur Herstellung braucht man Seidenfäden. Diese werden von den Raupen des Seidenspinner-Schmetterlings abgesondert. Mit dem Faden baut sich die Raupe ein Seidengespinst, welches der Mensch schon seit Jahrhunderten - vor allem in China - zur Erzeugung von Seidengarn und Seidengewebe nutzt. Die Blätter des weißen Maulbeerbaumes dienen der Seidenraupe als Nahrung.

Zur Zeit des Merkantilismus versuchten die Herrscher von teuren Importen unabhängig zu werden. So kam es, dass ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Österreich und in großen Teilen Mitteleuropas ein Wirtschaftszweig, der heute fast vollständig verschwunden ist, eine bedeutende Rolle spielte: die Seidengewinnungs- und Seidenverarbeitungsindustrie. Alleine im Raum Wien waren in den 1810er Jahren über 10.000 Menschen in diesem Wirtschaftszweig beschäftigt. Die Seidengasse in Wien-Neubau erinnert noch heute daran.

Weißer Maulbeerbaum (Morus alba). Aus: "Flora de Filipinas".
© Hlavac

Die Nationalisierung der Seidengewinnung ist auch in anderen Ländern nachzuweisen. So intensivierte etwa der preußische König Friedrich Wilhelm II. (1744-1797) die Kultivierung von weißen Maulbeerbäumen im Raum Berlin-Potsdam. Alleine in Preußen gab es damals rund drei Millionen Maulbeerbäume. Auch der österreichische Kaiser Franz I. (1768-1835) zeigte starkes Interesse am Anbau dieser Baumart.

Reich der Seide

Der Gutsbesitzer und Seidenraupenzüchter Franz von Heintl berichtet über das mehrfach nachzuweisende kaiserliche Engagement. In der Einleitung seines 1829 erschienenen Buches "Unterricht im Seidenbaue", die einer Huldigung des Kaisers gleichkommt, heißt es: "Seitdem durch die Weisheit unsers allergnädigsten Kaisers und Herrn, Franz I. die italienischen Erbstaaten in den österreichischen Staatenverein aufgenommen wurden, ist der österreichische Kaiserstaat das Reich der Seide, (wie man einst China nannte) geworden."

Für den österreichischen Raum spielte Karl Ludwig Reichenbach eine zentrale Rolle: Er versuchte ab 1835 in den Herrschaften Blansko (Mähren), Nisko (Galizien), Reidling und Gutenbrunn (beide Niederösterreich) sowie am Himmel (Sievering) und am Reisenberg (Grinzing) die Seidenraupenzucht im großen Maßstab einzuführen. Seine "Maulbeerbaumschule" am Reisenberg, für die er Bäume aus Deutschland und Ita-lien bezog, umfasste 1838 etwas über 200.000, größtenteils junge Bäume. Er hatte rund sechs Hek-tar seines Besitzes - auch in Form einer Allee nach Sievering - mit Maulbeerbäumen bepflanzen lassen. Sein Zuchtprojekt scheiterte jedoch am Ausbruch einer Seidenraupenkrankheit, die Mitte des 19. Jahrhunderts innerhalb relativ kurzer Zeit das Interesse am Erhalt der Maulbeerbäume in ganz Europa dramatisch reduzierte. Sie ist mitverantwortlich für die heutige Bedeutungslosigkeit der Seidengewinnung und der Maulbeerbaumkultur in Österreich.

Spuren in Wien

In Wien haben sich zwei sichtbare Spuren von Reichenbach erhalten: Einerseits existiert in Favoriten seit 1911 die nach ihm benannte Reichenbachgasse. Andererseits steht in der Josefstadt der Isisbrunnen, der im Mai 1834 als monumentaler gusseiserner Auslaufbrunnen am Albertplatz aufgestellt wurde. Nicht nur das Becken, sondern auch die namensgebende Statue der ägyptischen Göttin Isis aus Gusseisen stammt aus der Salm’schen Gießerei in Blansko, welche zu dieser Zeit von Karl Ludwig Reichenbach geleitet wurde und Hugo Franz Altgraf zu Salm-Reifferscheidt-Raitz gehörte.

Reichenbach hatte die Funktion als Direktor der Eisenhüttenwerke in Blansko seit 1825 über; im Jahre 1831 übernahm er die Oberleitung des gesamten Herrschaftsbesitzes Blansko inklusive des landwirtschaftlichen Gutes. Obwohl Reichenbach von der Ausbildung her kein Techniker war, verstand er es auch hier, Neuerungen einzuführen. Nachdem er bereits 1818 einen von ihm konstruierten, neuartigen Holzverkohlungsofen im Schwarzwald errichtet hatte, baute man auch in Blansko diese neuen Öfen.

In diesem Zusammenhang gelang ihm als Erstem die Gewinnung von Paraffin, das unter anderem als Kerzenwachs und als Schmier- und Putzmittel diente, und des Kreosots, das vor allem zur Räucherung von Fleisch und als Antiseptikum verwendet wurde; beides sind Abfallprodukte bei der Holzverkohlung. Reichenbach gilt daher zu Recht als einer der Pioniere der organischen Chemie. Nebenbei sammelte und beforschte er Meteoriten.

Streitbarer Mensch

Nach dem Tod des Altgrafen Salm im Jahre 1836 zog sich Reichenbach - auch aufgrund von Rechtsstreitigkeiten mit dessen Sohn - aus Blansko zurück, wobei der Prozess um offene Forderungen auf Seiten Reichenbachs erst 1846 beendet werden konnte. Im Jahre 1839 - seine Frau war bereits seit vier Jahren tot - übersiedelte er mit seinen Kindern ganz nach Wien, wobei er im Winter in seiner Stadtwohnung in der Bäckerstraße und in der restlichen Zeit des Jahres im Schloss am Reisenberg (Cobenzl) lebte.

Dass er keinem Streit aus dem Weg ging und für seine teils polemischen Schriften berühmt war, wird unter anderem durch seine 1855 herausgegebene Publikation "Köhlerglaube und Afterweisheit" deutlich, welche gegen den Naturwissenschafter Carl Vogt und dessen Werk "Köhlerglaube und Wissenschaft" gerichtet war.

Auch die Gerichte beschäftigte Reichenbach nachweislich mehrmals. Am bekanntesten wurde der ab Mai 1866 laufende Ehrenbeleidigungsprozess des ehemaligen Direktors der Creditanstalt gegen den säumigen und exekutierten Kreditschuldner Reichenbach. Der Prozess musste wegen Nichterscheinens des Angeklagten mehrmals vertagt werden und wurde schließlich in Abwesenheit von Reichenbach beendet. Man sprach Reichenbach schuldig.

Turbulent endete auch der jahrzehntelange Aufenthalt Reichenbachs in Wien, als er 1867 nach Leipzig übersiedelte. Teile seines Eigentums hatte er bereits vor seinem Weggang an seinen Sohn Reinhold überschrieben. Aufgrund der Schulden Karl Ludwigs wurde 1868 dessen gepfändetes Mobiliar feilgeboten. Den Schlusspunkt setzte das Wiener Landesgericht im Dezember 1870 mit der Eröffnung des Konkursverfahrens über das gesamte bewegliche und unbewegliche Vermögen des am 19. Jänner 1869 verstorbenen Karl Ludwig von Reichenbach. Von seinem einst großen Vermögen war nichts übrig geblieben.

Christian Hlavac ist Gartenhistoriker und Publizist. Soeben erschien sein Beitrag "Gärtnerdynastie Zinner" im aktuellen Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts.