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Weltmuseen: Die Aneignung der Welt in Dingen

Von Ingrid Thurner

Reflexionen

Zur Geschichte musealer Wenden von der Renaissance über Kolonialsimus bis zu Fragen von Restitution.


Während für immer mehr Menschen der afrikanische Kontinent unbewohnbar wird und Geflüchtete zu Tausenden im Mittelmeer sterben, horten europäische Staaten afrikanische Kunstschätze in den Museen und pflegen mit ihnen ihren Ruf als Kulturnation.

Die international geführten Debatten um Herkunft und Verbleib von Museumsobjekten aus Übersee, für deren Erwerb so mancher Sammler vor kriminellen Machenschaften nicht zurückschreckte, lassen sich nicht länger ignorieren. In diesem politischen Klima werden vielerorts in Europa die einstigen Völkerkundemuseen umorganisiert, umbenannt und mit viel Trara und professioneller Öffentlichkeitsarbeit neu positioniert. Dabei greifen sie in Ästhetik und Ausstellungskonzepten auf uralte museologische Vorbilder zurück.

Kuriositätenkabinette

Vor dem Hintergrund gegenwärtiger nationalistischer Strömungen, die die Übel einer globalisierten Welt auf Migranten und Geflüchteten abladen wollen, entbehren die Fragen rund um Restitution und geeignete Repräsentationssysteme nicht der Pikanterie und auch nicht des Zynismus. Den Nachgeborenen jener Gesellschaften, aus denen die Objekte einst stammten, wird heute die Aufnahme verweigert, europäische Politiker diskutieren öffentlich, ob man Menschen auf Booten nicht ertrinken lassen soll und kriminalisieren deren Retter. Ihr kulturelles Erbe hingegen stapelt man in den Museen, um Besucher und Touristen anzulocken, Schüler und Studenten zu bilden, wissenschaftliche Karrieren zu fundieren.

Der Museumsgedanke nahm seine Anfänge in der Renaissance. Gemeinsam mit einer Diesseitsorientierung wuchs das Bedürfnis zu verstehen, zu ergründen, zu forschen und damit auch eine Neugierde auf die Welt jenseits des Horizonts. In diesem geistigen Klima wurzelten die Rahmenbedingungen für das Zeitalter der sogenannten Entdeckungsreisen und zugleich die Kulturtechnik des Sammelns.

So wurden seit dem 16. Jahrhundert aus den erreichbaren Weltgegenden Dinge herangeschafft und fürstliche Kuriositätenkabinette gefüllt. Eine Sammlung war statusverleihend, die Güter waren Requisiten der Macht, bezeugten Reichtum und weltläufigen Schliff ihres Besitzers. Bei Aufbewahrung und Präsentation war ein Sortieren nach Materialien üblich. In der Frühform der musealen Sammlung sollte das Wissen der Zeit enthalten sein, eine Art Enzyklopädie an Dingen sollte sie sein, ein Panoptikum, das die Erde als Mikrokosmos erfasst. Es war eine Aneignung der Welt in ihren Dingen, der Gedanke imperialistischer Inbesitznahme war darin bereits enthalten.

Heute bilden jene Exotica, die vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert nach Europa verschifft wurden, den Grundstock der Bestände in den Depots. Einige der Häuser, die sie beherbergen, nennen sich noch immer Völkerkundemuseum, andere wurden umbenannt: Weltmuseum (Wien), Museum der fünf Kontinente (München), Weltkulturenmuseum (Frankfurt), Museum der Kulturen (Basel), allesamt hochtrabende Namen, die noch immer den fürstlichen Grundgedanken der Renaissance zu enthalten scheinen, Universalmuseum zu sein, die Welt als Ganzes in ihren Teilen zu bewahren.

Der "edle Wilde"

Anfänglich war es Neugierde, die in der frühen Neuzeit zum Entstehen der Sammlungen führte, und die erwünschte Art der Rezeption sah vor, dass die Dinge beim Betrachter Staunen auslösen. Dann fand ein Paradigmenwechsel statt, der in der Aufklärung begann und im 19. Jahrhundert vollzogen war: Das Exotische und Kuriose, das man bestaunte, auch bewunderte, wurde umkonstruiert.

Einerseits wurde es zum Primitiven, auf das man herabschaut. Es war die Hochblüte des Kolonialismus, und die imperialistische Expansion und Ausbeutung bedurften der Rechtfertigung. Andererseits wurden das Fremde und Unverständliche zum "Exotistischen" verklärt, der Topos des "edlen Wilden" wurde popularisiert, in der Romantik kamen Gegenbilder zu den damaligen Lebensentwürfen in Mode.

Im Verlaufe der kolonialzeitlichen Übergriffe dehnten die europäischen Länder ihre Grenzen aus, und die Museen komplettierten ihre Bestände. Kaufleute, Missionare, Matrosen, Wissenschafter und Weltenbummler waren die Lieferanten jener merkwürdigen Dinge aus aller Welt, nunmehr Ethnographica genannt, die von Kustoden mit großem Eifer zusammengetragen, inventarisiert, beschrieben und ausgestellt wurden.

Den Methoden der kolonialen Expansion entsprachen die Praktiken beim Erwerb der Dinge. An so manchem Objekt klebt Blut. Hausrat, Musikinstrumente, Werkzeuge, Waffen, Textilien und Paraphernalia wurden billig gekauft, getauscht, abgeschwatzt, teils gestohlen oder erpresst, und landeten dann auf verschlungenen Wegen in Sammlungen und Museen. Natürlich geschah das, wie andere koloniale Barbareien, auch mit Hilfe einheimischer Mittelsmänner, die sich als kundige Zuträger unentbehrlich machten.

Bedeutungswandel

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckten - zurückgehend auf Gauguin - Kubisten, Fauvisten und Brücke-Künstler die Außereuropäischen und erklärten zur Kunst, was bisher als Figur und Maske, als Holzschnitzerei, Bronzeguss oder Fetisch im Museum ausgestellt oder auf Trödelmärkten billig zu erwerben war. Picasso, Braque, Derain, Vlaminck, Matisse und andere fanden in den Gegenständen aus Übersee, nunmehr "primitive Kunst" genannt, was sie in der europäischen entbehrten - Stilisierung und Abstraktion, Verzicht auf Naturalistisches zugunsten von Expressivem.

Die immer noch gleichen Dinge wurden also wieder mit neuer Bedeutung aufgeladen, es änderten sich ihr Wert, ihr Preis und die Kategorie, der sie zugehörten, sie wurden zu Antiquitäten und zu Handelsware auf internationalen Auktionen. Aus Kuriosa, Exotica und Ethnographica war Kunst geworden.

Es folgte die nächste Interpretation. Im Zuge der kolonialen Expansion hatten Forscher auch Wissen über die eroberten Regionen und die in ihnen wohnenden Menschen zusammengetragen. Nun marschierten Völkerkundler auf, beanspruchten die Deutungshoheit und erklärten, dass es l’art pour l’art in indigenen Gesellschaften nicht gäbe. Fortan wurden die außereuropäischen materiellen Hervorbringungen ethnologisiert. Sie wurden sozialen Einheiten zugeordnet, die man sich mehr oder weniger abgeschlossen dachte, und die durch eine Konstruktion von Ethnizität voneinander abgegrenzt wurden. Mittels so gewonnener ethnisch definierter Kategorien wurden die Dinge kontextualisiert und mit einem Vokabular beschrieben, das ihre Einbettung in ein religiös-rituelles und soziales Gefüge erlaubte.

So wurden die Objekte didaktisch und für jedermann verständlich aufbereitet. Das Knowhow wurde aus der Theaterwissenschaft entlehnt. Vitrinen galten als verstaubt, es wurden angemessene Umgebungen für die Requisiten entworfen, ganze Häuser und halbe Dörfer, samt Marktplätzen, Versammlungsorten und Kultstätten wurden nachgebaut. Hinter den Kulissen war Museumspädagogik das Thema. Einen Einblick in die Lebenswelten der als fremd empfundenen Gesellschaften sollte diese Bühne liefern, paradoxerweise aber bei sorgfältiger Ausklammerung aller Einflüsse und Hierarchisierungen, die sich durch die kolonialistische Durchdringung ergaben, wie aller Gegenstände aus industrieller Produktion, die inzwischen auch das Innere von Wüsten und Regenwäldern erreicht hatten.

Dann erhielt der Zeitgeist eine Aktualisierung, es gab eine Phase der sozialwissenschaftlichen Bedeutungsproduktion, in der die Begriffe "Kulturwandel" und "Akkulturation" in aller Ethnologen Munde waren, beginnend in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Plötzlich gab es auch Kunststoff in den Präsentationen und acryllackbunte Gegenstände, ebenso Produkte europäischer Provenienz wie Waschmittelverpackungen, Zigarettenschachteln oder Schnapsflaschen. Sie wurden zuerst gewinnbringend in außereuropäische Dörfer exportiert und dann von dort als Sammelgüter wieder importiert und in Museen gestellt, wo sie die Segnungen altweltlicher Zivilisation ironisierend demonstrierten. Die Kustoden nannten sich nun Kuratoren.

Fremdzuschreibungen

Das 21. Jahrhundert sieht wieder eine neue Epoche der Betrachtung, eingeläutet durch die Erkenntnisse postkolonialer Theoriebildung, die die außereuropäischen Besitztümer in den europäischen Museen als Fortschreibung kolonialistischer Machtverhältnisse bis in die Gegenwart thematisiert. Das Ethnologisieren der Gegenstände ist eher out, eine neue Wissenschaftergeneration deutet es als Konstrukt der Vorgänger. Die ethnisch definierten Etikettierungen werden als Fremdzuschreibungen ordnungssüchtiger Gelehrter in Frage gestellt.

Wie bei jedem bisherigen Perspektivenwechsel hat sich die Kategorie geändert, der die Gegenstände zugeschrieben werden. Nun lautet das Thema Beutekunst, Raubobjekt, Hehlergut. Hinter jedem Ding im Depot steht ein Fragezeichen. Wurde es rechtmäßig erworben?

Provenienzforschung

Nunmehr muss der Erwerbskontext thematisiert werden, auch wenn er nicht rekonstruierbar ist, schon gar nicht lückenlos, Dokumentationen fehlen. Überrascht stellt man fest, dass die Objektgeschichte ebenso viel Geheimnis birgt wie das Objekt selbst. Es geht also nun um Verbrechen und Schuld, um Aufklärung und Provenienzforschung, um Wiedergutmachung, um Fragen von Restitution oder Dauerleihgabe.

Im gänzlich umorganisierten, seit Oktober 2017 wieder zugänglichen Weltmuseum in Wien wird diesen Problematiken viel Raum gewidmet, und im Humboldt Forum, das Ende 2019 im wiederaufgebauten Berliner Schloss eröffnet werden soll, gehen über den anstehenden Fragen die Wogen hoch. In Frankreich wurde die Restitution zur kulturpolitischen Chefsache: Emmanuel Macron verkündete im November 2017 in Ouagadougou zur Überraschung aller Beteiligten und zum Unmut mancher, dass man innerhalb der nächsten fünf Jahre die Voraussetzungen für eine zeitweilige oder endgültige Rückgabe des afrikanischen Erbes an Afrika schaffen wolle.

Ein Jahr später - im November 2018 - und nach Vorlage eines Expertengutachtens hat Frankreich verkündet, 26 Objekte an die westafrikanische Republik Benin übergeben zu wollen. Es sieht also danach aus, als ob das präsidentielle Versprechen mehr sei als die lang geübte Verzögerungstaktik, mit der Museumsverantwortliche, Staaten und Stiftungen als Eigentümer der Bestände möglichst alle Fragen der Restitution auf der langen Bank vor sich herschieben.

Und nun schrillen die Alarmglocken bei den kulturpolitischen Entscheidungsträgern in ganz Europa, denn jedes Eingeständnis einer historischen Schuld von offiziellen Seiten wird unweigerlich Ansprüche nach sich ziehen, die über die Rückgabe von Objekten weit hinausgehen; Reparationsforderungen riesigen Ausmaßes könnten plötzlich im Raum stehen.

Derweilen geht man dazu über, wieder ein anderes Repräsentationssystem zu schaffen und auch Sammelpraxen auszustellen. Heutzutage berichten Begleittexte, wie, wann, auf welchen Wegen und durch welche Lieferkette ein Objekt ins Museum gelangt ist.

Um die Sammelwut vergangener Jahrzehnte zu verdeutlichen, stopft man in die Vitrinen hinein, was hineingeht, von allem viel. Die Regale scheinen zu bersten, zwanzig oder mehr identische oder sehr ähnliche Speere oder Pfeile, Bumerange oder Zeltheringe, Töpfe oder Tücher. Vor dem Dschungel an Dingen stehen verloren und erschlagen die Besucher.

Kooperationen

Hinter der neuen Didaktik steckt uralte museologische Strategie, die erwünschte Reaktion der Betrachter ist - wie seinerzeit im fürstlichen Kuriositätenkabinett - Staunen und Verwunderung: Was soll das? Warum sind all die Dinge hier? Und wozu? Konzeptionell landet man damit wieder bei den musealen Anfängen, als nach Materialien, Gattungen und Kategorien geordnet wurde, und der Fokus nicht auf einzelne herausragende Objekte gerichtet war, sondern auf die Masse dessen, was man besitzt und zur Schau stellen kann. Die ästhetische Komposition, die in jenen Zeiten eine Machtdemonstration war, ist heute ein Verweis auf Fehlverhalten.

Ist das nun wieder eine Vereinnahmung der Objekte? Diesmal, um Schuld abzutragen? Wieder nur der europäische Blick, bemüht zwar, aber kulturnarzisstisch wie eh und je? Das Gebot der Stunde sind jedenfalls Kooperationen mit Museen des Globalen Südens, Austausch von Wissenschaftern, Forschungen mit den Kollegen vor Ort, Ausstellungen in Partnerschaften, Projekte mit Künstlern aus den Gesellschaften der Nachfahren. Besucher aus den Herkunftsländern genießen Vergünstigungen beim Eintritt und werden gebeten, ihre Eindrücke zu den Objekten wiederzugeben. Damit wird den Dingen ein weiteres Narrativ angeheftet.

Afrikanische Aktivisten werten solche Aktionen als Heuchelei. Sind sie nicht nur dazu da, in altbekannter Kuratorenherrlichkeit Machtverhältnisse zu vertuschen? Sharing heritage bedeutet vorerst nicht, dass das Erbe geteilt wird, sondern nur, dass ein Teil der Diskurshoheit abgegeben wird. Nur wenige historisch bedeutsame Objekte sind bis heute an ihren Entstehungsorten verblieben und dort zu besichtigen. Wenn Afrikaner sich über ihre Kulturgeschichte informieren wollen, sind sie gezwungen, sich nach Europa zu begeben. Aber wie viele von ihnen können sich eine solche Reise leisten, vorausgesetzt man gewährt ihnen ein Schengen-Visum?

Solange afrikanischen Arbeitskräften der Zugang zu globalen Arbeitsmärkten verweigert wird, solange Afrikaner rassistischen Diskriminierungen und Übergriffen ausgesetzt sind, solange der Norden seinen Reichtum auf der Armut des Südens aufbaut, sind solche museale Praxen in afrikanischen Augen nur ein scheinheiliges kulturelles Mäntelchen, mit dem globale Ungleichheiten behübscht werden. Aus einer afrikanischen Perspektive ist die jüngste museale Wende somit nichts anderes als ein neokoloniales Bravourstück.

Ingrid Thurner ist Ethnologin, Publizistin im Bereich Wissenschaftskommunikation und Lehrbeauftragte am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien. Sie war jahrelang auch freie Mitarbeiterin des Weltmuseum Wien und des Museum Niederösterreich.