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Wo bleibt die Souveränität?

Von Karl Kollmann

Reflexionen

Ein nüchterner Blick auf das Altern der Menschen in der spätmodernen Gesellschaft - jenseits üblicher Beschönigungen.


Eines gleich vorweg: Hierzulande sind die Alterspensionen zwar deutlich höher als in Deutschland; aber im Durchschnitt sind es dennoch nur brutto 1291 Euro monatlich (2017, netto: 1183 Euro, 14 mal im Jahr). Die Sozialhilfe beträgt 863 Euro kalendermonatlich (netto, 2019). Für viele wird es in der Pension also finanziell eng, auch wenn die Zeit großer Anschaffungen vorbei und das eigene Kind längst selbstständig ist. Damit fehlt zumeist schon die ökonomische Basis für eine souveräne Lebensführung im Alter.

Klar, mit dem Alter nehmen körperliche Beschwernisse zu, das merkt man bereits mit 50; mehr Arztbesuche stehen an, ebenso Medikamente, die Leistungsfähigkeit lässt nach, Gelenkbeschwerden, Lunge, Herz und andere Organe schwächeln, Falten machen sich breit, trockene Haut.

Altern zum Tod liegt in der Natur aller Tiere, das wissen wir und verdrängen es dennoch kontinuierlich. Beruflich konnte man physische und kognitive Leistungseinbußen oft mit erworbener Routine und seinem Erfahrungsschatz kompensieren. Allerdings, nach dem Abschied aus der Erwerbstätigkeit bricht für viele eine Identitätskrise auf. Da rächt sich der Umstand, dass heute persönliche Identität vor allem von der Berufsarbeit gespeist wird. Viele leiden, wenn sie nichts mit sich selbst anzufangen wissen, da dieses Außerberufliche über Jahrzehnte verödet war.

Zielgruppenaufrüstung

Die Lebenserwartung der Menschen "im Westen" ist in den letzten hundertfünfzig Jahren deutlich gestiegen, manche bezeichnen das heute als "Lebensdauer" - ein Begriff für Maschinen. Demografen meinen, das wird so weitergehen, die kalifornischen Transhumanisten prophezeien sogar ewiges, elektronisch gestütztes Leben. Bei dem allen ist viel an Dummheit dabei, ebenso, wenn eine "alternde Gesellschaft" beklagt wird. Es gibt in dem Sinn keine alternde Gesellschaft, sondern die Zahl der Kinder wird mit steigendem Wohlstand geringer.

Menschen der Elite, der Oberschicht haben auch in der Antike und im Mittelalter relativ lange gelebt, früh gestorben sind immer nur die Armen. Daran hat sich bis heute nichts geändert: Ärmere werden im Schnitt nicht so alt wie Wohlhabende, Gebildete. Ja, der Sozialstaat europäischen Zuschnitts hat diese Differenz zwar deutlich mildern, aber nicht aufheben können. In einigen westlichen Ländern geht es mit der Lebenserwartung der wirtschaftlich schwächeren Hälfte nun schon wieder bergab.

Unsere Gesellschaft beschönigt das Altwerden, indem sie die Alten nobel als "Senioren" bezeichnet und ihnen mit verlogener Werbung Gesundheitsprodukte, oft Esoterik, andrehen will - nicht alles, was hilfreich scheint, bezahlt eben die Krankenkasse. Die übrige Konsumgüterindustrie bleibt da lieber beim Attribut "jugendlich", das wirkt bei allen, dazu boomt kosmetische Chirurgie.

Schönheit und Jugendlichkeit sind alte Ideale aller Kulturen und kommerziell stets bestens nutzbar. Senioren-Redaktionen traktieren Leser mit Ratschlägen, geschäftstüchtige NGOs stehen bereit, vor allem Seniorenorganisationen im Vorfeld der Parteien, welche die Alten in der Öffentlichkeit oder gegen die Mainstream-Gesellschaft vertreten wollen. Alle drei Mittelparteien haben heute ihre Seniorenorganisationen. Im Hauptgeschäft sind sie aber Reisebüros oder Freizeitklubs, keine Altenlobby. Selbst die UNO als superstaatliche Welteinrichtung hat ihr gutbezahltes Seniorendepartment und spart nicht mit Worthülsen.

Der Therapiestaat

Gehen wir ein Stück auf die Ursachen zu. Ein gravierendes Problem moderner westlicher Gesellschaften ist der Verwaltungsstaat. Er hat im Verbund mit dem Kapitalismus die traditionellen verwandtschaftlichen Verhältnisse und insbesondere die Familie "entrümpelt" und geschwächt.

Das beginnt mit erweiterten Volksgesundheits- und Erziehungsmaßnahmen im militärischen Interesse schon Ende des 19. Jahrhunderts und intensiviert sich mit wissenschaftlicher Unterstützung dann in nahezu allen Lebensbereichen. Für die USA hat diese Entwicklung zum "Therapiestaat" der Historiker und Sozialkritiker Christopher Lasch genau verfolgt, in Europa ist es mit zeitlicher Verzögerung nicht anders gewesen. Hauswirtschaftliche Bildung, Gesundheitsvorsorge, Ernährungs-, Schulprobleme-, Frauen- und Eheberatung und vieles andere dringen in die alte familiäre Sphäre ein, der Staat mischt sich mit freundlichen Hilfsangeboten und Belehrung in die private Lebenswelt. Alle - kommunistische wie kapitalistische - Staaten versuchen, Kinder und Jugendliche zu bilden, zu erziehen, für Wirtschaft, Verwaltung und Gesellschaft passend zu machen. Schulpflicht, Ausbildungspflicht, Kindergartenpflicht, richtige Erziehung, Jugendämter schreiten ein und nehmen einem gegebenenfalls die eigenen Kinder weg.

Dazu kommt, dass die meisten Eltern mittlerweile froh sind, wenn es staatlich organisierte Betreuungsmodelle gibt, um den privaten Erfolgs-, Wettbewerbs-, Einkommens- und Konsumpflichten besser nachkommen zu können. Das trifft zunehmend auch für die Alten zu; das Anstaltsmodell, wenn sie hilflos werden, wird beliebter. Vor allem, wenn es nicht mehr die eigene Geldbörse oder das mögliche Erbe belastet.

Weniger Solidarität

Realistischerweise sollte man sich von einem Kind heute wenig persönliche Unterstützung im Alter erwarten. Kinder haben ihre eigenen Konsuminteressen, und verwandtschaftliche Beziehungen sind heute weit weniger dicht, altruistisch, solidarisch als früher. Es ist dies eine Folge der Verstädterung und Medialisierung des Lebens. Beides verändert wie Geld, Ökonomie und Wettbewerb, die in den großen Städten und Medien beheimatet sind, die sozialen Strukturen.

Die Entwicklung der nationalen Gebilde zu Sozialstaaten - ein Fortschritt, der übrigens nur nationalstaatlich möglich war - hat in Europa viel an Elend und Armut beseitigen können. Damit wurde jedoch die Wechselseitigkeit verwandtschaftlicher Beziehungen und damit von Solidarität aus dem Alltag entfernt - und im Gegenzug der Anspruch auf staatliche Hilfe eingeführt.

Veränderungsaversion

Wer rechtliche Ansprüche hat, bedarf keiner familiären Hilfe und Solidarität mehr. Wenn ein alter Mensch Probleme macht, soll die Krankenkasse, ein Pflegeheim, oder gegebenenfalls eine der vielen Sozialorganisationen - straffe Dienstleistungsindustriebetriebe oder NGOs wie Rotes Kreuz, Caritas, Volkshilfe, Hilfswerk, deren Geschäftsmodell auf viel Freiwilligenarbeit beruht - sich darum kümmern.

Die mit dem Altern, also dem fortschreitenden Leben zum Tode, sich mehrende Gebrechlichkeit und Krankheitsanfälligkeit wurde schon angesprochen; die psychischen Strukturen verändern sich ebenso. Die charakterlichen Merkmale eines Menschen, zur groben Hälfte genetisch determiniert, was heute Multikulturalisten nicht gerne hören, festigen sich mit 30 bis 35 Jahren, verändern sich dann mit ungefähr 60 in Richtung Sicherheit und Aversion gegenüber Veränderung.

Auch die heute begeistert Weltoffenen werden im Alter traditionell (halt auf ihre Art), rigider und zugeknöpfter werden. Freunde sind immer in ähnlichem Alter und die sterben nun weg, neue kommen nicht mehr dazu. Dass die Abschiebung der Alten in Zonen der Fremdbetreuung mitunter selbstgewählt ist, wenn das Geld reicht, zeigt sich in den Rentnerstädten der USA, jetzt folgen in Europa vermehrt teure "Seniorendörfer".

Nicht nur die Verrentung ist eine Zäsur, überhaupt hat die Gesellschaft noch nicht den richtigen Modus gefunden, um mit Alten umzugehen. Dominant ist das Verständnis von Alter als eine Art Krankheitsprozess, den man medizinisch, technisch und durch Selbstoptimierung verzögern könne. Eher traditionell ist das Modell der Hilfsbedürftigkeit, die man persönlich mit etwas Rücksicht und sozial mit Verwaltung (Sozialleistungen für Alte, Tageszentren, adäquate Beschäftigung) kompensieren könne. Und drittens wird Altern als betriebswirtschaftlicher Mehraufwand gesehen, den man irgendwie optimieren solle, damit das Sozialsystem nicht aus dem Ruder läuft. Von persönlicher Souveränität ist da nirgendwo die Rede.

Diskriminierung

Mehr als ein Drittel der Österreicher nimmt Altersdiskriminierung wahr, folgt man der dazu letzten Eurobarometer-Umfrage aus dem Jahr 2008. In Deutschland zeigt eine aktuellere Erhebung, dass Alter und dann Armut zum ausgeprägtesten Diskriminierungsrisiko zählen - demgegenüber die medial recht intensiv behandelte sexuelle Orientierung zum geringsten.

Es gibt ein konfliktträchtiges Verhältnis zwischen den Jüngeren und den Älteren, keine Frage. Eine Wiener Studie aus den 90er Jahren meinte: die Alten sollen sich halt an die Jungen anpassen, nicht klagen und kritisieren, sondern witzig, originell und schlank sein, sowie stets mehr geben als nehmen. Letzteres tun sie jedoch schon längst, die Transferrate von Alt zu Jung beträgt 7 zu 1, ohne Erbe.

Insbesondere in den urbanen Bereichen fehlt eine Kultur des Alterns bei der hier geborenen Bevölkerung, dazu gehörte ebenso eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod. So etwas gab es früher, der Historiker Philippe Ariès (Studien zur Geschichte des Todes im Abendland) hat das beschrieben. Vor dem Tod flüchtet man heute, Betroffene wie Angehörige; man schiebt das Sterben in Krankenanstalten und Pflegeheime ab. Zur Demütigung durch Alterskrankheiten und der Beschämung aufgrund von Pflegebedürftigkeit, der Schmach des Alleinseins, kommt für die Betroffenen noch das dumpf tropfende Warten auf den Tod in einem Körper, der nicht ihnen zu gehören scheint.

Die Hospiz-Entwicklung der letzten Jahre mag hier manches mildernd und freundlich verbessert haben, etwa bei der Schmerzbehandlung. Jedoch, wenn Menschen, wie bei einem Freund von mir, die letzten paar Tage ihres Lebens nicht mehr Rauchen oder einen Schluck Wein trinken dürfen, also auf lebenslange Gewohnheiten verzichten müssen, da das eben Vorschrift ist, dann ist das auch nichts anderes als herzlose Verwaltung.

Karl Kollmann, geboren 1952, promovierter Soziologe und habilitierter Ökonom, Schwerpunkte: Haushaltsökonomie, Verbraucherforschung; viele Jahre in der österreichischen und europäischen Verbraucherpolitik tätig.