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Frankreichs neuer Messias?

Von Doris Barbier

Reflexionen

Raphaël Glucksmann hat soeben seine eigene politische Bewegung ausgerufen: "Place publique" gilt als neuer Hoffnungsschimmer der "Generation Charlie".


Ganz Frankreich oder zumindest "tout Paris" schaut heute auf den Mann mit den leicht ergrauten Schläfen und dem berühmten Namen, der gerne ausposaunt, "ich habe nie an Macron als Heilbringer geglaubt". Dabei ist die Stimmung im Land zur Zeit alles andere als euphorisch, rien ne va plus, die krisengeschüttelte Grande Nation liegt brach. Weihnachten ist längst vorbei und nicht nur der nicht enden wollende Konflikt mit den "Gelb-Westen", sondern auch ein scheinbar nicht enden wollender harter Winter haben Macron und seine Regierung mürbe gemacht.

Raphaël Glucksmann, dem Sohn des 2015 verstorbenen Philosophen André Glucksmann, der kein Geheimnis daraus macht, bei den letzten Präsidentschaftswahlen im ersten Wahlgang für den sozialistischen Kandidaten Benoît Hamon gestimmt zu haben, scheint der lange Winter nichts auszumachen, ganz im Gegenteil.

Seine Bewegung Place Publique, die er gemeinsam mit dem Ökonomen Thomas Porcher und der militanten Umweltaktivistin Claire Nouvian vor einigen Wochen offiziell ins Leben gerufen hat, soll die - gelinde gesagt - marode Linke aus dem Tiefschlaf holen. Eine kollektive Bewegung, um nicht tatenlos zuzusehen; zu retten, was noch zu retten ist; dem Vorwurf, unterlassene Hilfeleistung begangen zu haben, entgegenzuwirken - und gleichzeitig den Entzauberungsprozess um den krisengeschüttelten Präsidenten Macron zu beschleunigen.

Auftritt in Montreuil

All das soll mit einem globalen und humanitären Konzept geleistet werden, das der ehemalige Berater des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili Ende November in Montreuil vorgestellt hat. Hier, in dem Arbeiter- und Immigrantenvorort im Osten der Hauptstadt, leben heute auch viele Mitglieder der Pariser Bourgeois-Bohémiens, die sich die as-tronomisch hohen Quadratmeterpreise im Stadtzentrum nicht mehr leisten können.

Glucksmann hatte Lampenfieber, die Happy Few, die einen Sitzplatz im Kulturzentrum "La Marbrerie" ergattern konnten, waren mehr als begeistert. Trotz Novemberhimmel und allgemeiner Katerstimmung wurde außerdem für einen gut dosierten Hauch Glamour gesorgt: Schauspielerin Emmanuelle Béart (bekannt für ihr politisches Engagement in der Obdachlosenszene) kam inkognito, Filmregisseur und "Goldene Palme"-Gewinner Michel Hazanavicius ("The Artist") saß mit Gemahlin Bérénice Bejo im Publikum.

Für alle, die es nicht bis nach Montreuil geschafft hatten, wurde vorgesorgt: "Les enfants du vide" ("Die Kinder der Leere") heißt Glucksmanns neuestes Werk, das seit ein paar Wochen in jeder gutbestückten Buchhandlung des Landes zu finden ist und bereits als Bestseller geführt wird. Der Essayist, Autor und Lebensgefährte der französischen Starjournalistin Léa Salamé, mit der er einen knapp einjährigen Sohn hat (böse Zungen behaupten, er habe die Babypause, sprich Karenz genützt, um das Buch zu schreiben und still und leise am Programm seiner Bewegung zu feilen), geht bei seinen zahlreichen TV-Auftritten im französischen Fernsehen gewohnt unsanft und ohne Worthülsen mit der Lage der Nation und dem Treiben des aktuellen Präsidenten um.

Bei den Gluckmanns ist man schließlich seit Generationen da-ran gewöhnt, sich kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Der Absolvent der Eliteuniversität Sciences Po, der schon als Kind Journalist werden wollte und im unglamourösen 10. Pariser Arrondissement am rechten Seineufer mit politischen Diskussionen, Berichten von Dissidenten aus Osteuropa und Freiheitskämpfern aus Chile aufgewachsen ist - "bei uns saßen alle, egal ob Rechte oder Linke, friedlich vereint am Tisch, obwohl stets hitzig diskutiert wurde" - , durfte schon im Kindesalter an sämtlichen politischen Diskussionen teilnehmen. "Ich wurde von klein auf von meinen Eltern als Gleichgesinnter angesehen, ein großer Vorteil meiner Meinung nach". Etwaigen Kritikern und potenziellen Gegnern nimmt er somit gleich im Vorfeld den Wind aus den Segeln: Sich auf seinen Lorbeeren oder womöglich gar seinem Familiennamen auszuruhen - nichts sei ihm mehr zuwider, erklärte er jüngst in einem Interview der Tageszeitung "Le Monde": "Unsere Wurzeln dürfen nicht unser Schicksal werden".

Seinen Vater - "er war mein bester Freund" - nannte er nie Papa, sondern "Glucks". Der Starphilosoph André Glucksmann, der im Alter von zehn Jahren entschied, nicht mit seiner Mutter Martha nach Wien zu gehen (wo diese bis zu ihrem Tod 1973 lebte, während André in der Obhut seiner Schwester Eliza in Frankreich aufwuchs), galt in den revolutionären 1968er Jahren als Maoist. Er wäre heute sicher stolz auf seinen Sohn, der bereits Ende der 1990er Jahre aus der Komfortzone ausgezogen ist und als Erster Frankreichs Haltung im Ruanda-Konflikt offen kritisiert hatte, während seine Studienkollegen von Sciences Po nach der Vorlesung lieber am Champagnerglas nippten oder an ihrem Karriereplan tüftelten.

Kosmopolitische Aura

Raphaël Glucksmann sah sich schon damals lieber in Algerien, Ruanda und später in der Ukraine um. Dass er heute mit seinem proeuropäischen Programm, das (im Gegensatz zu Macron) weder die Flüchtlingsproblematik noch die Umweltpolitik unter den Tisch fallen lässt, die Linke aus dem Dornröschenschlaf wecken möchte, lässt ihn kometenhaft (vermutlich sogar schneller, als von ihm ursprünglich geplant) zum neuen Shooting-Star der Politikszene aufsteigen. Die Tatsache, dass seine beiden Mitgründer Thomas Porcher und Claire Nouvian der breiten Öffentlichkeit gänzlich unbekannt sind, tut dem Erfolg keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil.

Das Volk hat genug von "Petits Fours" und affektiertem Rive-
Gauche-Elitismus. Dafür besitzt der Sprössling einer altösterreichischen, aus Osteuropa stammenden jüdischen Familie die gewisse kosmopolitische Aura eines Weltpolitikers. Seine Großeltern väterlicherseits hatten sich in Palästina kennengelernt - in der Jackentasche des Großvaters (der dann 1940 auf einem Schiff starb, das von deutschen Torpedos getroffen wurde), steckte ein Exemplar von Karl Kraus’ Zeitschrift "Die Fackel".