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Ab ins Bett, ab in die Kapsel

Von Jeannette Villachica

Reflexionen
Erholung unterwegs: Pendler in der U-Bahn von Tokio.
© Corbis via Getty Images/James Leynse

Schlaf könnte eines der einfachsten Mittel zur Entschleunigung sein. In vielen Kulturen wird er jedoch wenig geschätzt. Beginnt jetzt langsam der Wandel?


Als Ikea seinen Kunden im Jahr 2015 verbot, in den Betten und auf den Sofas der chinesischen Filialen zu schlafen, änderte sich - nichts. Bis heute isst und trinkt man in China auf Ausstellungsstücken, sieht fern, schlüpft für ein kleines Nickerchen unter die Decken. Die Schweden mussten sich damit abfinden - China ist einer ihrer stärksten Wachstumsmärkte. Und im Reich der Mitte gibt es etwas, das in westlichen Ländern nur schwer vorstellbar scheint: ein verfassungsmäßiges Recht auf Mittagsschlaf. Die Chinesen nutzen es, wo sie können.

Schlaf ist oft die einfachste, in jedem Fall aber die natürlichste und preiswerteste Form der Entschleunigung. Im warmen Bett entspannt sich unser Körper; im Dunkeln lassen wir unser Tages-Ich und die Außenwelt hinter uns; versinken, je nach Schlafphase, in der gedanklichen Leere oder in unseren Träumen. Im Schlaf festigt sich unser Gedächtnis, unsere Zellen regenerieren sich, unser Immunsystem wird gestärkt. Warum schlafen dann viele Österreicher mit durchschnittlich 6,8 Stunden täglich nicht genug? Wissen wir zu wenig über die Wechselwirkungen zwischen Schlaf und Gesundheit, Arbeit, unserem geistigen und sozialen Leben sowie der Wirtschaftskraft unseres Landes?

Falsche Ideale

Wie, wann und wo wir schlafen und welchen Stellenwert Schlaf für uns hat, ist kulturell bedingt. In vielen asiatischen Ländern ist das Schläfchen in der Öffentlichkeit gesellschaftlich akzeptiert. Japaner sind es von klein auf gewohnt, in engen, hellhörigen Wohnungen oder unterwegs zu schlafen. Sie nutzen Fahrten in Bus und Bahn, Arbeitspausen, ja sogar Unterricht, Meetings und Konferenzen für ihren Inemuri genannten Wachschlaf. Die Kunst dabei besteht darin, nur so leicht zu schlafen, dass sie die richtige Haltestelle nicht verpassen oder wach werden, wenn es um "ihr Thema" geht. In Japan heißt es: "Wer tagsüber schläft, war nachts besonders fleißig." Und nicht wie bei uns: Zu faul? Zu lange gefeiert?

Japanerinnen sind darauf trainiert, beim "Inemuri" auf keinen Fall mit dem Kopf in Richtung eines männlichen Sitznachbarn zu sinken. Für Indonesier dagegen ist das kein Problem. Der englische Ethnologe Nigel Barley schrieb 1988 in einem Reisebericht über eine Busreise auf Sulawesi: "Wie bei einem Haufen Vettern oder einem Wurf Hundebabies verflochten sie die Beine und betteten ihren Kopf auf die Brust des Nachbarn. Leute, die einander offensichtlich fremd waren, räumten sich, um zu schlafen, Kuschelfreiheiten ein."

Selten sind wir so verletzlich wie im Schlaf. Um die Kontrolle abzugeben, müssen wir uns sicher fühlen. Wer weiß, ob wir wieder aufwachen? Wegen seiner Rätselhaftigkeit gehört der Schlaf zu den größten Kulturbildnern der Menschheit. In der antiken Mythologie wurden Wachen und Schlafen, Tag und Nacht, Leben und Tod als gleichwertig betrachtet. Aristoteles vermutete im Schlaf den Sitz der Seele. Im Mittelalter vertraute man auch im Schlaf auf Gott. Dann sorgten das protestantische Arbeitsethos und die Maximen der Aufklärung dafür, dass der Schlaf in Verruf geriet - und heute betrachten wir Menschen, die wenig schlafen, als besonders leistungsfähig.

Bei einer repräsentativen Online-Umfrage von 2018 klagten 30 Prozent der befragten Österreicher über regelmäßige Einschlafprobleme, 2007 waren es nur sechs Prozent. Als gestört empfinden wir unseren Schlaf jedoch erst, wenn wir mehr als viermal pro Nacht länger als fünf Minuten wach sind; bis zu 23 Mal pro Nacht für ein paar Sekunden aufzuwachen, ist Schlafforschern zufolge normal.

Erkenntnisse über die gesundheitlichen und sozialen Folgen von Schlafmangel und die Vorzüge des Mittagsschlafs dringen langsam über Medienberichte, Ärzte, Schlafcoaches und Entspannungsgurus bis in unsere Privatwohnungen, in unser Gesundheitssystem, bis in Unternehmen und die Politik vor. Noch allerdings treten Spitzenpolitiker nach nächtelangen Verhandlungsmarathons scheinbar frisch vor die Kameras - und prägen damit falsche Ideale.

Wir wissen, dass unser Schlafmangel zum Großteil selbstverschuldet ist - und schlafen doch in überheizten Räumen, auf zu harten oder zu weichen Matratzen, wir nehmen uns Arbeit mit nach Hause und schalten Fernseher, Smartphone oder Tablet zu spät (oder gar nicht) aus; deren Blaulichtanteil gehört zu den wichtigsten Schlafkillern. Um Körper und Geist auf das Schlafen vorzubereiten, sollte man spätestens zwei Stunden vor dem Zubettgehen keinen Sport mehr treiben und ein paar angenehme Rituale einführen - etwa eine Tasse Tee trinken, ein paar Seiten lesen und ein bisschen Tagebuch schreiben -, um Probleme aus dem Kopf zu bekommen. Verzeihen, dankbar sein, die Verantwortung abgeben hilft auch. Wer jetzt an das gute, alte Beten denkt, liegt gar nicht so verkehrt.

Übrigens schlafen einer Umfrage der US-amerikanischen National Sleep Foundation zufolge in den meisten großen Industrieländern nur zehn bis zwölf Prozent der Bevölkerung nackt. In Großbritannien sind es jedoch etwa dreißig Prozent. Ebenfalls in Großbritannien bietet das Fitnessunternehmen David Lloyd mit "Napercise" einen Kurs an, in dem die Teilnehmer nichts anderes tun als 45 Minuten in mitten in einem Fitnesscenter errichteten Betten zu schlafen.

Nickerchen-Kultur

Die Hauptzielgruppe: Gestresste Eltern, die zu Hause keine Ruhe finden. Und die ihre Schlaflöcher mit hohem Kaffee- und Zuckerkonsum aufzufüllen versuchen. Langfristig kann das ziemlich schiefgehen. Die Gefahren: Bluthochdruck, Übergewicht, Diabetes, Herzschäden, Magen-Darm-Probleme und Depressionen. Müde Menschen verursachen zudem häufiger Haushalts- und Verkehrsunfälle. Die österreichische Wirtschaft kostet die Übermüdung von Mitarbeitern pro Jahr etwa vier Milliarden Euro durch Produktivitätsminderung und Arbeitsunfälle.

Heute geht die Schlaffforschung davon aus, dass Erwachsene sieben bis acht Stunden Schlaf brauchen, um ausgeruht zu sein. Der Schlafbedarf ist allerdings individuell und genetisch unterschiedlich. Es gibt Menschen, denen sechs Stunden Schlaf genügen - und die womöglich schlechter schlafen, wenn sie sich acht Stunden ins Bett legen, erklärt die Wiener Psychologin Brigitte Holzinger, die auch Schlafseminare und Schlafcoaching anbietet. Umgekehrt lässt sich der Körper auch nicht mit Koffein und anderen Wachmachern austricksen. Holzinger zufolge nehmen Schlafqualität und -dauer im Alter ab, aber nicht in dem Ausmaß, von dem man bisher ausging. "Dass alte Menschen oft tagsüber dösen und nachts schlaflos herumgeistern, hat nicht unmittelbar mit dem Alter zu tun, sondern deutet eher auf eine Depression oder eine hirndegenerative Erkrankung wie Demenz hin."

Übermüdeten Teenagern im Klassenzimmer könnte eine Umstellung des Schulbeginns von acht auf neun Uhr helfen. Holzinger empfahl dies schon vor 25 Jahren. Erstmals wies eine 2018 veröffentlichte Studie über Schüler an einer Schule in Seattle in den USA mit Zahlen nach, dass ein nahezu eine Stunde späterer Schulbeginn die Schlafdauer der Schüler um durchschnittlich 34 Minuten verlängert, was deutlich bessere Noten und erhöhte Aufmerksamkeit nach sich zieht.

Damit die Eltern mit der Betreuung keine Probleme bekommen, müssten ihre Arbeitszeiten flexibler werden. In österreichischen Unternehmen wird jedoch nur langsam umgedacht. Nickerchen wie in China sind meist tabu, obwohl schon ein paar Minuten Auszeit einen großen Erholungseffekt haben können; Holzinger empfiehlt Nickerchen von 20 bis 30 Minuten. Betriebe wie die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) haben wegen der Schichtarbeit Schlafstätten, die theoretisch auch für eine kurze Auszeit genutzt werden könnten. "Ob die Mitarbeiter wagen würden, dort tatsächlich ein Nickerchen zu machen, sei dahingestellt", sagt Holzinger. Es könnte ja sein, dass die Kollegen darüber witzeln.

In echten "Nickerchen-Kulturen" ist der Nachtschlaf meist kürzer als in westlichen "Acht-Stunden-Kulturen". Die Gesamtschlafdauer ähnelt sich jedoch weltweit. Bevor die Elektrizität die Nacht zum Tag machte, schliefen unsere Vorfahren in zwei Blöcken von etwa vier Stunden. In den ein, zwei Stunden dazwischen lasen sie, erzählten einander Geschichten, zeugten Kinder oder beteten. Experimente haben gezeigt, dass Menschen heute, wenn sie über mehrere Wochen täglich 14 Stunden in kompletter Dunkelheit verbringen, wieder diesen vorindustriellen Zwei-Phasen-Schlaf annehmen.

"Das neue Übergewicht"

Möglicherweise liegt auch eine Art Winterschlaf in der Natur des Menschen. Bis der elektrische Strom in den 1960er Jahren zur Volksgruppe der Inuit kam, schliefen diese im dunklen arktischen Winter 14 Stunden pro Nacht - im Sommer aber nur sechs.

Wer nur nachts schläft, hat tagsüber zwischen 13 und 15 Uhr ein Tief. Blöd zum Beispiel für Profifußballer, die oftmals genau dann leistungsfähig sein müssen. Glaubt man Klatschblättern, schläft der Portugiese Cristiano Ronaldo daher auf Anraten seines Schlaf-Coachs statt acht Stunden am Stück über den Tag verteilt fünfmal 90 Minuten. Die Optimierung des eigenen Schlafs wird in Zukunft vermutlich auch für die Durchschnittsbevölkerung zu einem zentralen Pfeiler der Gesundheitsvorsorge. Mediziner, Soziologen und viele Ökonomen sind sich einig: Übermüdung wird das neue Übergewicht.

Die deutsche Kurstadt Bad Kissingen entwickelt sich präventiv zur weltweit ersten ChronoCity, unter anderem mit flexiblen Zeiten in Schulen und im Kurbetrieb. Krankenkassen fördern immer neue Meditations- und Entspannungstechniken - der Markt ist riesig, auch für neue Gadgets und Apps. Armbänder, die den Schlaf vermessen, und Apps, die den Schlafenden in einer Leichtschlafphase wecken, sind bereits alte Hüte. Sachte schwappt auch der Entspannungstrend ASMR aus den USA nach Europa: Bei Autonomous Sensory Meridian Response flüstern meist perfekt geschminkte junge Frauen hypnotisch in hochempfindliche Mikrofone, hauchen beruhigende Sätze oder knistern, kratzen, klackern und reiben mit ihren langen Fingernägeln auf den verschiedensten Materialien, manchmal auch auf Designerhandtaschen oder Tastaturen, für die sie werben.

Unser Grundproblem ist: Je mobiler wir werden, desto mehr des fehlenden Nachtschlafs müssten wir tagsüber (und auch in der Öffentlichkeit) nachholen. Zum Beispiel in Schlafkapseln, wie sie jetzt schon an einigen großen Flughäfen stehen. Aber auch in Bussen, Büros und auf Parkbänken. Schlaf wäre dann kein Privatissimum mehr. Es muss ja trotzdem nicht gleich der Schoß des S-Bahn-Nachbarn sein - oder das Musterbett von Ikea.

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Hinweise:

Brigitte Holzinger und Gerhard Klösch: "Schlafstörungen"
(Springer Verlag, 2018).

www.schlafcoaching.org
www.traum.ac.at