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Wenn Kinder lügen

Von Monika Jonasch

Reflexionen
Wann ist eine Lüge eine Lüge?
© AdobeStock

Alle Menschen lügen, täglich, mehrmals. Wenn Kinder lügen,
ist das Entsetzen aber meist groß. Kleinkinder können jedoch
tatsächlich flunkern, ohne zu lügen …


"Hilfe! Mein Kind lügt!", trompetet die Schlagzeile. In Elternforen im Internet tauschen sich die Erziehungsberechtigten aus, sie sind verzweifelt, hinterfragen ihre Erziehungsmethoden, jammern über Vertrauensverlust, diskutieren über die besten Strafen. "Diese Jugend von heute!" schwingt wieder einmal als Tenor mit.

Über das Wesen der kindlichen Lüge hingegen spricht man nur selten. Denn da müsste man tiefer blicken, bis in die Entwicklungspsychologie des Menschen und würde schnell feststellen: Lügen gehören zur menschlichen Entwicklung dazu. Sie sind für uns Erwachsene ein ganz selbstverständlicher Bestandteil unseres Lebens – Exit-Strategien aus peinlichen Situationen, kleine Fluchten aus emotionalen Fallen, Höflichkeitsstrategie und sozialer Kitt. Bei Kindern, insbesondere bei kleinen Kindern, muss man auch gar nicht so schockiert sein, wenn sie einmal die Unwahrheit sagen. Um Lügen handelt es sich bei den Minis nämlich nicht wirklich.

Lüge ist nicht Lüge

Genau genommen können Kinder erst ab einem bestimmten Alter lügen, erläutert uns Dr. Gerlinde Lunzer, klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin, im Gespräch in ihrer Praxis. "Bis zum Alter von vier, fünf Jahren befinden sich Kinder in der Phase des magischen Denkens. In dieser unterscheiden sie nicht zwischen tot oder lebendig. Ein Tisch, der im Weg steht, an dem sie anstoßen, sich wehtun, ist dann ein böser Tisch. Ihre Fantasie macht alles lebendig, und alles was denkbar ist, ist für sie auch Realität."

Die eigene Fantasie und die Wirklichkeit werden in der magischen Phase immer wieder einander gegenübergestellt, in Spielen, typischerweise Rollenspielen, werden sie laufend abgeklopft. Dass es Grenzen gibt, das wissen die Kleinen zwar, sonst könnten sie ja nicht aus dem Spiel aussteigen, aber diese sind noch nicht richtig greifbar, erklärt die Psychologin.

Moral und Schokolade

Auch die Moral von richtig und falsch ist noch ein dehnbarer Begriff, Lunzer nennt ein Beispiel: "Die Eltern sagen ihrem Kind im Kindergartenalter, die Lade mit den Süßigkeiten darf es nicht aufmachen. Dann verlassen sie den Raum. Das Kind bleibt zurück und bekommt Appetit auf Süßes, es weiß um die Schublade. Der Impuls ist also, hinzugehen und sich etwas zu holen. Und genau das machen die meisten Kleinkinder in dieser Situation auch. Wenn dann die Eltern wieder ins Zimmer zurückkommen und fragen, ob es Süßigkeiten genommen hat, verneint das Kind. – Warum? Für Moral und Regeln sind die Eltern zuständig, wenn sie nicht da sind, gibt es nur noch den Impuls. Und erst wenn sie zurückkommen, erinnert sich das Kind wieder an die Regel. Dann meinen die Eltern, das Kind lüge, womöglich hat es sogar noch Schokolade um seinen Mund verschmiert!", amüsiert sich die erfahrene Kinderpsychologin über diese typische Situation.

"Erst im Alter von etwa sieben Jahren wechseln die Kinder in die nächste Entwicklungsphase, die kognitive Phase. Mit dem konkreten Denken beginnen sie zu unterscheiden, was Fantasie und was Realität ist. Regeln werden wichtig. Davor kann man nicht von Lügen sprechen, denn das Kind unterscheidet ja nicht zwischen eigener Wahrnehmung und Realität.", erläutert Gerlinde Lunzer.

"Eine Lüge ist eine bewusst falsche Aussage, welche dazu dient, durch die Täuschung bestimmte Ziele zu erreichen." So steht es jedenfalls im Lehrbuch der speziellen Kinder- und Jugendpsychiatrie (Harbauer, Lempp, Nissen, Strunk). – "Bewusst und absichtlich, das ist wichtig, erst dann handelt es sich um eine Lüge", ergänzt Lunzer. "Deswegen kann man in der magischen Phase ja auch nicht von Lügen sprechen, weil die Kinder das nicht absichtlich machen. Sie können noch nicht über ihr Verhalten reflektieren. Daher ist es auch sinnlos, sie zu fragen, warum sie gelogen haben. Kinder leben im Hier und Jetzt. Um zu lügen, muss man sich aber die Zukunft vorstellen können, um die Gegenwart manipulieren zu können."

Regeln und Vorbilder

Erst im Grundschulalter werden Regeln auch gültig, wenn kein Erwachsener anwesend ist. Bei Spielen wird dann auch intensiv diskutiert, was erlaubt ist und was nicht. Regelverstöße werden in dieser Phase unter Kindern streng verurteilt. Die Impulskontrolle beginnt, gelingt aber immer noch oft nur mit Hilfe der Erwachsenen. Dennoch, mit etwa zehn Jahren beginnen Kinder zu erkennen, dass Regeln Hilfen sind, und das gefällt ihnen sogar.

"Jede Verhaltensauffälligkeit bei einem Kind ist jedoch ein Hilferuf nach außen. Und wenn Kinder lügen, dann hat das Ursachen, die mit den Erwachsenen zusammenhängen. Eltern sind die wichtigsten Vorbilder und Orientierungshilfen für ihre Kinder", mahnt die Therapeutin. "Dabei orientieren sich die Kleinen weniger am Gesagten oder Gehörten, sondern an Mimik, Gestik und Gefühlen. Erwachsene unterschätzen immer wieder, wie genau Kinder sie beobachten. Immerhin ‚lesen‘ diese ihre Eltern seit ihrer Geburt. Und Kinder halten uns eben auch einen Spiegel vor. – Das ist nicht immer nur angenehm", lächelt sie leise.

Fatale Notlügen

Eine typische Situation: Mama telefoniert mit Oma, will das Gespräch beenden und erklärt, Gäste würden erwartet und sie hätte keine Zeit mehr zu reden. Das Kind steht daneben und weiß genau, dass gerade niemand zu Besuch kommt. "Da beginnen Kinder an der Kompetenz der Eltern zu zweifeln. Gelten die Regeln nun oder nicht? So eine Notlüge ist ein echtes Eigentor", erzählt die Psychologin.

Was aber sollten die Eltern nun in dieser Situation tun? "Den Fehler zugeben, erklären, warum man das so gemacht hat, dass man es besser hätte machen sollen."

Bewusstes Lügen und Schwindeln sind für Gerlinde Lunzer dennoch ganz unterschiedliche Kaliber. "Schwindeln, das ist so ein spontaner Gefühlsausweg, um in einer Krise wieder die Oberhand zu bekommen, keine große, länger geplante Aktion wie eine handfeste Lüge", meint sie.

Immerhin sind echte Lügen intellektuelle Meisterleistungen. Um die Wahrheit manipulieren zu können, muss man sie nämlich erst einmal kennen. Dann muss man die Lüge im Vorhinein planen, die Tatsachen so verdrehen, dass sie dem eigenen Zweck dienlich sind, vom Gegenüber aber auch noch akzeptiert werden können. Dafür wiederum muss der Lügner sich in sein Gegenüber hineinversetzen können, seine Mimik, Gestik und Sprache entsprechend anpassen können und die verräterischen Spuren verwischen. All das ist ein unglaublicher Aufwand, den Kinder auch im Grundschulalter noch nicht perfekt beherrschen. – Daher ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass man ihnen noch recht leicht auf die Schliche kommt.

Strafen bringen nichts

Aber warum lügen Kinder eigentlich? Hauptsächlich, um Bestrafung zu vermeiden und um so zu erscheinen, wie es sich die Eltern wünschen, da sind sich die Experten mittlerweile einig. Wenn nun also ein Kind dabei erwischt wird, dass es lügt und dafür bestraft wird, setzt sich ein wahrer Teufelskreis in Bewegung: Aus Angst vor Strafe wird noch mehr gelogen. Unangenehme Wahrheiten, die ans Tageslicht gelangen, lösen ja Strafen aus, haben die Kinder gelernt. Strafen bringen also genau gar nichts, im Gegenteil, sie machen es noch schlimmer, warnt Gerlinde Lunzer.

Die extrem emotionalen Reaktionen vieler Eltern auf die Lügen ihrer Kinder erklärt sie damit, dass wir alle dann besonders empfindlich sind, wenn uns ein Spiegel vorgehalten wird. Die Ursachen für die Lügen des eigenen Kindes bei sich selbst zu suchen, ist eben viel unangenehmer als ein Fernseh- oder Handyverbot auszusprechen. Auch die Angst vor dem Verlust der kindlichen Unschuld und der drohende Vertrauensverlust spielen dabei eine Rolle, erläutert Lunzer Erfahrungen aus der eigenen Praxis. "Und die meisten von uns werden dabei auch mit den eigenen kindlichen Erfahrungen mit Lügen konfrontiert, erinnern sich an die Reaktion ihrer eigenen Eltern." Aus dieser emotionalen Altlast auszusteigen und zu reflektieren, ist auch für Erwachsene nicht einfach.

Strafen sind jedoch nicht nur in Sachen Lügen problematisch, weiß sie. "Kinder, besser gesagt Menschen im Allgemeinen, brauchen Aufmerksamkeit. Kinder tun alles, um diese von ihren Eltern zu bekommen. Negative Aufmerksamkeit ist besser als gar keine, also machen sie dann eben Quatsch, nur damit sich ihre Eltern um sie kümmern."

Ein Ausweg ist hier das Belohnen von positivem Verhalten mit entsprechender Zuwendung. So wird richtiges Verhalten verstärkt und die Kinder müssen nicht mehr lügen oder anderes Fehlverhalten zeigen, um zu bekommen, was sie wirklich brauchen: die Aufmerksamkeit ihrer Eltern.

Klingt bestechend einfach, ist es aber nicht, weiß die Therapeutin aus langjähriger Erfahrung. "Ignoranz, ausgeschlossen zu werden und ganz besonders Liebesentzug sind die schlimmsten Strafen für alle Menschen, insbesondere für Kinder. Und Bestrafung ist auch immer ein Zeichen von Hilflosigkeit der Erwachsenen."

Wie reagiert man nun aber richtig? "Grundsätzlich ist es schwierig für ein Kind, immer genau zu wissen, was richtig ist. Das ist schließlich ein Lernprozess, der begleitet werden muss. Was wäre das richtige Verhalten gewesen, das muss geklärt werden. Die Aufmerksamkeit muss auf das richtige Verhalten gelenkt werden, nicht auf das falsche."

Zu glauben, dass es nur die eine wahre Realität gibt, sei aber ohnehin falsch, gibt sie abschließend noch zu bedenken. Die eigene subjektive Wahrnehmung inklusive Gefühle müssten auch Erwachsene laufend mit der äußeren Realität abgleichen. Sie sind sich dessen aber meist nicht bewusst. Gerade dieses Bewusstsein würde aber zu mehr Verständnis für den noch unsicheren Umgang der Kinder mit diesen Diskrepanzen des Lebens führen.

"Und bitte niemals vergessen: Die wichtigsten Vorbilder für die Kinder sind immer die Eltern, später auch die Lehrer, Mitschüler und Freunde. Letztlich reagieren Kinder auf das, was ihnen vorgelebt wird."