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Kultur der Differenzierung

Von Jens Kastner

Reflexionen

Pierre Bourdieus soziologischer Klassiker "Die feinen Unterschiede" löst bis heute heftige Diskussionen aus.


Die Distinktion ist eine wertende Unterscheidung. Dass etwa Golf besser ist als Tennis, Lachs besser als Hering, Guthrie wertvoller als Gabalier - und ein Rembrandt immer noch mehr wert ist als die tollste Videoperformance der Gegenwartskunst. Nur als Beispiele.

Die ganze soziale Welt ist ein einziges Konstrukt aus Distinktionen solcher Art. Wir verstehen den Wert einer Sache nicht, wenn wir sie nicht in Beziehung setzen zu dem, neben dem sie existiert. Und wir verstehen das Tun nicht, wenn wir nicht sehen, wogegen es sich abgrenzt. Das gilt für die konzeptuelle Kunst in Abgrenzung zur Malerei ebenso wie für bestimmte Freizeitaktivitäten oder Essgewohnheiten.

Distinktionen verstehen heißt deshalb, einen Einblick in gesellschaftliche Zusammenhänge zu bekommen. Und mehr noch: Distinktionen zeigen Herrschaft an. Denn in der abgrenzenden Praxis werden die Grenzen zwischen den sozialen Klassen immer wieder erneuert. Eines der wichtigsten Werke des Soziologen Pierre Bourdieu hieß "La Distinction", es erschien im Original 1979, also vor vierzig Jahren. Drei Jahre später als "Die feinen Unterschiede" auf Deutsch publiziert, gehört es mittlerweile zu den Klassikern der modernen Soziologie.

Kritik von links

Bourdieus Buch ist zugleich empirische Studie und gesellschaftstheoretischer Entwurf. Die Studie ist eine Zeitdiagnose der französischen Gesellschaft der 1970er Jahre. Sie beansprucht aber auch, allgemeingültige Antworten auf generelle Fragen zu geben: Wa-rum ist Gesellschaft relativ stabil? Wie konstituieren sich Klassen? Warum kommt es nicht häufiger zum Aufstand?

Die Kritik an Bourdieus Werk, die einsetzte, kaum war es erschienen, füllt mittlerweile Regale. Sie nahm vor allem an drei Erkenntnissen aus Bourdieus Studie Anstoß: Die erste Kritik setzte - vor allem vonseiten linker Intellektueller - an der ernüchternden Analyse der Beherrschten an.

1982 erstmals auf Deutsch erschienen . . .

Laut Bourdieu lauert in den unteren Klassen nicht das revolutionäre Potenzial, das die Linke immer dort vermutet hat. Im Gegenteil, durch die Notwendigkeiten des Alltags geprägt, verträten die unteren Klassen im Wesentlichen einen "Notwendigkeitsgeschmack". Menschen aus der Arbeiterklasse tendieren demnach viel eher dazu, das gut zu finden, was sie vorfinden. Sie richten sich viel eher im Praktischen ein, als aufzubegehren. Alles orientiert sich letztlich am Geschmack der herrschenden Klassen.

Der viel gepriesene "proletarische Lebensstil" und die "Arbeiterkultur" seien nichts anderes als eine zur Tugend gemachte Not. Eine Not, die, wie Bourdieu Marx zitierend deutlich macht, durch den Stempel entsteht, mit dem die kapitalistische Arbeitsteilung die Arbeiterinnen und Arbeiter "zum Eigentum des Kapitals brandmarkt" (Marx). Dagegen wurde vor allem von den Cultural Studies, der Labour History und den antiimperialistischen linken Bewegungen argumentiert, die an der Widerständigkeit der Beherrschten festhielten.

Zweitens richtete sich die Kritik vor allem auf die Beispiele. Sie seien schon überholt gewesen, kaum war das Buch draußen, denn die Befragungen, auf denen es beruht, stammen aus den 1960er und frühen 1970er Jahren. Schon die von Bourdieu nur am Rande erwähnten Revolten von 1968 hätten Sitten und Gebräuche dermaßen durcheinandergewirbelt, dass mit der Kleiderordnung gleichsam auch die gesellschaftliche Ordnung flexibler geworden sei.

Die dritte Kritik setzt an den allgemeinen Dynamiken von Herrschaft an. Die im Alltag gelebte Distinktion sei bei Weitem nicht so entscheidend für die Stabilität der Verhältnisse wie etwa ökonomische Zwänge und die Kulturindustrie. Diese zweite und dritte Kritik wird im deutschsprachigen Raum heute von Vertretern der Kritischen Theorie erneuert.

Der Philosoph Gernot Böhme etwa sieht in seinem Buch "Ästhetischer Kapitalismus" (2016) zwar auch eine "Wiederkehr des Geschmacks als sozialer Distink-
tionsstrategie". Allerdings verliefen die Abgrenzungen nicht mehr zwischen vertikal angeordneten Klassen, "sondern horizontal zwischen Gruppen aus den jeweils selben Schichten".

Jugend-Subkulturen

Am Beispiel jugendlicher Subkulturen, meint Böhme, ließe sich zeigen, dass es eine "Auflösung von Hierarchien durch diese neuen Formen ästhetischer Distinktion" gebe: Die Hippies haben die entlegensten Mittelmeerstrände für den Tourismus erschlossen, Punks fungieren als Trendsetter der Mode, Künstlerinnen und Künstler werten die heruntergekommenen Stadtviertel auf. Alles steht unter dem Zeichen der Kulturindustrie: Sie "greift Distinktionsmerkmale einer Gruppe auf, macht sie zur Ware und stellt sie damit jedermann zur Verfügung", meint Böhme.

Ähnlich argumentiert die Soziologin Christine Resch. Auch sie sieht eine Auflösung von Hierarchien und stattdessen die allgemeine, gleichmachende Tendenz der Kulturindustrie walten. In ihrem Buch "Schöner Wohnen: Zur Kritik von Bourdieus ,feinen Unterschieden‘" (2012) versucht sie am Beispiel von Wohnungseinrichtungen aufzuzeigen, dass Geschmack sich nicht in Abgrenzung zwischen Klassenpositionen entwickle, sondern "zu einem erheblichen Teil durch das kulturindustrielle Angebot" hergestellt wird. Bezogen auf die Gegenwartsgesellschaften der letzten Jahrzehnte behauptet sie deshalb, der "‚legitime‘ Geschmack verlor rasant an Verbindlichkeit".

Das Argument ist einfach: Die Kulturindustrie mache ohnehin alles zur Ware - und die kulturellen Unterscheidungen seien daher "nicht mehr in einer gesellschaftlichen Hierarchie" (Böhme) zu werten. Aber ist diese Argumentation auch einleuchtend? Der Mensch in der Kulturindustrie tendiert bloß noch dazu, "fungibel, ein Exemplar" zu sein, wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1944 unter dem Eindruck von Nationalsozialismus und Hollywood-Film schrieben.

Aber schließt das den Wunsch, den kollektiven Drang oder auch die ökonomische Notwendigkeit, anders zu sein, wirklich aus? Wohl kaum. Sonst bräuchte es keine Pionierleistung von Subkulturen für Tourismus, Mode und Stadtentwicklung.

Der Gleichmacherei-These der Kritischen Theorie müsste entgegengehalten werden, dass Differenzen im Lebensstil kulturell betont und ökonomisch ausgeschlachtet werden wie nie zuvor. Es gibt eben doch sehr unterschiedliche Waren mit sehr verschiedenen Effekten. Und dabei bringen durchaus die Distinktionen, wie Bourdieu schrieb, die faktischen sozialen Unterschiede, "Ränge, Ordnungen, Grade und sonstigen symbolischen Hierarchien" zum Ausdruck.

Auch die Annahme, mit der Kulturindustrie würden kulturelle Hierarchien eingeebnet und für Herrschaft bedeutungslos, erweist sich als falsch. Die Hierarchien haben sich keineswegs aufgelöst. Eine Distinktion, die nicht auch wertet, ist schon theoretisch kaum vorstellbar. Aber auch praktisch haben sich die sozialen Hierarchien als sehr resistent erwiesen. Punks mögen die Mode inspiriert haben, an die Spitze der Modeindustrie gelangt man als Punk jedoch nicht.

"Legitimer Geschmack"

Auch die sogenannte Kreativindustrie ist da kein Gegenbeispiel. Man ist zwar flexibler und mobiler als in der Bürozelle, dennoch sind es auch hier die Normen, Werte und Gewohnheiten der herrschenden Klassen, die zählen. Dabei ist selbstverständlich der "legitime Geschmack" inhaltlich nicht mehr derjenige, der in "Die feinen Unterschiede" noch beschrieben wurde. Der "legitime Geschmack" entwickelt sich schließlich auch weiter: kubanische Zigarren und Rolex-Uhren haben längst ihre Pendants gefunden, ebenso wie Tennis, nachdem die Mittelklasse in den 1970er Jahren die Klubs und Plätze stürmte.

Wer die Stabilität von Herrschaft heute verstehen will, darf sich nicht auf jene Stellen bei Horkheimer und Adorno kaprizieren, die die Wahl der Konsumgüter und Ideologien als "die Freiheit zum Immergleichen" ausweisen. Das viel zitierte Kapitel "Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug" aus der "Dialektik der Aufklärung" (1944) hat durchaus mehr zu bieten. Denn auch die Vordenker der Kritischen Theorie dachten das Soziale nie als unbewegliche, statische Angelegenheit. Die Existenz im Spätkapitalismus vollzieht sich dementsprechend nicht von selbst, sie muss eingeübt und ansozialisiert werden. Sie ist, wie Horkheimer/Adorno schreiben, "ein dauernder Initiationsritus".

Diese Übung sozialen Handelns wird praktisch erfahren und gelebt. Um das Moment der Praxis geht es nicht zuletzt auch Bourdieu. Er hat immer wieder betont, dass die "Anpassung an die objektiven Möglichkeiten" sich in körperlicher Praxis vollzieht. Und die unterscheidet sich nun einmal sehr danach, in welchen sozialen Verhältnissen man sich bewegt und zu Hause fühlt. Bis heute.

Wie aber nun Konformität und Anpassung durchbrochen oder gar überwunden werden können, dazu geben weder "Die feinen Unterschiede" noch das Kulturindustrie-Kapitel und seine Fans wirklich gute Hinweise.

Tagung zu Bourdieu in Wien
Anlässlich des 40-jährigen Erscheinens von "Die feinen Unterschiede" findet vom 13. bis 15. März 2019 eine Tagung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien statt. (In Kooperation mit dem Institut für Soziologie der Universität Wien, dem Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Akademie der bildenden Künste Wien, Mediacult und der ÖGS-Sektion "Soziale Ungleichheit".)
www.mdw.ac.at

Jens Kastner, geboren 1970, Soziologe und Kunsthistoriker, lebt als freier Autor und Dozent in Wien.