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Von Engeln zu Kosmonauten

Von Jens Malling

Reflexionen

Tausende Wandmosaiken wurden in den 1960er bis 80er Jahren in der atheistischen UdSSR erstellt.


Mosaik am Bahnhof von Nischni Nowgorod (vormals Gorki).
© Jens Malling

Die Christen und Kommunisten des Ostblocks teilen die Begeisterung für eine faszinierende Kunstform: die Mosaiken. Das steht in diesem Jubiläumsjahr des Mauerfalls fest. 30 Jahre nach dem Ereignis wird diese Kunst wieder zum Leben erweckt. In der Sowjetunion waren Mosaiken als Kunstform von Mitte der 60er bis Anfang der 80er Jahre weit verbreitet. Die besten Künstler schmückten in der gesamten UdSSR öffentliche Räume mit großflächigen Mosaiken.

Die Sowjetunion war ein atheistischer Staat. Die marxistisch-leninistische Ideologie ersetzte die Religion. Doch eine reiche christliche Tradition bot die Grundlage des "Mosaikenbooms" im Arbeiter-und-Bauernstaat. Diese christliche Inspirationsquelle lässt sich nach Ansicht der Kunsthistorikerin Nini Palavandishvili in den Motiven, der Technologie, dem Material wie auch in der Funktion finden.

"Künstler haben vor rund 4000 Jahren die ersten Mosaiken der Welt gelegt. Aber die Kunstform erlebte eine Blütezeit im Byzantinischen Reich, in dem das Christentum Staatsreligion war. Vom sechsten bis zum fünfzehnten Jahrhundert bildeten Mosaiken mit christlichen Motiven einen wesentlichen Bestandteil der byzantinischen Kultur", sagt die 42-jährige Mosaikexpertin, als wir sie vor einem der farbenfrohen sowjetischen Kunstwerke in einem Park der georgischen Hauptstadt Tiflis treffen.

Mosaik in der zentralrussischen Industriestadt Tula.
© Malling

Nini Palavandishvili erforscht seit vielen Jahren sowjetische Mosaiken und deren Geschichte. Sie hat mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht. Das letzte - "Georgien. Baubezogene Kunst: Mosaiken der Sowjetmoderne 1960 bis 1990" - wurde 2018 publiziert. Und in diesem Jahr veröffentlicht sie (auf Englisch und Georgisch) das Buch mit dem Arbeitstitel "Mosaics of the Soviet period in Georgia" (siehe Literaturangaben).

"Insbesondere in der sowjetischen Unionsrepublik Georgien entfalteten die Mosaikbastler ihren Einfallsreichtum. Sie schmückten u.a. U-Bahnhöfe, Kurhotels, Fabriken und Universitäten. Die Mosaiken stellten ein Medium für die politischen Botschaften dar, die die sowjetischen Behörden vermitteln wollten", sagt Palavandishvili, die zusammen mit einer Gruppe von Fotografen bereits mehr als 200 Werke in ihrem Heimatland im Kaukasus kartografiert und dokumentiert hat.

Christliche Ikonografie

Georgien nahm das Christentum als Staatsreligion bereits im vierten Jahrhundert an. Als das Land im 12. Jahrhundert eine Glanzzeit unter König David und Königin Tamar erlebte, wurden enorme Ressourcen - mit Inspiration vom benachbarten Byzanz - investiert, um Klöster und Kirchen mit Mosaiken zu verzieren.

Nini Palavandishvili holt ihr neues Buch aus der Tasche. Eifrig blättert sie durch die Seiten und findet ein Mosaik, das eine Kosmonautin darstellt. Eines der besten Beispiele, wie sowjetische Künstler christliche Ikonografie verwendeten. Anstatt Engel, Heilige, Gott oder Jesus zu feiern, idealisierte man die Errungenschaften der UdSSR und die Fähigkeiten des Proletariats: "Das Motiv der Weltraumheldin hier ist eine moderne Darstellung einer berühmten Abbildung von Königin Tamar, die sich im Kloster Wardsia im südlichen Georgien befindet. Statt jedoch eines Heiligenscheines um den Kopf trägt die Kosmonautin einen Weltraumhelm. Aber ikonografisch gesehen sind die beiden Frauen fast gleich", erklärt die Mosaikexpertin.

Mosaik im ukrainischen Lemberg.
© Malling

Georgien war keineswegs die einzige Sowjetrepublik, in der sich der Mosaikenboom durchsetzte. Die faszinierenden Kunstwerke tauchten überall in der UdSSR auf. Der ukrainische Fotograf Yevgen Nikiforov hat kürzlich ihre große Verbreitung in seinem Herkunftsland dokumentiert. Die sowjetisch-ukrainischen Mosaikenhersteller führten eine besondere ukrainisch-orthodoxe Tradition fort. Für sie mag besonderes ein berühmtes Mosaik aus dem 11. Jahrhundert in der Sophienkathedrale von Kiew als Vorbild gegolten haben. In zentraler Lage des Gebäudes zeigt es mit tausenden goldenen Miniaturkacheln die Jungfrau Maria in der Orantenhaltung (= Körperhaltung beim Gebet, mit ausgebreiteten Armen; Anm.)

Auch in anderen Ländern des Warschauer Paktes, zum Beispiel der DDR oder der Tschechoslowakei, waren Mosaiken beliebt. In ihrer Studie hunderter sowjetischer Mosaiken in Georgien, von denen viele wie epische Kompositionen anmuten, entdeckte Nini Palavandishvili noch etwas Interessantes.

"Zu meiner Überraschung fand ich in mehreren Arbeiten Abbildungen von Kirchen. Klein oder groß, vielleicht irgendwo in der Ecke versteckt, sind sie oft zu sehen - trotz der Tatsache, dass die UdSSR Gotteshäuser abriss und Religion verbot. Aber in den frühen 80er Jahren zeigte das System Schwächen, der Nationalismus spross in vielen Unionsrepubliken. Zu dieser Zeit tauchten Kirchen in vielen Mosaiken auf", erklärt die Expertin.

Verfall der Werke

Die Relevanz ihrer großen Arbeit, auf diesen wichtigen Teil der Kunstgeschichte aufmerksam zu machen, wird durch den schrecklichen Verfall der Werke und die Gleichgültigkeit ihnen gegenüber in der postsowjetischen Ära unterstrichen. "Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die Mosaiken aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation vollkommen vernachlässigt: Archive verbrannten, Informationen verschwanden, Urheber der Werke verstarben. Die Kartierung und das Dokumentieren der Mosaiken war äußerst schwierig", erzählt Palavandishvili.

Viele Mosaiken in den ehemaligen Sowjetrepubliken seien für immer verloren: aufgrund der Unwissenheit ob ihres künstlerischen Wertes, und weil das Geld fehle, um sie zu sichern, betont sie. "Leider besteht weder in der Öffentlichkeit noch in der Politik Interesse, die Mosaike zu bewahren. Mit den Büchern, den Ausstellungen und den Fotoprojekten versuchen wir, das Thema einem größeren Publikum zugänglich zu machen, die Kunstwerke in einen historischen und kulturellen Kontext zu bringen, ihre Schönheit und Bedeutung zu zeigen - und hoffentlich zu ihrem Erhalt und ihrer Restaurierung beizutragen."

Mosaik: Bild oder Ornament, zusammengesetzt aus farbigen Steinen oder Glasstücken. Das Wort Mosaik bedeutet ursprünglich "den Musen gewidmet".

Sowjetunion: 1922 gegründet, bestand vor der Auflösung 1991 aus 15 Unionsrepubliken: Armenien, Aserbaidschan, Estland, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Lettland, Litauen, Moldawien, Russland, Tadschikistan, Turkmenistan, der Ukraine, Usbekistan und Weißrussland.

Literatur:
Yevgen Nikiforov: Decommunized: Ukrainian Soviet Mosaics. DOM Publishers, 2017.

Nini Palavandishvili und Lena Prents: Georgien. Baubezogene Kunst. Mosaiken der Sowjetmoderne 1960 bis 1990. DOM Publishers, 2018.