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Die Königin der Streichinstrumente

Von Katharina Hirschmann

Reflexionen
Rainer Ullreichs Rekonstruktion einer frühen Violine nach Gaudenzio Ferrari, ca. 1530.
© Ullreich

Eine sinnlich-technische Expedition in die Geschichte des Geigenbaus.


Wer den Geigenklang von Kindheit an im Gehör hat, weiß: Was eines Tages im Musikverein so selbstverständlich gut klingt, bedeutet jahrelange mühsame Arbeit des Musikers, aber auch eine gute Portion Stressresistenz seitens der Eltern. Die Geige trägt den Titel Königin der Streichinstrumente daher zu Recht - nicht nur, weil das Spiel auf ihr als höchste Kunst gilt, sondern auch, weil ihr filigraner und doch eindringlicher Klang seinesgleichen sucht.

Wer das Privileg hat, regelmäßig den Geigenklängen etwa der Wiener Philharmoniker zu lauschen, stellt sich auch einmal die Frage, woher denn eigentlich diese Instrumente kommen, die die Streicher so kunstvoll bespielen. Namen aus dem historischen Geigenbau wie A. Stradivari, G. B. Guadagnini oder G. Lemböck tauchen auf, aber auch Namen von Zeitgenossen wie Stephan von Baehr oder Andreas Hellinge. Und rasch ist man bei einem Thema gelandet, das zuerst schwierig im Zugang erscheinen mag, jedoch, wenn man sich einmal darauf eingelassen hat, einige Überraschungen zu bieten hat.

Wie in allen Künsten gibt es auch hier grundlegende Unterschiede in der Methodik der Herstellung. So wie Orchester nicht gleich Orchester ist, ist Geige nicht gleich Geige, wenn auch das Instrument seit ziemlich genau 500 Jahren in dieser Form existiert und sich - zumindest die äußere Form betreffend - seither relativ wenig verändert hat.

Pionier Amati

Für das sich ab 1508 entwickelnde Streichinstrument setzt sich im Laufe des 16. Jahrhunderts der Begriff "Violine" durch. In früheren Quellen finden sich auch "lira", "viola" oder "violetta", und zur Unterscheidung von der "Viola da gamba" (also Kniegeige) wurde auch der Begriff "Viola da braccio" (also Armgeige) angewendet.

Die frühesten erhaltenen Instrumente dieser Violin-Familie stammen aus den 1560er Jahren und sind jene aus der Hand von Andrea Amati (ca. 1505-1577), der als großer Meister seines Fachs galt. Diese prächtig verzierten Instrumente (heute weiß man, dass die Bemalungen außer Haus auf die fertigen Instrumente aufgebracht wurden) dienten als Vorlage für alle weiteren Entwicklungen dieser Epoche. Zeitgenössische Schriftquellen wie Steuerregister oder Reisebeschreibungen ergänzen das Bild von der Verbreitung dieser neuen Generation von Streichinstrumenten.

Alles was sich im Geigenbau vor 1500 abgespielt hat (bei den Violinen des Mittelalters spricht man von der Fidel), ist schon schwieriger nachzuverfolgen. Die Herstellung sowie die damaligen Formen müssen anhand von Darstellungen in Gemälden, Deckenfresken, Intarsien oder aus archäologischen Funden rekonstruiert werden, denn es gibt aus der Frühzeit bis kurz nach 1500 keine erhaltenen Instrumente. Das einzige erhaltene Streichinstrument aus dem 15. Jahrhundert ist die Violetta der Hl. Caterina von Vigri, das in fast allen Teilen original erhalten ist und in einem Kloster in Bologna verwahrt wird (ebenso wie die Hl. Caterina von Vigri selbst, die ebendort in mumifizierter Form zu bestaunen ist). Sie, also die Violetta, stellt jedoch ein Unikat dar, das nur bedingt als Vorbild für einen Nachbau dienen kann.

Auf die Spuren dieser Streichinstrumente der frühen Stunde hat sich der Musiker, Instrumentenbauer und -forscher Rainer Ullreich begeben. Anhand von archäologischen Funden, die meist nur aus Instrumentenresten bestehen, baut er Geigen aus der Zeit vor 1500 nach und hat sich mittlerweile bis in die Neuzeit vorgearbeitet. Die Fidel, wie das Instrument damals genannt wurde, wurde noch aus einem einzigen Stück Holz gefertigt und diente zu dieser Zeit vor allem der Liedbegleitung, etwa wenn Minnesänger ihre Liebsten mit einem Ständchen zum Schmachten brachten. Als sich der Gesang dann zu mehrstimmigen Kompositionen hin entwickelte, wurde dieses Instrument schnell zu schwerfällig, um den Sängern noch zu folgen und der Komplexität ihres Gesangs zu entsprechen. Es musste also ein neues Streichinstrument her.

Archäologe des Klangs

Diese neuen, heute als Proto-Violinen bezeichneten Streichinstrumente kann man in Kunstwerken ab 1508 sehen. Diese Instrumente waren offensichtlich ebenfalls noch aus vollen Holzblöcken hergestellt, bald aber ging man zur neuen, aus Spanien stammenden Bauart über, bei der der Zargenkranz, also jener Teil, der außen um die Geige verläuft und Boden und Decke zusammenhält, extra gefertigt und anschließend mit Boden und Decke verleimt wurde.

In Gaudenzio  Ferraris "Madonna degli aranci" von 1529/30 spielen zwei Engel zu Füßen der Madonnai jene Violine, die als die früheste ihrer Art gilt (Ausschnitt).
© Archiv

In Darstellungen um 1530, allen voran jenen des Malers Gaudenzio Ferrari, kann man schließlich jene Instrumente erkennen, die wir heute als Violinen bezeichnen, wenn auch diese zunächst nur mit drei Saiten bezogen wurden. In Ferraris "Madonna degli aranci" von 1529/30 spielen zwei Engel zu Füßen der Madonna degli aranci eben jene Violine, die als die früheste ihrer Art gilt.

Es sind Zeitzeugnisse wie diese, die Rainer Ullreich interessieren, denn er spürt dem Originalklang von damals nach - und beschreibt seinen Zugang demnach als archäologischen. Denn seine Arbeit bleibt eine Forschung, basierend auf eben diesen Gemälden, Intarsien und Funden - der Rest ist Interpretation und Rekonstruktion, wie es der Archäologie zu eigen ist. Schwierigkeiten ergeben sich etwa dadurch, dass die Künstler der italienischen Hochrenaissance einen manieristischen, Proportionen absichtlich verzerrenden Stil pflegten. Fatal, vor allem wenn es, wie beim Geigenbau, um Geometrie geht.

Bei dem Ergebnis von Ullreichs Arbeit bleibt daher immer auch eine Portion Zweifel. Haben die Instrumente von damals so geklungen? Man wird es nie mit absoluter Sicherheit sagen können. Durch den Vergleich seiner Ins-trumente allerdings kann sich der Geigenbauer dennoch ein Bild machen - und ein Urteil fällen.

Ob er seine Vision in den heute zahlreich vertretenen Originalklang-Orchestern realisiert sieht bzw. hört? Hier wird er kurz verlegen, um dann doch zuzugeben: "Bei den Originalklangorchestern gibt es viel Mogelei." Warum das so ist? "In den 50er und 60er Jahren gab es noch echte Individualisten, die etwas verändern wollten, die sich noch etwas getraut haben. Über die Jahre hat sich dann aber leider die einfache Lösung durchgesetzt. Es werden immer öfter moderne Orchesterinstrumente mit zwei Darmsaiten versehen und als ‚Original-Instrument‘ verkauft. Da entsteht ein ganz anderer Klang."

Der Klang eines Originalklangorchesters ist tatsächlich ein anderer als der eines modernen Orchesters. Unabdingbar dafür ist das Spiel auf Darmsaiten, wenn auch nicht jeder sich dieser Herausforderung stellen mag.

Es ergibt sich daraus ein weiteres Problem in Ullreichs Arbeit, "denn wir müssen ja auch die Zuhörer erziehen. Die haben ganz andere Vorstellungen, damals waren das andere Klangwelten, das interessiert heute niemanden mehr." Dennoch hält Ullreich an seiner Herangehensweise fest, die Leidenschaft für alte Klänge hat ihn fest im Griff. Er sieht sich als Schnittstelle zwischen den Forschern am Schreibtisch und den Arbeitern an der Werkbank. Die Technik seiner Arbeit hat sich der Geigenbauer im Austausch mit beiden Seiten und mit eigener Forschung autodidaktisch angeeignet.

Der Schweizer Geigenbauer Andreas Hellinge.
© Benjamin Morrison

Autodidakt ist auch Andreas Hellinge, ein Schweizer Geigenbauer, der inzwischen in Barcelona stationiert ist. Bereits mit elf Jahren hat er seine erste Geige gebaut, wodurch sein eigenständiger und kreativer Zugang zur Materie früh geschärft wurde. Abgesehen davon, haben die zwei Herren wenig gemein. Denn wo Ullreich versucht, die vermuteten Klänge von damals wiederzubeleben, möchte Hellinge den heutigen Klang weiterentwickeln und verfeinern. Sein Ziel ist es, von einem "Wie haben die das damals gemacht?" zu einem "Was sind meine Vorstellungen?" überzugehen. Nur dann könne man im Hier und Jetzt ("und im Morgen") seinen Platz finden.

Sandwich-Konstruktion

Hellinge hat ein Griffbrett entwickelt und patentiert, das nicht nur die Spielweise verändert ("das Feedback ist sinnlicher"), sondern auch klangliche Vorteile bietet ("der Klang ist lebendiger"). Dabei arbeitet er mit der sogenannten Sandwich-Konstruktion, bestehend aus einem leichten Kern, der von stärkenden Fasern umgeben ist. Durch die Fasern können Eigenschaften des Griffbretts wie Resistenzen auf Verformungen eingestellt werden.

Der Kern übernimmt dabei die Aufgabe, die stärkenden Faserschichten bei Verformung auf Abstand zu halten. Der Vorteil dieser Sandwich-Konstruktionen ist der, dass eine hohe Resistenz gegenüber Deformierung gegeben ist, und das Gewicht gleichzeitig reduziert wird. Schließlich geht es immer auch darum, dass die Musiker mit ihrem Instrument mehrere Stunden am Stück der Schwerkraft trotzen müssen. Jedes Gramm weniger kann dabei eine Erleichterung sein.

Hellinge (2.v.r.) mit Musikerinnen und Musikern, die seine Instrumente spielen.
© Benjamin Morrison

Eine kurze Klangdemonstra-
tion bezeugt: Hier ist ein wahrer Profi am Werk. Der Klang ist tatsächlich voller, das Vibrato klingt, als würde es tiefer in die Geige eindringen und voller wieder herausströmen. Dass auch die Wiener Philharmoniker seine Instrumente entdeckt haben - zumindest fünf Musiker spielen bereits auf einer Hellinge-Geige -, gibt seiner Experimentierfreudigkeit recht.

Andere Elemente, bei denen es Veränderungspotenzial gibt, sind die Saiten, die gut am Griffbrett haften müssen (Stahlsaiten, Kunststoff- oder Darmsaiten, metallumsponnen oder unumsponnen, etc.), die mehr oder weniger ausgeprägte Wölbung der Decke und des Bodens, das Holz, das man verwendet (der Boden aus Ahorn, die Decke aus Fichte) und natürlich der Geigenbogen, der sich wie ein eigenes Instrument ausnimmt. Jede Tür zu einem dieser Einzelelemente öffnet zahlreiche weitere Türen, die für Geigenbauer allesamt zur Veränderung einladen. Eine Veränderung hin zu einem vollendeten Klang - der Vergangenheit oder eben der Zukunft.

Informationen:
www.earlyviolin.com (Ullreich)

Katharina Hirschmann, geboren 1986, arbeitet als freie Journalistin und Musikkritikerin.