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Übungsgelände für Flaneure

Von Alexander Peer

Reflexionen

Das Konzept der Begegnungszone gilt in Wien als Erfolgsmodell, auch was die Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft und Behörden betrifft.


Die Fußgängerzone ist seit den 1950er Jahren eine Idee, die über den protestantisch geprägten Raum gewissermaßen ihren Weg in die weite Welt gefunden hat. Bereits 1961 entstand in der Klagenfurter Kramergasse die erste Fußgängerzone Österreichs. 1971 wurde das Automobil vom Wiener Graben ausgeschlossen. Bilder aus den 60er Jahren zeigen noch Autokorsos und zugeparkte Seiten. 1974 gestalteten die Architekten Wilhelm Holzbauer und Wolfgang Windbrechtinger die Kärntner Straße zur Fußgängerzone um. Die Stadt entwickelte danach vor allem Grätzl, Liegenschaften und Plätze neu, allen voran das Museumsquarter (MQ).

In den Niederlanden kam in den 1970er Jahren der sogenannte Woonerf (Wohnhof) auf, ein Konzept zur Verkehrsberuhigung, das der gegenwärtigen Idee der Begegnungszone zugrunde liegt. Die Begegnungszone lässt sich deshalb als Spin-Off der Fußgängerzone verstehen. Die Kern-Qualitäten der Begegnungszone sind: Fließgeschwindigkeit von maximal 20 km/h, Nivellierung des Terrains, gleichwertige Einbeziehung aller Verkehrsteilnehmer, die Reduk-
tion von PKW-Abstellflächen sowie die Erweiterung der Stadt um eine behagliche Facette.

Mit einer Novelle der Straßenverkehrsordnung 2013 wurde das Konzept der Begegnungszone in die Überlegungen der urbanen Raumgestaltung in Österreich aufgenommen. Zwar war die Etablierung der Begegnungszone Mariahilfer Straße das, was man salopp und dennoch euphemistisch "eine schwere Geburt" nennen kann, aber parallel dazu entstanden in den letzten sechs Jahren in ganz Österreich eine Reihe von Begegnungszonen, die zur Verkehrsberuhigung und zur Aufwertung des öffentlichen Raumes geführt haben.

Beispiel Herrengasse

Seit 2016 ist auch die Herrengasse eine Begegnungszone. Geschuldet ist sie der Initiative Herrengasse+ und ihrem Gründer Wolfgang Spitzy. Als seit Jahren agierender Vertreter der Eigentümer des ersten Wiener Hochhauses war ihm die Rolle eines Sprechers bereits vertraut. Als Bewohner des Hauses hat er Leidensdruck im Alltag selbst verspürt.

"Es gab einen engen Gehsteig, der die Menschen eher dazu animiert hat, auf die Straße zu gehen, als sich aneinander vorbei zu zwängen", konstatiert der Jurist rückblickend. "Mir wurde schnell klar, dass man nur dann eine Chance hat, eine wirksame Veränderung im Straßenbild zu erzielen, wenn man eine größere Initiative bildet." Das Beispiel Herrengasse hat im ersten Bezirk bereits Begehrlichkeiten geweckt und einige Nachahmer motiviert: So entsteht etwa in der Rotenturmstraße zurzeit eine weitere Begegnungszone. Was beide Projekte verbindet, ist die Aufwertung der Zivilgesellschaft. Schließlich beteiligen sich auch Private an der Finanzierung.

Bei der für Ende 2019 geplanten Fertigstellung der neuen
Rotenturmstraße ist eine Co-Finanzierung von rund drei Millionen Euro durch Private am gesamten Investitionsaufwand von elf Millionen gesichert. In der sechs Millionen Euro teuren neuen Herrengasse finanzierten die Anrainer bis auf eine halbe Million Euro alles selbst. Diese wurde von der Stadt (MA 31) zur Sanierung der Wasserleitungen beigetragen. Jedes Haus der Straße ist ein Projektant. Manche besitzen mehrere Liegenschaften. Aus der Frontlänge der Liegenschaft errechnet sich der jeweilige Prozentsatz der Gesamtkosten für jeden Projektanten. Mit der Umsetzung der Begegnungszone Herrengasse war der Architekt Clemens Kirsch betraut. Er konnte bereits mit der 2009 eröffneten Fußgängerzone Wien City sein Wissen in die Neugestaltung des öffentlichen Raums einbringen.

Private Initiativen

"Die Herrengasse kann als Paradebeispiel dienen, weil die Straße ein einzigartiger homogener Straßenzug ist, ein Muster an Kompaktheit sowohl in der baulichen Struktur und auch in der Eigentümercharakteristik", beschreibt Kirsch den genius loci. Gleichzeitig weiß er, dass Gestaltung bloß ein Teil eines größeren Ganzen darstellt. "Als Planer braucht man nicht zu glauben, dass ein neuer Belag allein schon ausreicht, damit alles als neu gilt", differenziert der Stadtentwickler. "Aber es kann eine Hebelwirkung für eine verbesserte Nutzung und die Annahme von mehr Freiraum sein." Dass diese Annahme quantifizierbar ist, beweisen Zählungen, die in der Herrengasse vor, während und nach der Implementierung der Begegnungszone durchgeführt wurden.

Laut einer Untersuchung vom Herbst 2018 stieg in der Herrengasse die Fußgängerfrequenz um rund vierzig Prozent. "Die Geschäftsleute jubeln", sagt Spitzy. Dieses Return on Investment war ein Ziel dieser mehrheitlich privat finanzierten städtebaulichen Errungenschaft.

Eine besondere Koordination war mit der MA 28 für Straßenverwaltung und Straßenbau sowie der MA 46 für Verkehrsorganisation und technische Verkehrsangelegenheiten erforderlich. Nach Abschluss der Arbeiten ging die Wartung komplett in die Verantwortung der Stadt über. Thomas Keller, Leiter der Magistratsabteilung 28, zieht ein erfreuliches Fazit - mit einem Versprechen auf Fortsetzung: "Als Straßenerhalterin sind wir über die private Initiative zur Umgestaltung der Herrengasse sehr glücklich. Die Stadt hat eine neue, moderne Begegnungszone erhalten, wobei die Kosten für den Umbau nahezu komplett von Privaten übernommen wurden. Das war eine absolute Novität für uns. Die gewonnenen Erkenntnisse aus der Zusammenarbeit mit den handelnden Akteuren der privaten Initiative werden bei künftigen partizipativen Vorhaben berücksichtigt - insbesondere die Motivation zur Veränderung und die dahinterstehenden Interessen der Beteiligten."

Grünangebote

Ein kommerzieller Hintergedanke ist keine Sünde; von manchen Stellen wurde Kritik laut, dass sich "die Oligarchen die Stadt gestalten, wie es ihnen gefällt". Dagegen argumentiert Wolfgang Spitzy: "Die Budgets der Stadt sind limitiert, wir entlasten sie und ermöglichen Projekte an der Peripherie, die sonst erst nach vielen Jahren umgesetzt werden."

Die Verzahnung von zivilgesellschaftlicher Initiative und Behörde ist ein Muster für zukünftige Projekte. Eventuell etabliert sich Private Public Partnership auch für die Entwicklung urbaner Räume und nicht nur für einzelne Bauvorhaben.

Viele Stadtentwickler sorgen sich angesichts wachsender Überhitzung im Sommer um Grünangebote in der Stadt. Bäume sind grundsätzlich willkommen, dafür braucht es aber ein entsprechendes Straßenprofil. Es gilt, den da-runter liegenden Kanalverlauf zu berücksichtigen und manches mehr. Generell erweist sich die monarchistisch geprägte Stadtstruktur heute als Vorteil, weil Parks und Gärten die vollflächige Versiegelung unterbinden.

Die Verbuschung von Innenstädten zur Besserung des Mikroklimas ist jedoch ein heikles Unterfangen. Schließlich kommt auf der Piazza Navona in Rom auch keiner auf die Idee, Hecken zu setzen. Allerdings zeigen antike Stadtmodelle, dass auf ausreichend Grünraum meist geachtet wurde; andererseits war der einzige wirkliche Stau damals nur dann gegeben, wenn eine siegreiche Legion in die Stadt einzog. Und Soldatenschweiß ist auch nicht wirklich mit CO2-Ausstoß gleichzusetzen . . .

Ein interessanter Aspekt ist mit dem Granit in der Herrengasse verbunden. Die Oberfläche der Steine ist nach einer alten Methode bearbeitet. Er ist gestockt. Früher saßen Handwerker mit dem Hämmerchen und haben Oberfläche für Oberfläche abgeklopft. Heute macht das eine Maschine. Die Oberfläche ist rau, der Gehkomfort dadurch verbessert, es gibt einen deutlicheren Grip - und die Rutschgefahr sinkt.

Ausweichzone

Auch für die Rotenturmstraße ist gut betretbarer Untergrund wichtig, schließlich frequentieren sie rund 60.000 Fußgänger täglich. Die Begegnungszone soll auch zu einer Ausweichzone in dieser Straße werden, in der man leicht klaustrophobisch werden kann.

Auf die Frage, wie man einen rund 500 Meter langen, permanent genutzten Straßenabschnitt komplett erneuert, antwortet Peter Lux, der das Kompetenzzentrum technische Infrastruktur und bauliche Sicherheit im öffentlichen Raum der Stadt Wien leitet: "Wir können auf einen guten Erfahrungsschatz verweisen. So ein Bauvorhaben steht und fällt mit der Einsatzbereitschaft, Qualität und Öffentlichkeitsarbeit aller Beteiligten, sowohl auf der Seite der Auftraggeber, der städtischen Bauaufsicht als auch auf Seite der Auftragnehmer, also bei den involvierten Baufirmen. All deren Leistungsbereitschaft und das Eingehen auf die Bedürfnisse der Anrainer und Betriebe - das ist der wesentliche Erfolgsfaktor. Wir tragen jedenfalls dem Trend Rechnung, dass mehr Aufenthaltsqualität im Freien verlangt wird."

Der Flaneur ist eben einer, der nicht von A nach B geht, sondern das Umherschlendern zu seiner obersten Maxime erhebt. Begegnungszonen können daher auch als eine Art Übungsgelände für Flaneure betrachtet werden. Viele von uns müssen freilich auf direktem Wege wohin, um etwas zu erledigen. Das Ziel ist dann tatsächlich das Ziel - und Flanieren bestenfalls eine Teilzeitbeschäftigung, für die Begegnungszonen immerhin Anreize schaffen.

Hinweis:

Der österreichische Verein walk-space.at hat es sich zum Ziel gesetzt, das Leben der Fußgänger maßgeblich zu verbessern. Diese Verbesserung ist im Internet gut dokumentiert, auf www.begegnungszonen.or.at ist eine Auflistung aller derzeit in Österreich vorhandenen Begegnungszonen, ihrer Entstehung und Spezifika einsehbar.