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Alles fließt

Von Martin Heintel

Reflexionen
© Juerg Christandl

Der Weg des Wiener Wassers ist alles andere als unergründlich. Und er kündet entlang der Hochquellenleitung nicht zuletzt von regionaler Vielfalt.


90 Kilometer ist sie lang, die I. Wiener Hochquellenleitung aus dem Jahr 1873, von Kaiserbrunn im Höllental bis nach Wien. Mit der Einleitung der Pfannbauernquelle im Aschbachtal an der Mariazeller Bundesstraße im Jahr 1988 kamen noch einige Kilometer dazu - 150 Kilometer beträgt von hier die Distanz bis zur Bundeshauptstadt. Alles fließt, und das reine Quellwasser ist innerhalb von 24 Stunden in der Stadt. Anders als noch im 19. Jahrhundert, als die Wasserreiter das begehrte Nass in Fässern quer durch die vielfältigen Regionen Niederösterreichs an den kaiserlichen Hof nach Wien lieferten.

Heute fördert die I. Wiener Hochquellenleitung 220 Millionen Liter frisches Quellwasser täglich aus den Wiener Hausbergen nach Wien, und das ohne eine Pumpstation, allein durch das natürliche Gefälle. Ein System aus Stollen und Aquädukten macht dies möglich und ist auch Denkmal einer ingenieurtechnischen Hochleistung früherer Zeiten. Die Hochquellenleitung ist ein Symbol der Verbindung zwischen ländlich-peripheren Regionen und dem Zentralraum.

Entlang des Wiener Wassers werden Regionen verflochten, durchschnitten und aufgefädelt, die vielfältiger nicht sein könnten. Eine Wanderung entlang der I. Wiener Hochquellenleitung bestätigt auf vergleichsweise kurzer Distanz die zunehmende Diskussion um ein ausdifferenziertes Verständnis von Regionen und ihren Eigenschaften.

Zauberberge

Aber der Reihe nach: Folgen wir dem Lauf des Wassers. Das Schwarzatal, rund um Payerbach-Reichenau, hat nicht nur viele Quellen, sondern bietet auch gleich eine Vielfalt an Regionen. Ländlich-peripher ist das Höllental gewiss, funktionalisiert durch touristische Aktivitäten seit mehr als einem Jahrhundert, dem Beginn des Fremdenverkehrs in den Zauberbergen zwischen Semmering und Rax. In der Peripherie des auslaufenden Alpenbogens haben zudem lebensweltliche Regionen bereits seit Jahrhunderten große Bedeutung.

Das Nasswaldtal, einst eine Enklave der Protestanten, die die gräflichen Besitztümer und Jagdgründe der Familie Hoyos bewirtschafteten und ihre Identität als Holzfäller und Rebellen lebten, das Höllental, das als "das schönste Tal" - wie die Autoren Baumgartner und Putz es in ihrem gleichnamigen Buch benannten - eine Liebeserklärung erfährt, bilden die Grundlagen für lebensweltliche Regionsbezüge. Subjektive Wahrnehmungen und kulturelle Aufladungen von grünblauem Wasser, reiner heilender Luft und dunklen Schwarzföhren haben bereits die Architektur und Literatur der Jahrhundertwende belebt, sowie die Wiener Schule der Psychoanalyse inspiriert.

Plan der Wiener Hochquellenleitung.
© Archiv

Im Jahr 1992 war die Gegend rund um Gloggnitz schon einmal Schauplatz einer Niederösterreichischen Landesaustellung gewesen. Unter dem Motto "Die Eroberung der Landschaft" widmete sich die Ausstellung genau jenen Interaktionen zwischen Stadt und Land, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts so charakteristisch sind.

Der österreichische Dramatiker Hermann Bahr skizzierte die Region rund um den Semmering als "eine Vorstadt der City, ein ungeheures Cottage, für jeden Bedarf versorgt, mit direkten Zügen in einer Stunde von der Stadt zu erreichen, auch nachts, nach dem Theater noch". Die Wiener Hausberge Rax und Schneeberg sind Zeugen einer erfolgreichen Domestizierung der Wildnis, wie der Historiker Wolfgang Kos festhält. Die Welterberegion Semmering-Rax, die genau jene Lebensnähe zum Ausdruck bringt, wird auch heuer neuerlich im Rahmen der aktuellen Niederösterreichischen Landesausstellung "Welt in Bewegung" gewürdigt.

Umstrukturierungen

Verlässt das Wasser nun die enge Bergwelt zwischen Schneeberg und Rax, öffnet sich bei Hirschwang das Schwarzatal hin zu einer traditionellen Strukturregion, ohne dass diese optisch von der Bergstation der Raxseilbahn sofort sichtbar wäre. Die Schlote im Alpenvorland qualmen schon lange nicht mehr so intensiv wie früher. Um die Strukturen der alten Industriegebiete zu fassen, muss wieder auf den Boden der Tatsachen hinabgestiegen werden.

Egal, ob die ehemalige Papierindustrie von Schlögelmühl, wo das regionale Schicksal bereits filmisch festgehalten wurde, oder weiter in Richtung Ternitz und Wimpassing, wo nach den Wasserreitern über Jahrzehnte auf mehr als ein PS gesetzt wurde -, die alte Industrie liegt darnieder. Steter Tropfen höhlt den Stein, wäre hier passend zu vermerken; dennoch, der Fluss der Dinge bringt auch wieder viel Neues hervor, bevor die Schwarza endgültig im Wiener Neustädter Becken versickert.

Vielfach mit Hilfe kofinanzierter Mittel aus den Strukturfonds der Europäischen Union, wurde gerade in den alten Industriegebieten des südwestlichen Niederösterreich heftig umstrukturiert. Zahlreiche Ausbauten und Gründungen, wie etwa der "Nova City Wirtschaftspark Wiener Neustadt", versammeln vor allem im High-Tech-Bereich vielfältige Innovationen. Sie zeigen auch die gegenwärtige Bedeutung der Industrieregion Niederösterreich-Süd auf und folgen damit dem Ähnlichkeitsprinzip, das für alte Industrieregionen prägend war. Auch die Maschinenindustrie in Ternitz wurde beispielsweise durch die Firma Amada wieder gestärkt. Hand in Hand mit Bildungseinrichtungen wie der Fachhochschule Wiener Neustadt wurde in den vergangenen Jahren auch die regionale Wissensbasis dieser Industrieregion ausgebaut.

Am Rande des Steinfeldes schlängelt sich die Hochquellenleitung entlang der Fischauer Berge in das Wiener Becken. Der Wiener Großraum zwischen Wiener Neustadt und Wien ist Österreichs Verflechtungsregion par excellence. Der Wiener Neustädter Kanal war bereits im Jahr 1803 der erste Wasserweg, der Wiener Neustadt und Wien verband und die Industrialisierung der gesamten Region mitbestimmte. Dieses strategische Bauwerk zum Lastentransport hatte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hohe Bedeutung.

Bahnhof Wiener Neustadt zeitig in der Früh: Die ersten Pendler besteigen spätestens um 5.30 Uhr den Schnellzug nach Wien in Richtung Arbeitsplatz; etwas zeitversetzt beginnt auch das Pendlerdasein für all jene, die eine flexiblere Arbeitszeiteinteilung haben.

Die Pendlerverflechtung ist aber nur eine von vielen Verflechtungsmerkmalen dieses Großraumes. Verkehrsinfrastruktur, Erlebnis- und Freizeitparks, Shopping City und kulturelle Vielfalt der Kleinstädte an der Thermenlinie sind nur einige Beispiele für die intensiven Interaktionen dieses - für österreichische Verhältnisse - überdimensionierten suburbanen Raumes. Gilt die Shopping-City-Süd doch landläufig als größtes Shopping-Areal Europas, ebenso wie der Knoten Vösendorf als flächenintensivstes Autobahnkreuz.

Wien-Süd, der Albtraum jedes Raumplaners, das ist der klassische Brei von immer kleiner werdenden Zwischenräumen zwischen stadtnahen-ländlichen Regionen, wo das Wasser durchfließt, und der städtischen Agglomeration Wien, wo es schließlich verbraucht wird.

Vom im Jahr 1956 stillgelegten Wasserturm in Wien-Favoriten schweift bei guter Sicht der Blick zurück über sämtliche Regionen des Umlandes von Wien bis hin zum Schneeberg.
© bettina sampl - stock.adobe.com

Wien ist erreicht, und hier wird erstmals klar, was politisch-administrative Aktivitätsregionen bedeuten. Es ist nicht nur der Farbwechsel von Schwarz auf Rot, oder die Angst der Wiener Wirtschaft vor dem Kaufkraftverlust auf der ehemals grünen Wiese vor den Toren der Stadt, auch ist es die wiederkehrende Debatte um den Finanzausgleich und das massive Werben des Landes Niederösterreich um die Zweitwohnbesitzer zu Wahlkampfzeiten rund um Wien.

Auch die vertragliche Regelung zwischen Wien und Niederösterreich auf administrativer Ebene, die das "niederösterreichische Wasser" den Wienerinnen und Wienern zur Durstlöschung sichern soll, zeigt exemplarisch auf, was Grenzen bedeuten.

Lenken und leiten

Wo Grenzen überschritten werden, gehören Verträge und Regelungen zur Alltagspraxis. Servitute in den Grundbüchern mit dem Recht der Führung einer Wasserleitung und Wasserrechtsbescheide zwischen Niederösterreich und Wien sichern den Fluss, vor allem jenen der II. Hochquellenleitung. Bei der I. Hochquellenleitung wurde vorsichtshalber der Grund und Boden Niederösterreichs sowohl in den niederösterreichischen Quellgebieten als auch im Bereich der Trassenführung quer durch Niederösterreich in den Besitz der Stadt Wien überführt.

Wien und das südliche Niederösterreich, das ist (oder könnte aus raumplanerischer Sicht noch viel mehr sein) eine Stadtregion. Stadtregionen sind nun jene Räume, die durch enge sozioökonomische Verflechtungen zwischen Kernstadt und Stadtumland geprägt sind. Das Wiener Wasser bringt dies als Symbol gut zum Ausdruck. In anderen Bereichen wie öffentlicher Verkehr, Raumplanung, Siedlungsentwicklung, Suburbanisierung, Flächenwidmung oder Kooperationen im Bereich der Administration ist der stadtregionale Kontext als mögliche Steuerungsform räumlicher Gestaltung in Österreich noch nicht überall angekommen.

Das Wort Region, abgeleitet aus dem Lateinischen, drückt nicht nur Richtung und Gegend aus, sondern auch lenken und leiten. Geleitet ist das Wasser wohl, Regionen zu steuern hingegen ist eine sich verändernde Herausforderung über die Zeit - mit permanenten, auch konkurrierenden Ansprüchen und räumlichen Wirksamkeiten. Hier liegen auch die großen Herausforderungen zukünftiger regionaler Gestaltung.

Vom im Jahr 1956 stillgelegten Wasserturm in Wien-Favoriten schweift bei guter Sicht der Blick zurück über sämtliche Regionen des Umlandes von Wien bis hin zum östlichsten 2000er der Alpen, dem Schneeberg, der mit seinem Einzugsgebiet auch zukünftig die regionale Wasserbasis für die Versorgung Wiens sichern soll.

Martin Heintel ist Professor am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Stadt- und Regionalentwicklung sowie Angewandte Geographie.