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Hört auf die Literaten!

Von Adrian Lobe

Reflexionen

Die Zeitdiagnosen der Literatur sind oft hellsichtiger als die der Wissenschaft. Grund, in Romanen nach Antworten auf große Fragen der Gegenwart zu suchen.


Der Brand in der Kathedrale Notre-Dame war kaum gelöscht, da war Victor Hugos Roman "Der Glöckner von Notre-Dame" schon in den Bestsellerlisten. Was der Romancier im Jahre 1831 veröffentlichte, liest sich in seiner Atemlosigkeit wie der Live-Kommentar eines Reporters: "Aller Augen hatten sich nach der Höhe der Kirche erhoben. Was sie da sahen, war etwas Ungewöhnliches. Auf dem Gipfel der höchsten Galerie, hoch oben über der Mittelrosette, war eine große Flamme zu sehen, die zwischen den beiden Glockentürmen mit Funkenwirbeln aufstieg, eine große, prasselnde und grimmige Flamme, von welcher der Wind zeitweilig eine Funkenwolke im Rauche davontrug." Hatte Hugo alles vorhergesehen? Hatte er, der große Literat, der einmal sagte, Geschichte sei ein Echo der Vergangenheit in der Zukunft, die Katastrophe prophezeit?

Gerade in Krisenzeiten, wo die Grande Nation taumelt und die Populisten lärmen, hört Frankreich auf seine Literaten. Als zu Beginn des Jahres Michel Houellebecqs neuer Roman "Serotonin" herauskam, war in der Literaturkritik ein Knistern zu spüren. Welches Ereignis würde der Romanautor diesmal vorhersagen? Am 3. September 2001, wenige Tage vor den Anschlägen des 11. September, erschien sein Roman "Plattform". Darin geht es um Sextourismus in Thailand, und, wie in allen seinen Werken, um die Vergeblichkeit des Daseins. Am Ende des Romans kommen bei einem islamistischen Anschlag in einem Nachtklub 117 Menschen, darunter viele Touristen, ums Leben.

Im Oktober 2002 sterben 202 Menschen bei einem Terroranschlag auf Bali. Am 7. Jänner 2016, dem Erscheinungstag von Houellebecqs sechstem Roman, "Unterwerfung", in dem er die Dystopie eines islamischen Gottesstaats in Frankreich entwirft, ereignet sich der Terroranschlag auf das Satire-Magazin "Charlie Hebdo", das den Autor auf das Cover hob. Seitdem gilt Houellebecq als
Prophet.

Auch bei "Serotonin" suchte die Literaturkritik nach Szenen, die die politischen Ereignisse antizipieren - und wurde fündig: Gegen Ende der Erzählung blockieren bewaffnete Bauern aus der Normandie aus Protest gegen die Kürzung der Agrarsubventionen die Autobahn nach Paris, CRS-Spezialkräfte intervenieren, es fallen Schüsse, neun Landwirte werden getötet. Die Kritik wertete diese Szene als Vorwegnahme der Gelbwesten, die landesweit Kreisverkehre blockierten, wobei es, sehr selten für eine soziale Bewegung, insgesamt zehn Tote gab.

Houellebecq wurde vom Feuilleton als "Prophet der Gelbwesten" gefeiert. Dem Romancier werden seherische Fähigkeiten zugeschrieben, er gilt als visionär, was den defätistischen und reaktionären Sound seiner Bücher kontrastiert, den die Kritik darin hören will. Ist Houellebecq ein Hellseher? Oder einfach nur ein wachsamer Chronist?

Der Autor Michel Houellebecq im Jahr 2014.
© ActuaLitté

Houellebecq schreibt in "Serotonin": "Was gerade in Frankreich mit der Landwirtschaft passiert, ist ein enormer Sozialplan, der größte Sozialplan, der zur Stunde am Werk ist, aber es handelt sich hier um einen geheimen, unsichtbaren Sozialplan, wo die Leute einzeln in ihrer Ecke verschwinden, ohne jemals Stoff für BFM (ein Nachrichtensender im Fernsehen, Anm.) zu liefern." Ein Sozialplan, der nicht erklärt, schon gar nicht begründet, aber dafür brutal vollstreckt wird. Man sieht hier eine literarische Traditionslinie zu Kafka. Houellebecqs Romanfiguren befinden sich in einer identitären Isolationshaft, in einem Freiluftgefängnis namens Gesellschaft, ohne Bindung, aber doch angekettet, ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung.

Houellebecq verwehrt sich gegen das Etikett des Propheten, das man ihm anheftet. "Ich stelle fest, dann mache ich Projektionen", beschrieb er einmal ganz nüchtern seine Vorgehensweise. "Als Orwell 1948 ,1984‘ schrieb, war das keine Vorhersage, sondern Ausdruck der Ängste dieser Zeit."

Natürlich ist man als Autor immer das Kind seiner Zeit. Politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und technische Entwicklungen schlagen sich im Werk nieder. Doch die Frage ist, ob Literatur, die nicht streng formalen wissenschaftlichen Kriterien unterworfen, sondern ein viel freieres Feld ist, die hellsichtigeren und präziseren Zeitdiagnosen schafft, ob man, um die Gesellschaft besser zu verstehen, vielleicht besser in Romanen als in wissenschaftlichen Abhandlungen lesen muss.

Es gibt in der Literatur, speziell im Genre der Science-Fiction (Margaret Atwood sprach lieber von Speculative Fiction), eine lange Tradition, Utopien und Dystopien zu entwickeln. Literatur bringt Dinge zum Ausdruck, die sich nicht plausibilisieren, aber dafür erzählen lassen. Literaten sind häufig genauere Beobachter als Wissenschafter, die ganz unbewusst Feldforschung betreiben, ein Sensorium für gesellschaftliche Stimmungen entwickeln und ihre Alltagsbeobachtungen zu einer wirkmächtigen Erzählung verdichten.

Düstere Ahnung

1949, ein Jahr nach dem Erscheinen von "1984", verfasste Aldous Huxley einen bemerkenswerten Brief an George Orwell, nachdem er von dessen Verleger ein Exemplar zugeschickt bekommen hatte. Darin schreibt er: "Bereits in der nächsten Generation werden die Herrschenden der Welt feststellen, dass frühkindliche Konditionierung und Narkohypnose als Herrschaftsinstrumente sehr viel effizienter sind als Schlagstöcke und Gefängnisse, und dass Machthunger sich nicht nur dann befriedigen lässt, wenn man die Leute zum Gehorsam prügelt, sondern ebenso gut, wenn man sie mittels Suggestion dazu bringt, ihr Sklavendasein zu lieben."

Es sind nur ein paar dürre Worte, doch je häufiger man sie liest, desto mehr erzeugen sie eine Erklärungskraft, dass man eine monströse Dystopie vor seinem geistigen Auge sieht. Wenn man sieht, wie Kleinkinder mit Bildschirmen sozialisiert und durch behavioristische Modelle konditioniert, ja hypnotisiert werden, dann muss man feststellen, dass es zwischen Huxleys düsterer Ahnung und den aktuellen Entwicklungen Parallelen gibt. Huxley argumentiert, Foucaults Gedanken der Selbstdisziplinierung und Automatik der Macht vorwegnehmend, dass Konditionierung und Hypnotisieren viel effizientere Herrschafts- bzw. Disziplinartechniken sind als Gefängnisse.

In Huxleys "Schöne neue Welt" und Orwells "1984" konkurrieren zwei Dystopien: Zum einen eine totalitäre Herrschaft, in der der Mensch durch Überwachung und Ausmerzung von Worten unterdrückt wird ("1984"). Zum anderen eine totalitäre Gesellschaft, in der der Mensch sich zu Tode amüsiert und selbst unterwirft ("Schöne neue Welt"). Letztere Vision ist anschlussfähig an Houellebecqs Roman "Unterwerfung", in dem es vordergründig um eine Islamisierung der westlichen Welt und im Kern um eine autoritäre Versuchung geht, die Demokratie mit demokratischen Mitteln abzuschaffen.

In "Elementarteilchen" referenziert Houellebecq auf Huxley, der, wie der französische Schriftsteller Joris-Karl Huysmans, ein Fixstern im Houellebecq’schen Denkkosmos ist. Der Romanheld Bruno feiert die Gesellschaft, die Huxley in "Schöne neue Welt" beschreibt, als "eine glückliche Gesellschaft", die keine Tragödien und keine extremen Gefühle mehr kenne. Es herrsche "völlige sexuelle Freiheit", die persönliche Entfaltung und die sinnliche Begierde würden "durch nichts mehr eingeschränkt".

Huxley habe "die grundlegende Intuition gehabt, dass die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften seit mehreren Jahrhunderten ausschließlich durch die wissenschaftliche und technologische Entwicklung gesteuert worden ist und immer mehr gesteuert werden wird".

Man kann in der Rezeption literarischer Werke rückblickend immer irgendwelche Wahrheiten in Texte hineinlesen. Doch Literatur ist, bei aller Über- und Schönzeichnung der Realität, auch immer ein Mittel, "gefühlte" Wahrheiten zum Ausdruck zu bringen. So tauchte 1851 bei Charles Baudelaire ein unverhohlener Anti-Amerikanismus auf. In seinem Werk "Fusées" schrieb er: "Die Mechanik wird uns derart amerikanisiert haben, der Fortschritt die Verkümmerung unseres geistigen Teiles so vollkommen gemacht haben, dass auch der blutrünstigste, ruchloseste und widernatürlichste aller Träume der Utopisten harmlos erscheinen wird im Vergleich zu solchen positiven Ergebnissen."

Narrative entwickeln

Literatur hat jedoch heute wie damals mit dem Problem zu kämpfen, dass sich ihre Gegenwartsdiagnostik leicht beschwichtigen lässt, dass man sie nicht ernst genug nimmt, weil sie im Reich der Fiktion spielt. Auch Baudelaire kam sich als Mahner in der Wüste vor. "Was mich angeht", schrieb der Dandy, "fühle ich manchmal in mir die Lächerlichkeit eines Propheten, ich weiß, dass ich niemals die Milde eines Arztes finden werde."

Und doch: Die frühromantische Kapitalismuskritik, das Beklagen einer mechanisierten, uniformen Welt, in der alles in materiellen Werten gemessen wird und der Zerfall von Institutionen zu einer Sinnlehre führt, ist eine Diagnose, die auch das Zeitgefühl von heute gut beschreibt. Man findet in der Literatur die Antworten auf die großen Fragen der Gegenwart. Es ist kein Zufall, dass nach der Wahl Trumps "1984" in den Bestsellerlisten landete.

Wer Sätze wie "Was Sie sehen und was Sie lesen, ist nicht das, was geschieht" (Trump) oder "Wahrheit ist nicht Wahrheit" (Trump-Anwalt Rudy Giuliani) verstehen will, muss Orwell lesen. Doch die Stärke der Literaten besteht nicht in ihrer prophetischen Gabe, sondern in der Fähigkeit, die Gegenwart zu beschreiben, Imaginationsräume zu schaffen, Narrative zu entwickeln.

Victor Hugo hielt beim Pariser Friedenskongress 1849 eine Rede, in der er die Vision eines vereinten Europas skizzierte: "Der Tag wird kommen, an dem der Krieg zwischen Paris und London, zwischen Petersburg und Berlin, zwischen Wien und Turin so absurd scheinen und unmöglich sein wird, wie er heute zwischen Rouen und Amiens, zwischen Boston und Philadelphia unmöglich sein und absurd scheinen würde. (. . .) Der Tag wird kommen, an dem man die Kanonen in den Museen zeigen wird, wie man dort heute ein Folterinstrument zeigt, sich wundernd, dass es so etwas gegeben haben kann."

Man kann diese Worte ex post, angesichts des Deutsch-Französischen Kriegs und der zwei verheerenden Weltkriege, die der Rede folgen sollten, als fatalen historischen Irrtum abtun. Man kann die Rede aber auch als Vision lesen, die von großer politischer Aktualität ist. Es bleibt zu hoffen, dass die Geschichte Hugo dereinst recht gibt.

Adrian Lobe, geb. 1988, studierte Politik- und Rechtswissenschaft und schreibt als freier Journalist für diverse Medien im deutschsprachigen Raum.