Houellebecq schreibt in "Serotonin": "Was gerade in Frankreich mit der Landwirtschaft passiert, ist ein enormer Sozialplan, der größte Sozialplan, der zur Stunde am Werk ist, aber es handelt sich hier um einen geheimen, unsichtbaren Sozialplan, wo die Leute einzeln in ihrer Ecke verschwinden, ohne jemals Stoff für BFM (ein Nachrichtensender im Fernsehen, Anm.) zu liefern." Ein Sozialplan, der nicht erklärt, schon gar nicht begründet, aber dafür brutal vollstreckt wird. Man sieht hier eine literarische Traditionslinie zu Kafka. Houellebecqs Romanfiguren befinden sich in einer identitären Isolationshaft, in einem Freiluftgefängnis namens Gesellschaft, ohne Bindung, aber doch angekettet, ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung.
Houellebecq verwehrt sich gegen das Etikett des Propheten, das man ihm anheftet. "Ich stelle fest, dann mache ich Projektionen", beschrieb er einmal ganz nüchtern seine Vorgehensweise. "Als Orwell 1948 ,1984 schrieb, war das keine Vorhersage, sondern Ausdruck der Ängste dieser Zeit."
Natürlich ist man als Autor immer das Kind seiner Zeit. Politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und technische Entwicklungen schlagen sich im Werk nieder. Doch die Frage ist, ob Literatur, die nicht streng formalen wissenschaftlichen Kriterien unterworfen, sondern ein viel freieres Feld ist, die hellsichtigeren und präziseren Zeitdiagnosen schafft, ob man, um die Gesellschaft besser zu verstehen, vielleicht besser in Romanen als in wissenschaftlichen Abhandlungen lesen muss.
Es gibt in der Literatur, speziell im Genre der Science-Fiction (Margaret Atwood sprach lieber von Speculative Fiction), eine lange Tradition, Utopien und Dystopien zu entwickeln. Literatur bringt Dinge zum Ausdruck, die sich nicht plausibilisieren, aber dafür erzählen lassen. Literaten sind häufig genauere Beobachter als Wissenschafter, die ganz unbewusst Feldforschung betreiben, ein Sensorium für gesellschaftliche Stimmungen entwickeln und ihre Alltagsbeobachtungen zu einer wirkmächtigen Erzählung verdichten.
Düstere Ahnung
1949, ein Jahr nach dem Erscheinen von "1984", verfasste Aldous Huxley einen bemerkenswerten Brief an George Orwell, nachdem er von dessen Verleger ein Exemplar zugeschickt bekommen hatte. Darin schreibt er: "Bereits in der nächsten Generation werden die Herrschenden der Welt feststellen, dass frühkindliche Konditionierung und Narkohypnose als Herrschaftsinstrumente sehr viel effizienter sind als Schlagstöcke und Gefängnisse, und dass Machthunger sich nicht nur dann befriedigen lässt, wenn man die Leute zum Gehorsam prügelt, sondern ebenso gut, wenn man sie mittels Suggestion dazu bringt, ihr Sklavendasein zu lieben."
Es sind nur ein paar dürre Worte, doch je häufiger man sie liest, desto mehr erzeugen sie eine Erklärungskraft, dass man eine monströse Dystopie vor seinem geistigen Auge sieht. Wenn man sieht, wie Kleinkinder mit Bildschirmen sozialisiert und durch behavioristische Modelle konditioniert, ja hypnotisiert werden, dann muss man feststellen, dass es zwischen Huxleys düsterer Ahnung und den aktuellen Entwicklungen Parallelen gibt. Huxley argumentiert, Foucaults Gedanken der Selbstdisziplinierung und Automatik der Macht vorwegnehmend, dass Konditionierung und Hypnotisieren viel effizientere Herrschafts- bzw. Disziplinartechniken sind als Gefängnisse.