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Zu Gast in Brooklyn: Jeder Buchstabe eine kleine Welt

Von Michael Freund

Reflexionen
Auf kleinem Raum entdeckt Grafiker Simon Garfield eine Welt von Emotion und Konfusion: Details von Schildern in Smith und Court Street, Cobble Hill, Brooklyn.
© Freund

Der New Yorker Stadtteil ist mehr, anders und vielschichtiger, als der Hype um ihn es vermuten lässt. Ein detaillierter Lokalaugenschein.


Brooklyn, natürlich! Der Name fällt, wenn es um unerhörte Musik geht, um Videokunst und Craft Beer, angesagte Lokale zu ebener Erde und Imker auf dem Dach. Ist von Vorbildern der hiesigen Hipster-Enklaven die Rede, dann denken wir vielleicht auch an Berlin, aber Berlin hatte Brooklyn vor Augen (mittlerweile allerdings fast umgekehrt, dazu kommen wir noch). Seit gut zwei Jahrzehnten herrscht ein Hype um das Viertel, den sich ein City-Branding-Konsulent nicht besser hätte ausdenken können.

Aber es war kein Konsulent, es war die U-Bahn. Genauer gesagt die Linien L, J, M und Z, die kürzesten Verbindungen zwischen Manhattan und dem Bezirk jenseits des East River. Und das kam so: In den Gegenden von Manhattan, in denen die Subway ihre Stationen hatte, im East Village und der Lower East Side, war das Leben immer teurer geworden.

Künstler, Studenten und Alteingesessene, die hier wohnten, führten einen langen Kampf gegen die Immobilienbranche, den diese wie immer in New York gewann, und die Gentrifizierung spülte die Bewohner weg. Jenseits des Flusses, nur ein paar Minuten Zugfahrt entfernt, fanden sie erschwinglichen Raum für sich und ihre Ateliers und Studios - viele Häuser, niedrige Ziegelbauten, sahen dem alten Village sogar ähnlich. Mitte der Neunzigerjahre waren rund 3000 Künstler zugezogen.

Sie wohnten im nördlichen Teil von Williamsburg, einem Brooklyner Stadtteil. Im südlichen Teil leben rund 70.000 orthodoxe Juden, und ganz Williamsburg macht knapp drei Prozent der Fläche von Brooklyn aus. Ein großes Missverständnis also zu glauben, was in Williamsburg gespielt wird, wird im ganzen Bezirk gespielt. Diese Agglomeration auf Long Island ist mehr und anders und vielschichtiger, als der Hype es vermuten lässt. Schauen wir uns ihre Geschichte an, um sie besser zu verstehen.

Sie beginnt - nein, nicht mit den Holländern. Die haben Mitte des 17. Jahrhunderts den indigenen Stämmen der Lenape das Land am Fluss erst abgehandelt, ebenso wie die Insel Mannahatta auf der anderen Seite. Dort gründeten sie Nieuw Amsterdam, hier das Dorf Breuckelen. Ihre Herrschaft währte nur einige wenige Jahrzehnte, dann wurden die Orte und ihre Namen anglisiert und schließlich Teil des Staates New York.

Dörfer in der Stadt

Die Brooklyner hatten viel Zeit und Raum zu expandieren - fast 15 Kilometer sind es vom East River nach Süden bis zum Atlantik. Farmen und Felder wichen erst im 19. Jahrhundert der wachsenden Bevölkerung. Wellen von Einwanderern - zunächst vor allem Nordeuropäer, später Iren, Italiener und Juden - siedelten sich an und bildeten eigene Dörfer innerhalb der wachsenden Stadt. Die blieb eigenständig, auch noch 1883, als die Brooklyn Bridge eröffnet wurde. Kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert allerdings wurde sie eingemeindet und einer der fünf Bezirke, Boroughs, von New York City - eine Tatsache, die bis heute, Generationen später, die Gemüter mancher Brooklyner erregt.

Graffiti-Kunst in Brooklyn.
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Trotz gewisser Parallelen - auch Manhattan hatte seine Einwanderungswellen und ethnische Nachbarschaften wie Little Italy, die Lower East Side oder Chinatown - und trotz der Eingemeindung blieb Brooklyn eine eigene Welt. Man lebte im Schatten der Wolkenkratzer "drüben", man pendelte dorthin, doch man entwickelte umso stärker ein Gefühl für die eigene Nachbarschaft und eine Abgrenzung nicht nur gegen Manhattan, sondern auch gegen die nähere Umgebung. Hier war die ukrainische Kirche, dort das italienische centro sociale, gegenüber der Basketballplatz, den die irischen Kids für sich beanspruchten.

Brutales "Redlining"

Das Zusammenleben wurde schwieriger und die Kluft zwischen Arm und Reich größer als die Banken in den 1930er Jahren begannen, Stadtviertel nach der Kreditwürdigkeit ihrer Bewohner zu kategorisieren. Um die vierte und schlechteste Kategorie zogen sie rote Linien auf den Stadtplänen. Das taten sie in vielen US-Städten, doch in Brooklyn wirkte sich Redlining besonders schlimm aus: Der halbe Bezirk wurde so von Krediten ausgeschlossen, es waren die ältesten und bescheidensten Gegenden, in denen vor allem nicht-weiße Minderheiten wohnten und vermehrt hinzuzogen.

Ein Teufelskreis setzte ein, der sowieso schon ärmere Teil der Bevölkerung bekam kein Geld für die Renovierung oder den Kauf ihrer Häuser, die Substanz verfiel, die Slums waren geboren und mit ihnen die immer größeren Rivalitäten zwischen den ethnischen Nachbarschaften. Zum traditionellen Rassismus (immerhin lebten die Landbesitzer hier auf Long Island bis zum Bürgerkrieg sehr gut vom Sklavenbesitz) gesellte sich eine "rationale" Variante: Die Leute waren halt zu unsichere Kunden - auch wenn die Bundeskredite nach der Weltwirtschaftskrise eigentlich gerade den Zweck hatten, den Ärmsten zu helfen.

Als ob das nicht schon problematisch genug wäre, trat auch noch Robert Moses auf den Plan. Von den Zwanziger- bis in die Sechzigerjahre war Moses der einflussreichste Mann in der New Yorker Stadtpolitik. Er wurde nie in ein Amt gewählt, hatte aber bis zu zwölf verschiedene Titel, und unter seiner Herrschaft wurden Parks und Brücken, Strände und zwei Weltausstellungen geplant und gebaut und vor allem Straßen, mehr als tausend Kilometer lang - Moses liebte Autos und verabscheute den öffentlichen Verkehr.

Vierspurige Autobahnen

Für Brooklyn wie für die anderen Bezirke, vor allem die Bronx, hatte das zur Folge, dass gewachsene Grätzel vierspurigen Autobahnen Platz machen mussten und ganze Viertel vom Rest der Stadt abgeschnitten wurden. Red Hook und Sunset Park etwa, traditionelle Hafengegenden, verkamen ab 1939 hinter dem Gowanus Expressway, teilweise auf Stelzen und praktisch undurchdringlich, eine "chinesische Mauer", wie der Moses-Biograph Robert Caro schrieb. (Sein Buch "The Power Broker" ist eine der informativsten Quellen, will man verstehen, wie New York zu dem wurde, was es heute ist.)

Sogar Teile von Brooklyn Heights, der dem Finanzzentrum Manhattans zugewandte schicke Wohnbezirk am East River und einer der ganz wenigen Flecken Brooklyns, die ein "Greenlining" erlebten, also als prima kreditwürdig galten, mussten dem Brooklyn Queens Expressway weichen, damit der Verkehr ungehindert in Ufernähe brausen konnte. (Von Brausen und Express ist natürlich längst keine Rede mehr, dafür von Staus, egal welcher Radiostation oder Verkehrs-App man folgt.)

Wie zweischneidig diese Verkehrspolitik war, zeigte sich auch beim Bau der Verrazzano Bridge, die seit den Sechzigerjahren Brooklyn mit Staten Island verbindet. Damals die längste Hängebrücke der Welt, war sie gut für Pendler und den Lastenverkehr und eine Katastrophe für die Bewohner des Stadtteils Bay Ridge. In seiner Reportage "The Bridge" beschrieb der Journalist Gay Talese, wie fast 7000 Menschen, überwiegend Italo-Amerikaner, ihre Häuser verlassen mussten, damit die Auffahrtsrampen und gigantischen Kabelbefestigungen angelegt werden konnten.

Der U-Bahnbau hingegen kam, auch das unter dem Einfluss von Moses, nur stockend bis gar nicht voran. Die Linien gehen bis heute hauptsächlich nach Manhattan und retour, für Pendler und für New Yorker, die aus dem Zentrum nach Coney Island an den Atlantik wollen. Strecken quer durch den Bezirk hingegen gab und gibt es praktisch keine, was zur Isolierung der Brooklyner untereinander beitrug. Der Künstlerin Roz Chast schien jeder Ort jenseits ihrer Neighborhood unerreichbar: "Die Familie meiner Schulfreundin zog nach Canarsie", erinnert sie sich, "aber für mich war das damals, als sei sie nach China gegangen. Später erst merkte ich, dass sie nur vier Meilen weg war." Es gab eben keine brauchbare Verbindung zwischen Canarsie am Atlantik und Midwood, wo sie aufwuchs, im "deep Brooklyn", wie sie es nennt.

So viele Kräfte und Veränderungen zerrten im Laufe der Jahrzehnte an der sozialen Faser von Brooklyn, dass es den Bezirk fast zerriss. Da waren die Häfen und die zivilen wie militärischen Werften, die nach dem Zweiten Weltkrieg an Bedeutung verloren und schließlich zusperrten. Da war der Niedergang von Fabriken, Brauereien und Gewerbebetrieben. Da waren auch symbolische Verluste. Wenn man alte Brooklyner fragt, was ihnen am meisten fehlt, werden sie mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit antworten: die Dodgers, das Baseball-Team, das ihnen 1959 weggekauft wurde und nach Los Angeles zog.

Blutige Konflikte

Damals schrieb Hubert Selby jr. an einem der düstersten Bücher über den Bezirk, in dem er aufgewachsen war. Die Kurzgeschichten in "Last Exit to Brooklyn" spielen zum Großteil in Sunset Park, dem ausgepowerten, von der Autobahn durchtrennten Viertel in Meeresnähe. Sie handeln von Drogen, Prostitution und Gewalt unter Menschen am Rande der Gesellschaft. So romantisch weichgezeichnet wie in Woody Allens Filmen sind auch andere Reminiszenzen an vergangenen Zeiten selten. Der Autor Joel Dinerstein etwa erinnert sich an seine Schule in Flatbush Anfang der Siebzigerjahre, an die Unruhen zwischen den Juden und den zugezogenen Afroamerikanern, die zum Exodus der Alteingesessenen in die Suburbs führten.

Ähnliche, aber blutigere Auseinandersetzungen gab es Jahre später in Crown Heights, sie trugen ebenso zum schlechten Image Brooklyns bei wie alles, was man über Bedford-Stuyvesant hörte: Slum, feindliches Territorium, no-go area! Es braucht eine intelligente Analyse wie die von Sharifa Rhodes-Pitts, um nachzuvollziehen, welche Verzweiflung oft zu den Gewalttaten und Eigentumsdelikten führt, derer man dann "die Schwarzen" pauschal beschuldigt. (Dinersteins und Rhodes-Pitts’ Texte sind in einem klugen und wunderbar gestalteten, kürzlich erschienenen Buch über New York enthalten: "Nonstop Metropolis", herausgegeben von Rebecca Solnit und Joshua Jelly-Schapiro; große Empfehlung!)

Deli Market und Grocery store.
© Freund

Brooklyn heute, das ist immer noch eine Vielfalt, wie sie die Luxusinsel Manhattan nicht mehr bietet. Ein kleines, aber bezeichnendes Beispiel am Rande erwähnt Simon Garfield in seinem Buch "Just My Type": Man brauche sich nur die Schrifttypen der Schilder an zwei Straßen in Brooklyns Grätzel Cobble Hill anzuschauen, um zu verstehen, wie viel Fantasie und Emotion, "entrepreneurism and confusion" hinter ihnen steht: jeder Buchstabe eine kleine Geschichte, eine kleine Welt.

Und der Rest des Bezirks erst! Auf Fahrten mit Bussen oder U-Bahn-Zügen, von denen manche über lange Strecken als Elevated Trains, sozusagen als Hochschaubahnen verkehren, auch auf extensiven Wanderungen sind die Kontraste des "tiefen Brooklyn" zu spüren. Roz Chast, die gerade an einem Buch über ihren Heimatbezirk arbeitet, ist mehrmals mit von der Partie, sie sagt, dass ihr vieles bis heute noch unbekannt ist.

Der D-Train nach Coney Island schneidet durch die Stadt wie durch Jahresringe oder besser durch Schichten von Jahrzehnten. Auf die altehrwürdigen, soliden Reihen von Brownstone-Häusern folgen die späteren, schnell errichteten Reihen- und Einfamilienhäuschen, viele aus billigen Holzplanen oder im Stil von "Tudor-Revival", der alte Fachholzbauten imitiert; dazwischen Hochbauten, housing projects, denen unzählige Eigenheime weichen mussten; dann Industriebrachen, asiatische Schriftzeichen mit Übersetzung ("Law Office of Li Li, Esq."), Bankbauten in Art Déco, Halal Meat & Products, All You Can Eat um $18,95, eine Backsteinkirche im Stil nordischer Gotik, eine Chinese School über einem Tattoo-Laden, einer Pizzeria, einem T-Mobile-Shop und Nails World; Ersatzteillager, Parkplätze, Stacheldraht, Self-Storage; eine sechsspurige Straße; Magen David Yeshiva; Ziegelbauten mit Feuerleitern, Bäume, eine Synagoge - und das alles binnen weniger Stationen, mit Blick von oben auf das vorüberziehende Stadtdiorama.

Wir steigen aus, gehen den Strand entlang nach Brighton Beach, der russisch-jüdischen Enklave am Ozean, "Little Odessa", alle Aufschriften auf Kyrillisch. Die Kellnerin im Tatiana Grill sagt auf die Frage, welchen Wodka sie empfehlen würde, Stolichnaya oder den amerikanischen: "Smirnoff! Is cheaper!" Wir fahren nach Sheepshead Bay, vor dem Zeitungskiosk liegen russische, hebräische, französische, deutsche, asiatische und ja, sogar englischsprachige Magazine auf.

Die Hipster sind da

Auch im Umbruch und teuer: Greenpoint, wo Künstler und Hipster hinziehen, die sich Williamsburg nicht mehr leisten können . . .
© Freund

"Man geht fünf Straßen weiter", sagt Chast, "und man ist in einer anderen Welt." Das stimmt auch am anderen Ende von Brooklyn, in Greenpoint. Der Kiosk an der dortigen Subway-Station zum Beispiel hat Zeitungen praktisch nur auf Polnisch. Aber fünf Straßen weiter sehen wir Yogastudios, Fahrradläden und Straßencafés, die Espresso mit kuriosem Milchersatz anbieten - untrügliche Zeichen, dass die Hipster angekommen sind.

Womit wir wieder am Beginn unserer Erkundung von Brooklyn wären. Denn Greenpoint ist eines der Viertel, die an Williamsburg angrenzen und wohin diejenigen gezogen sind, die sich die ehemalige Künstlerenklave nicht mehr leisten konnten. Luxus-Condos verdrängen das Ersatz-Village, Banker und Silicon-Alley-Gewinner aus Manhattan ziehen in sie ein. Es wird immer schwieriger, auch nur irgendein Stück Wohnfläche in attraktiver Nähe zum Zentrum zu finden.

Der "New Yorker" hat die Situation kürzlich auf einem Cover karikiert. Es zeigt die alte Brücke, die klassische Route von Manhattan "hinüber", doch wo sie auf der Brooklyner Seite münden sollte, steht ein großes Schild, "Kein Platz. Weiterfahren", mit Pfeil nach links, zu einer zweiten Brooklyn Bridge, die wieder zurückführt.

Berlin ist Williamsburg!

Die Gentrification, vor der die Jungen geflüchtet sind, hat Brooklyn eingeholt, auch die Wohnkosten in weiter entfernten Vierteln wie Bushwick, Ridgewood und sogar Bed-Stuy sind in Manhattaner Höhen gestiegen - und in Red Hook nur deswegen noch nicht, weil es an keine U-Bahn-Linie angeschlossen ist. Am Horizont ist vor Längerem sogar eine Stadt jenseits des Ozeans aufgetaucht, eine ähnlich tolerante, kulturaffine Umgebung, wie sie New York geboten hat, noch um die Hälfte oder weniger der Lebenshaltungskosten: Berlin ist für etliche Künstler das neue Williamsburg.

Die anderen vier Boroughs, so steht es in "Nonstop Metropolis", schauen auf die Entwicklungen in Brooklyn als Modell dessen, was sie selber gerne sein möchten - oder als Warnung vor dem, was ihnen geschehen könnte. Das mag insbesondere Queens betreffen. Der Bezirk ist noch größer und in gewisser Weise noch vielfältiger als Brooklyn. 140 verschiedene Sprachen, haben Ethnologen festgestellt, werden dort gesprochen. Sie bezeichnen Queens als Babel der Welt - eigentlich keine schlechte Voraussetzung für aufgeschlossene Geister.

Einige unter ihnen sind schon von Greenpoint ins angrenzende Queens gezogen, erste Lofts wurden bereits zu Ateliers und WGs umgewandelt. Die ersten Luxuswohntürme stehen allerdings auch schon dort, mit Blick auf genau das, was sie zerstören.

Michael Freund, freier Autor und Lehrbeauftragter für Medienkommunikation, lebte in den Siebzigerjahren in New York und besucht die Stadt seither regelmäßig.