Zum Hauptinhalt springen

Nach St. Germain: Feilschen um jeden Meter

Von Gerhard Strejcek

Reflexionen
Italienischer Grenzstein am Brenner.
© ullstein/ImageBroker/Stefan Auth

Landvermesser und Grenzregelungsausschüsse mussten die im Freidensvertrag nur grob festgelegten Grenzen markieren – eine Fortsetzung des Krieges mit subtilen Mitteln.


In Franz Kafkas Romanfragment "Das Schloss" erscheint eines Tages ein Landvermesser in einem verschneiten Dorf. Trotz seines selbstbewussten Auftretens und seiner Bemühungen, Informationen über die gräfliche Herrschaft und seine Aufgabe einzuholen, bleibt ihm der Eintritt in das Schloss verwehrt. Der Landvermesser erhält Gehilfen "von oben" zugeordnet, die sich als unfähig erweisen. Letztlich bleibt ihm ein klarer Auftrag versagt. Die Dorfbewohner fühlen es: Der Landvermesser hat wenig Macht, er kann seine Ansprüche nicht durchsetzen. In das Schloss wird er nie aufgenommen.

Ähnliche Erlebnisse wie Kafkas Landvermesser in der böhmischen Winterlandschaft hatten die Mitglieder der international zusammengesetzten Grenzregelungsausschüsse in der Ersten Republik. Insgesamt ging es um mehr als 1670 Kilometer an neuen Grenzen, die es zwischen 1921 und 1924 festzulegen und zu vermessen galt. Die sogenannten boundary commissions, die Anfang der Zwanzigerjahre die neuen Grenzabschnitte markierten und aufzeichneten, hatten die undankbare Aufgabe, die im Staatsvertrag von Saint Germain grob festgelegte Grenzlinie in oftmals unwegsamen Geländeabschnitten zu begehen und mit Grenzsteinen in Sichtweite voneinander festzulegen.

Originelle Designs

Die Italiener hatten sich originelle Designs überlegt, wie sie ihre neue "heilige" Grenze dokumentieren wollten, so etwa am Grenzstein e-49 am Brenner, der einen besonders eleganten "cippo" erhielt und dessen Inschrift auf die von oben erhörte Stimme der Mutter Rom Bezug nahm. Ähnliche Monumente stehen am Reschenpass, an der Draugrenze und am Ofenpass (Peč). Die Arbeiter, Vermesser und Helfer vor Ort hatten hingegen weniger ästhetische Bedürfnisse, sondern kämpften gegen Unwetter, steile Rinnen und Gletscherspalten.

Ihre Rechte waren zwar verbrieft, wurden aber von mürrischen Zöllnern und Finanzwächtern oft missachtet, wenn die ranghohen Offiziere nicht vor Ort waren. Auch die Einwohner, welche die Kommissionen unterstützen sollten, betrachteten die exotischen Gäste, die allerlei Gerät in Rucksäcken und Kraxen auf lichte Höhen schleppten, mit Misstrauen. Zudem musste der neue Grenzabschnitt von Bäumen befreit und ausgelichtet werden.

Besonderes Aufsehen erregte es, wenn eine Grenzlinie eine Schutzhütte halbierte (wie bei der Landshuter Hütte), am Dachfirst eines Gebäudes verlief, wie am Brenner-Postgebäude, oder zum Verfall einer preisgegebenen Hütte führte, wie am Helmspitz bei Sillian. All diese Vorgänge fanden in den letzten Jahren ihre wissenschaftliche Aufarbeitung, beginnend mit einer Expertenstudie des Technikers Heinz König 2004, einer bemerkenswerten Innsbrucker Diplomarbeit von Philipp Egger 2018 und einem instruktiven historischen Bildband von Marion Dotter und Stefan Wedrac, der im Vorjahr erschienen ist.

Hier aber soll es um eine Facette gehen, welche das Schicksal der Mitglieder der Grenzregelungsausschüsse und ihre verdienstvolle Arbeit beleuchtet, die nicht ausreichend gewürdigt wurde. Besonders der später von den NS-Schergen verfolgte Oberst Alphons Bernhard und sein Nachfolger Carl Hervay sowie der Kärntner "Unterkommissär" Franz Karl Kohla sowie der im Burgenland tätige Beamte Stefan Neugebauer erbrachten bemerkenswerte diplomatische Leistungen im Dienste Österreichs.

Für Kommissionsentscheidungen galt das Mehrheitsprinzip, wobei aber die Alliierten das Sagen hatten - die fünfköpfigen Ausschüsse standen unter britischer, französischer oder (im Burgenland) italienischer Leitung, ein japanischer Offizier ergänzte den Reigen der einstigen "Feinde". Somit hatten die österreichischen Mitglieder nur eine Stimme (gegen vier) und verfügten in einem kafkaesken Sinn zwar über das Recht zu verhandeln und wichtige Interessen der Heimat zu verteidigen, gingen damit aber oft unter, wie der Verlust von Schutzhütten und ganzen Ortsteilen zeigte.

Die besser ausgerüsteten Nachbarn sahen die Grenzziehung auch als strategische Aufgabe an, um ihren neuen Besitzstand zu sichern. Auf den für Italien wichtigen Passhöhen zeigten sie nur wenig Kompromissbereitschaft, für Bahnhöfe galt eine Sonderbestimmung, sodass die Station am Brenner schließlich italienisch wurde. Noch im März 1921 bereiste der deutsche Diplomat Harry Graf Kessler den Pass und berichtete von einer blutigen Schlägerei zwischen einem Tiroler Wirt und betrunkenen Angehörigen des Eisenbahn-Personals.

Karten und Geometer

In mancherlei Hinsicht erinnerte die Grenzfestlegung an eine Fortsetzung des Kriegs mit subtileren Mitteln. Zu ihrer Unterstützung erhielten die Delegationsmitglieder von beiden Seiten Kartenmaterial und Geometer, die das Gelände tachymetrisch aufnahmen und Reliefs zeichneten. Zudem leisteten drei Landesgrenzkommissionen "Propaganda"-Arbeit und sicherten den künftigen Bewohnern von Grenzorten ihre Unterstützung zu, was bei Zeugenbefragungen vor Ort nützlich war. Wer wegen Schmuggel oder illegalen Grenzübergängen verfolgt wurde, konnte sich womöglich einen Straferlass herausverhandeln.

Wer künftig in welchem Land leben sollte, war trotz bestehender Gemeinde- und Katastralgrenzen unklar; für die Grenzland-Bauern bedeuteten Dreimeterzäune auf der Weide und das Verbot, die Almen in Gehweite zu nutzen, schwere Schikanen. Die Österreicher, denen die Niederlage nach viereinhalb Jahren Krieg noch in den Knochen steckte, mussten sich zudem über den genauen Verlauf der Grenze mit den anderen Mitgliedern der gemischten Ausschüsse vor Ort einigen. Sie litten unter materieller Unterversorgung, miserablen Bergschuhen sowie Kompetenzstreitigkeiten, die in der jungen Republik auf der Tagesordnung standen. Seit 1919 bestanden drei Zentralgrenzkommissionen mit Sitz in Innsbruck, Graz und Wien, die sich als übergeordnete Behörden empfanden und ihre Vorstellungen gegenüber den österreichischen Vertretern der bevollmächtigten Ausschüsse durchsetzen wollten.

Das ging nur solange gut, bis eines Tages der interne Streit eskalierte und einer der prominentesten Kommissäre im westlichen Abschnitt, Oberstleutnant Alphons Bernhard, das Handtuch warf. Er wurde durch den Angehörigen einer bekannten Familie, Oberst Carl Hervay (früher Carl Chevalier de Hervay-Kirchberg) ersetzt. Einst hatte der Bruder des Weltkriegs-Fliegers Egon Hervay und des von Karl Kraus 1904 publizistisch hart angefassten steirischen Bezirkshauptmannes Franz Hervay im Bigamieprozess von Leoben aussagen müssen.

In Militärkreisen galt der Wiener Kavalleriekommandant Hervay, dessen Unterschrift auf den Grenzplänen aufscheint, aber als erste "k.u.k." Wahl. Nun diente er nolens volens der Republik. Auch Bernhard, der nach der Pensionierung 1921 zum Titularoberst befördert wurde, erwies sich als Legitimist, der sein Engagement für Habsburg und die "Vaterländischen" bitter bezahlen musste.

Bernhard & Pariani

Wie in Brouceks dreibändiger Biografie des Generals und NS-affinen Ministers Glaise-Horstenau zu lesen ist, verhaftete die Gestapo nur wenige Wochen nach dem "Anschluss" Österreichs im März 1938 regimetreue Offiziere, von denen Bernhard zunächst ins KZ Buchenwald und dann bis 1944 ins KZ Dachau verbracht wurde, von wo er schwer krank heimkehrte.

Gerade Bernhard und Hervay, der einen italienischen Orden als "feindliche" Auszeichnung ablehnte, mussten sich mit der Auslegung von unklaren Begriffen wie der "Wasserscheide" (Engl. "water-shed") herumschlagen. Ihnen stand mit dem damaligen Oberst und späteren Generalstabschef Alberto Pariani ein sehr begabter und intelligenter Offizier gegenüber, der später von Mussolini zum Attaché und zum Gouverneur von Tirana ernannt wurde.

Eine der vielen Pointen der Geschichte war, dass der Mailänder Pariani und der in Riva am Gardasee geborene Bernhard miteinander bestens kommunizieren konnten. Seine Italienischkenntnisse erleichterten dem ehemaligen k.u.k. Offizier die Arbeit, bei der er als Einziger immer Zivil trug und korrekt, aber bestimmt und stets mit einem ironischen Lächeln auftrat. Sein umfassendes Wissen nutzte ihm auch bei Interpretationsfragen. Denn der Staatsvertrag von Saint Germain war nur in Französisch, partiell auch in Englisch und Italienisch verbindlich, weshalb die heute noch in der österreichischen Verfassung bestehenden Minderheitenschutzregeln nur Übersetzungen der betreffenden neun Artikel sind.

Alpen-Wasserscheiden

Die damalige Grenzregelung ist nicht mehr gültig, sondern zwischenzeitig durch zwei Verträge aus den Jahren 1929 und 2006 mit Italien amikal geregelt worden. Doch nach dem Ersten Weltkrieg feilschten die Ausschussmitglieder um jeden Meter. Während die Wasserwege in ihrem Verlauf samt den schiffbaren Rinnen präzisiert wurden, sollte die Alpengrenze künftig dort verlaufen, wo die Wasserscheide zwischen den "Bassins" von Inn (Norden) und Etsch (Süden) oder der Drau (Norden) und den Flüssen Piave/Tagliamento (Süden) bestand.

Letztlich landet ein Regentropfen entweder im Schwarzen Meer oder in der Adria, was bis 1919 kein Thema gewesen war, nun aber besonders im Gletschergebiet zu Unklarheiten führte. Da hier der Wasserverlauf oft unsichtbar war, griffen die Ausschüsse zu Kompromisslösungen und Begradigungen, die am Similauner Gletscher dazu führten, dass der am 19. 9. 1991 entdeckte "Ötzi" Italien zugesprochen wurde, obwohl der Fundort am Tisenjoch Richtung Österreich entwässert. Heute gehört er wieder zu Österreich, allerdings ist der Gletscher dort bereits abgeschmolzen und der berühmte Ort, an dem ein mit italienischen Waffen versehener Mensch vor 5000 Jahren den Tod fand, abgesehen von einem Steindenkmal verwaist.

Aber immer noch finden Metallsammler und Raritätensucher Überreste von Soldaten, die für eine durch den EU-Binnenmarkt "devaluierte" Neuordnung der Grenzen ihr Leben geben mussten.

Literatur:
Marion Dotter/Stefan Wedrac: Der hohe Preis des Friedens. Geschichte der Teilung Tirols 1918 bis 1922, Tyrolia/Athesia, Innsbruck/Bozen, 2. Aufl. 2019, 296 Seiten.

Gerhard Strejcek, geboren 1963, ist Professor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und Autor.