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Der Facebook-Algorithmus und die "Gelbwesten"

Von Adrian Lobe

Reflexionen

Wäre die Bewegung der "gilets jaunes" in Frankreich auch ohne die "regionale" Strategie des sozialen Netzwerks derart in Fahrt gekommen?


Im Jänner 2018 traf das Facebook-Management eine Entscheidung, die von großer politischer Tragweite sein sollte. Der Konzern kündigte an, künftig stärker lokale Posts priorisieren zu wollen. Man werde mehr Inhalte lokaler Nachrichtenseiten einspeisen, teilte Facebook in seinem "Newsroom" mit.

Die algorithmische Neujustierung, welche an die Tradition der "Friends and Family First"-Doktrin anknüpft, sollte die Weichen stellen für den später aufgelegten Journalismusfonds, mit dem Facebook mit 300 Millionen Dollar den Lokaljournalismus fördert. Mit diesen "Reparationszahlungen" an die durch die Absorption von Werbeeinnahmen ausgedünnte Medienlandschaft wollte das soziale Netzwerk seinen durch Datenskandale und Fake News entstandenen Reputationsschaden korrigieren. Dieser Tage ist es ja durch das Urteil des EuGH, wonach es Hasspostings weltweit löschen muss, wieder ins Gerede gekommen.

Am 12. Jänner 2018 gründete Leandro Antonio Nogueira, ein Maurer aus Périgueux, die Facebook-Gruppe "Vous en avez marre? C’est maintenant!!" (zu Deutsch: Habt ihr die Schnauze voll? Jetzt ist es Zeit zu handeln!), um gegen das Tempolimit von 80 Stundenkilometern auf Landstraßen zu protestieren. Die Gruppe gewann rasch neue Mitglieder, und die Administratoren eröffneten unter dem Codenamen "Colère" (Wut) und der jeweiligen Département-Nummer neue lokale Gruppen. Zwei Wochen später sollte die Bewegung bereits 80.000 Mitglieder zählen - und landesweit in der Fläche verankert sein.

"Facebook-Revolution"

Am 27. Jänner 2018 zogen 250 aufgebrachte Bürger unter dem Banner "Colère 24", dem Namen ihrer Facebook-Gruppe, durch die mittelalterlichen Straßen von Périgueux, um gegen die hohen Lebenshaltungskosten und Benzinsteuer zu protestieren. Von der Dordogne nahm die Bewegung der gilets jaunes - das Erkennungszeichen trugen bei dem Protest in Périgueux nur einige wenige Demonstrationsteilnehmer - Fahrt auf und erstarkte zu einer landesweiten Protestbewegung.

Facebook avancierte zeitweise zum Revolutionsfernsehen, weil Live-Videos von Protesten vor Ort viral gingen und die ungefilterte Version der Wirklichkeit zeigten. Staatspräsident Emmanuel Macron, ein ehemaliger Rothschild-Banker, der Frankreich zu einer Start-up-Nation verschlanken wollte, musste dem Druck der Straße nachgeben und als Zugeständnis an die Protestbewegung den Mindestlohn erhöhen.

Der Informations- und Kommunikationswissenschafter Olivier Ertzscheid hat die These aufgestellt, dass die antifiskalische Fronde, die landesweit jede zweite Radarstation demolierte und selbst vor der Zerstörung von Denkmälern und Kunstwerken nicht zurückschreckte, von Facebooks Algorithmen angefacht wurde. Die zeitliche Koinzidenz zwischen der Newsfeed-Modifikation und dem exponentiellen Mitglieder-Wachstum der Facebook-Gruppen indiziere einen Kausalzusammenhang. War Facebook der Geburtshelfer der Gelbwesten?

Die These scheint auf den ersten Blick plausibel, weil Facebook in der Vergangenheit schon häufiger eine zentrale Rolle in politischen Konflikten spielte. So hat das soziale Netzwerk durch die halbherzige Bekämpfung von Hasskommentaren und Gewaltaufrufen in Myanmar die Vertreibung der muslimischen Minderheit der Rohingya befeuert. Der Arabische Frühling wurde von Chronisten als "Facebook-Revolution" apostrophiert - damals war in öffentlichen Diskussion noch nicht von russischen Troll-Fabriken und Fake News die Rede.

Die dezentrale Struktur der Gelbwesten-Bewegung, die ohne Anführer und politisches Programm auskommt und sich aus lokalen Organisationskomitees konstituiert, weist Ähnlichkeiten zur Webart der Facebook-Communitys auf. Die Gelbwesten verwahren sich jedoch gegen das Etikett der "Facebook-Revolution" - sie wollen einen US-Konzern nicht mit den Weihen der Revolution ausstatten (möglicherweise schwingt in dem revolutionären Gestus auch ein Anti-Amerikanismus mit). Selbst wenn das soziale Netzwerk kein Revolutionshelfer war, so war es doch ein Trendverstärker, indem Algorithmen die sozialen und kulturellen Ungleichheiten zwischen dem Zentrum und der Peripherie schärfer akzentuierten.

Algorithmen sind die Motoren und Vektoren politischer Bewegungen: Sie entscheiden nicht nur, was der Einzelne auf seinem Bildschirm sieht, sondern wohin und wie kraftvoll sich die Masse bewegt. Was sich unterhalb der Wahrnehmungsschwelle abspielt, ist eine Revolution der Geschwindigkeit: Jedes Mal, wenn der Nutzer auf Facebook eine Aktion durchführt - Gruppe beitreten, Like-Button anklicken oder kommentieren -, werden Daten mit Beinahe-Lichtgeschwindigkeit (300.000 km/s) über Glasfaserleitung über den Atlantik an US-Serverfarmen übertragen. Aufgrund von Modellberechnungen werden dem Nutzer dann maßgeschneiderte Beiträge in seinem Newsfeed ausgespielt. Das, worüber man in der Öffentlichkeit wochenlang, manchmal monatelang diskutiert, wurde in Bruchteilen von Sekunden berechnet. Daraus resultiert möglicherweise das Gefühl, dass sich alles immer schneller dreht, aber gesellschaftspolitisch alles stillsteht.

Bewegte Daten

Dass in amerikanischen Rechen- und Kontrollzentren das Debattenklima in Europa und großen Teilen der Welt reguliert und die politische Agenda mitgesteuert wird, könnte man an sich als manipulative Einflussnahme auf das politische System werten, das in seiner Subtilität über die Soft Power (Joseph Nye), also die Fähigkeit, die Präferenzen von Bürgern anderer Staaten durch Kultur oder Sport zu ändern, weit hinausgeht. Es geht hier aber nicht um die potenziell souveränitätsgefährdenden Mechanismen demokratischer Willensbildung, die sich am Backend von Serverfarmen abspielt, sondern um den politischen Modus.

Politik ist heute ein Bewegtwerden von Datenpaketen, wobei das Gefühl des Abgehängtseins eine Folge der zunehmenden Beschleunigung von Kommunikationsvorgängen ist. Im Jahr 2011 betrug die Zeit für eine Transaktion beim Hochfrequenzhandel fünf Mikrosekunden. Heute benötigt ein Computer dank der gesteigerten Rechenpower bloß noch 84 Nanosekunden, also Milliardstel einer Sekunde. Computerwissenschafter von Google und der Stanford University haben eine Technologie entwickelt, welche die Zeit sogar bis auf 100 Milliardstel einer Sekunde herunterbricht. An der Wall Street testen Systemingenieure einen Algorithmus, der ein gigantisches Computernetzwerk mit Nanosekundenpräzision synchronisiert. Mikrosekunden können im sogenannten Blitzhandel Milliarden bedeuten.

Während die "Flash Boys" mit Supercomputern einen restriktiven Markt im Nano-Bereich geschaffen haben, versuchen Tech-Konzerne aus immer geringeren Ladezeiten Profit zu schlagen. Wenn man in Google nach der Frage "que veulent les gilets jaunes?" (was wollen die Gelbwesten?) sucht, erscheint über der Trefferliste der Hinweis: "Ungefähr 58.800.000 Ergebnisse (0,32 Sekunden)".

In ihrem Buch "Wie Google tickt - How Google Works" schreiben Eric Schmidt und Jonathan Rosenberg: "Wir waren schon immer der Überzeugung, dass Geschwindigkeit eines der Hauptkriterien für die Suchqualität war, und wir waren stolz darauf, den Großteil der Suchanfragen in weniger als einer Zehntelsekunde beantworten zu können." Es geht darum, immer mehr Anfragen durch die Internetleitungen zu jagen, immer mehr Anfragen in immer weniger Zeit zu bearbeiten, um noch mehr Geld durch Werbung zu verdienen. Facebook ist in dieser Logik ein Teilchenbeschleuniger, der die Atomisierung und Kernspaltung der Gesellschaft unaufhaltsam vorantreibt.

Der französische Philosoph Paul Virilio schrieb in seinem Werk "Politik und Geschwindigkeit" (1980): "Es ist anscheinend Zeit, sich klarzumachen, dass die Revolution die Bewegung ist, aber die Bewegung keine Revolution. Die Politik ist nur ein Getriebe, eine Übersetzung von Geschwindigkeit, deren Schnellgang die Revolution ist."

Die Frage ist, ob Politik die rasenden Geschwindigkeiten überhaupt noch zu übersetzen vermag, ob Politik noch das Getriebe oder nicht vielmehr der Getriebene einer datengetriebenen Gesellschaft ist und Daten der eigentliche Treiber von Entwicklungen sind. Virilio, der im September 2018 verstarb, hat die Gelbwesten nicht mehr erlebt. In einem Essay für die Zeitschrift "Le Monde Diplomatique" 1995 - in dem Jahr bewarb Microsoft sein legendäres Betriebssystem Windows 95 mit dem Rolling-Stones-Hit "Start Me Up" - identifizierte Virilio die Augenblicklichkeit und den Sofortismus als Kernproblem der damaligen Zeit. Er schrieb visionär von den "Autobahnen der Information" und der Desorientierung, welche diese verursachen.

Nach Virilio ist die Straße der Ort, an dem revolutionäre Bewegungen Fahrt aufnehmen und ihre "kinetische Energie" entwickeln. Was für die Revolutionäre von 1789 die Straße war, ist für die postrevolutionären Gelbwesten die Datenautobahn. Das In-Bewegung-Setzen der Massen ist die zentrale Machttechnik der Dromokratie, der Herrschaft der Geschwindigkeit. "Je mehr Massen unterwegs sind, umso weniger ergibt sich die Notwendigkeit zu großen Repressionen; um die Straße zu leeren, genügt es, allen die Straße zu versprechen."

Die Straße ist im politischen System Frankreichs nach wie vor ein wichtiger Veto-Spieler, der Reformvorhaben zu Fall bringen kann. In diesem Sinn agiert auch Macron dromokratisch, indem er die Erhöhung der Benzinsteuer aussetzt und das Versprechen auf die Straße wiederherstellt. Das Kalkül: Solange die Blechlawine rollt, gehen die Menschen nicht auf die Straße, bleiben die gelben Westen im Kofferraum. Mobilität als Demobilisierungsstrategie.

Wenn der Telekommunikationskonzern o2 seine "mobile Freiheit" mit Slogans wie "Freiheit ist, wenn am Ende der Serie noch reichlich Daten übrig sind" bewirbt, dann verbrieft die Garantie von Highspeed-DSL ja nicht nur maximale Geschwindigkeit auf Datenautobahnen, sondern auch die Freiheit an sich. "Freiheit ist, wenn dich nichts mehr aufhält", heißt es auf einem Werbeplakat von o2. Darauf ist ein Mann zu sehen, der mit seinem Handy in der Hand durch eine Glasscheibe auf den Betrachter zuspringt.

Statischer Stream

Freiheit ist in dieser Optik ein dynamischer Wert, der letztlich nur über die kinetische Energie herzustellen ist. Allein, die Dialektik zwischen Mobilität und Mobilisierung bzw. Mobilmachung und Demobilisierung (Blockade von Kreisverkehren bzw. Zugeständnisse) droht zu kippen, je mehr die Datenautobahnen als Relais in die Mechanik der politischen Kommunikation hineinstoßen. Über diese digitalen Verkehrswege werden Kommunikationsdaten kanalisiert, werden die Zirkulationen der mobilen Internetnutzung gewährleistet.

Die Ironie ist, dass sich der Protest der gilets jaunes gegen das Tempolimit, der am Anfang der Bewegung stand, gewissermaßen systemkonform mit dem Hochgeschwindigkeitsmedium der Glasfaser artikulierte und über das Vehikel von Datenpaketen zu einer rasant anwachsenden Protestbewegung wurde. Und je mehr die Bewegung Fahrt aufnahm, desto langsamer wurde der Verkehr. Mathematisch formuliert: Wo sich die politische Diskussion nahezu in Lichtgeschwindigkeit bewegte, tendierte die Geschwindigkeit auf den blockierten Straßen gegen null.

In dieser Paradoxie liegt gerade das Jakobinische der Gelbwestenproteste begründet: Man will gegen die als ständisch wahrgenommenen Verkehrshierarchien - Tempolimits auf Landstraßen, Fahrverbote in Großstädten und gleichzeitig freie Fahrt für Elektroroller -, die das Gefühl erzeugen, von der Zentralregierung in Paris ausgebremst zu werden, mit einer Beschleunigung politischer Verfahren reagieren.

Wenn man landesweit die Kreisverkehre besetzt, wird man vom politischen Establishment viel schneller gehört, als wenn man seinem Abgeordneten einen Brief schreibt, der womöglich nicht einmal gelesen wird. Und man forciert - gerade im semipräsidentiellen System Frankreichs, wo dem Präsidenten eine große Exekutivmacht zukommt - eine Akzeleration der Gesetzgebungsmaschinerie. Gleichwohl wird dem Land seitens Ökonomen ein Reformstau bzw. ein politischer Immobilismus attestiert.

In seinem Essay "Der rasende Stillstand" (1997) hat Virilio das Paradoxon beschrieben, dass die Beschleunigung der Gesellschaft zu einem Zustand der Bewegungslosigkeit führt. Das Automobil leite sich von seiner technischen Herkunft nicht vom Karren oder der Postkutsche ab, sondern vom häuslichen Mobiliar, dessen physische Fortbewegung das motorisierte Vehikel ist. Verkehr hat für Virilio etwas Statisches: Nicht wegen der Trägheit der Masse oder der vielen Staus, sondern weil man sich im Fahrersitz kaum vom Fleck bewegt. Autofahren war für ihn, sehr französisch gedacht, "Fortbewegung, ohne sich zu bewegen". Einen Zustand von Bewegungslosigkeit identifiziert er auch in der elektronischen Bilderwelt: auf das unaufhörliche Parken folge das Standbild.

Man kann diese Idee der Statik auch auf Facebook übertragen, wo zwar das Bild nie stillsteht, die rasenden Bewegtbilder aber auf statischen Modellen beruhen, die eine gewisse Serialität und Wiederholbarkeit von Abläufen unterstellen. An die Stelle des Standbilds tritt der Stream. Ein Simulakrum, das simuliert, dass jeden Moment irgendetwas passiert, obwohl nichts geschieht. Facebook gleicht einem Hometrainer mit Fahrsimulator: Man klickt, liked, teilt und kommentiert, man strampelt sich ab, und man sieht auf seinem persönlichen Bildschirm, dass man mit seiner physischen Bewegung etwas bewegt, ohne selbst seinen - geografischen wie politischen - Standpunkt zu verändern. Allein, in dieser egozentrischen Politmechanik ist man mehr ein Datenbewegter als ein politisch Bewegter. Alles dreht sich um die eigene Achse.

Algorithmen kennen die politischen Präferenzen, und sie berechnen im Voraus, welche Freunde, Seiten und Gruppen am ehesten mit diesen korrespondieren. Gewiss, man sollte das digitale Subjekt nicht eilfertig zum willfährigen Empfänger von Programmierbefehlen herabstufen und ihm jedwede Autonomie absprechen. Doch in der digitalen Gesellschaft werden politische Diskussionen "initialisiert" und am "Laufen" gehalten, indem Datenpakete binnen Bruchteilen von Sekunden über den Globus gejagt werden.

Rasender Stillstand

Womöglich verweist die Bewegung der Gelbwesten aber nicht bloß auf einen Strukturdefekt im politischen System Frankreichs, sondern auch auf einen im algorithmischen System Facebooks: Dass sich der Protest auf nationaler Ebene weder kulturell noch politisch repräsentiert fühlt, liegt ja auch daran, dass diese Dimension algorithmisch wegreguliert wurde. Den cri d’alarme aus den Nachbar-Communitys, dass die eigene Stimme in Paris nichts gelte, hörte man in den Echokammern umso lauter. Facebook wurde zum Kristallisationskern einer politischen Entwicklung, die es selbst induziert hat. Darin offenbart sich einmal mehr die Zirkularität kybernetischer Ordnungen.

In den lokalen Facebook-Gruppen der gilets jaunes werden immer dieselben ermüdenden Live-Videos defilierender Protestierender eingestellt, sodass man den Eindruck gewinnt, die Bewegung trete politisch auf der Stelle. Es hat fast schon etwas Simulatorisches, wie die Demonstranten im Gleichschritt immer wieder in einem kontinuierlichen Feedback-Loop auf der Straße laufen.

War der Protest der Gelbwesten möglicherweise ein Bug (= Fehlverhalten von Computerprogrammen) im Betriebssystem von Facebook? Wären die Leute auf die Straßen gegangen, hätte Facebook in den Landeseinstellungen "nationale" Posts priorisiert? Vielleicht haben die Sozialingenieure ein solches Modell bereits simuliert und aufgrund etwaiger destabilisierender Effekte für das eigene Geschäftsmodell identifiziert, weil sich gelangweilte Nutzer dann abwenden. Aber solange der Stillstand weiter rast, verdient der Konzern immer noch ein paar Werbedollar mehr.

Adrian Lobe, geboren 1988 in Stuttgart, ist Politikwissenschafter und Journalist mit dem Fachgebiet Informationstechnologie. Soeben ist im Verlag C.H. Beck sein Buch "Speichern und Strafen. Die Gesellschaft im Datengefängnis" erschienen.


Quellen:

https://newsroom.fb.com/news/2018/01/news-feed-fyi-local-news/

https://www.liberation.fr/debats/2018/12/14/comment-les-gilets-jaunes-sont-nes-en-janvier-sur-un-rond-point-de-dordogne_1697685

https://www.nytimes.com/2018/06/29/technology/computer-networks-speed-nasdaq.html

https://www.monde-diplomatique.fr/1995/08/VIRILIO/6578