Zum Hauptinhalt springen

Kulturgeschichte des Zitats

Von Michael Hafner

Reflexionen

Vom Erkennungszeichen des Bildungsbürgertums zu unkoordinierten Worthülsen mit Pathos. Über den Niedergang einer Kulturtechnik.


Bis vor kurzem war rund um die Kulturtechnik des Zitierens alles klar: Das Zitat war schmuckes Aushängeschild des weltgewandten Bildungsbürgers und Erkennungszeichen kanonisch Kultivierter . . .
© Cartoon: Margit Krammer

Karrieren zerfallen zu Staub, Ruhm und Ansehen werden im Handumdrehen pulverisiert, Titel und Ansprüche müssen reumütig zurückgegeben werden, wenn die Regeln nicht beachtet werden. Generationen von Studierenden ächzen unter der Last der komplexen Regeln. Und Wissenschafter entwarfen ganze ökonomische Systeme rund um die Tradition des gegenseitigen Erwähnens.

Bis vor kurzem war rund um die Kulturtechnik des Zitierens alles klar: Das Zitat erfüllte wichtige Autoritätsfunktionen im Wissenschaftsbetrieb, es war schmuckes Aushängeschild des weltgewandten Bildungsbürgers und Erkennungszeichen kanonisch Kultivierter. Falsches Zitieren konnte die Karriere kosten. Dann folgte mit Online-Zitatesammlungen die Gelegenheit zu zitieren, ohne gelesen zu haben, die verwandelte sich in die Gepflogenheit, zu zitieren, ohne es zu wissen - und dann kamen inspirierende Sinnsprüche und "Nachdenkliche Sprüche mit Bilder" (sic!). Heute finden wir in den sozialen Medien, beim Blättern in Unternehmensbroschüren und staunend auf Wahlplakaten eine Sintflut von Sinnsprüchen, die in den meisten Fällen gar nichts mehr bedeuten, aber pompös klingen.

Aufmerksamkeit finden

Die Tradition, mit den Ideen fremder Menschen frischen Glanz auf eigenes Schaffen zu werfen, hat eine steile Talfahrt genommen. Machen wir uns auf die Reise entlang der Stationen dieses Niedergangs.

In "Ökonomie der Aufmerksamkeit" (1998) skizzierte Georg Franck ein detailliertes kapitalistisches System, dessen zentrale Werte nicht Geld oder physische Waren sind, sondern Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit hat viel mit Geld gemeinsam: Sie muss verdient, sie kann ausgeliehen, sie kann akkumuliert werden. Und sie kann - sofern bereits in ausreichendem Maß vorhanden - mit einem leistungsfreien Zusatzeinkommen aufgefettet werden: Wer viel Beachtung findet, muss nicht mehr viel tun, um noch mehr Beachtung zu finden. Diese Person wird beachtet, weil sie früher beachtet wurde - nicht, weil sie etwas besonders Aufsehenerregendes getan hat.

Während der Titel der "Ökonomie der Aufmerksamkeit" es zum geflügelten Wort geschafft hat, ist ein wichtiger Aspekt des "Mentalen Kapitalismus" (so der Titel des weniger beachteten Nachfolgewerks von Franck, 2005) weitgehend unter den Tisch gefallen: Aufmerksamkeit funktioniert nicht nur deshalb als zentraler Wert eines kapitalistischen Systems, weil sie begehrt ist, sondern weil sie auch investiert werden kann. Wissenschafterinnen und Wissenschafter - die, und nicht Instagram-User und Twitter-Expertinnen, hatte Franck eigentlich im Blick - müssen sich entscheiden, worin sie ihre Aufmerksamkeit investieren, um etwas zu schaffen, das wiederum Aufmerksamkeit verdient und so das investierte Kapital mit Verzinsung zurückbringt.

Zitate erfüllen vor allem die Funktion, den eigenen Überlegungen mehr Gewicht zu verleihen. Das Zitieren angesehener Quellen war ein Autoritätsbooster, musste aber trotzdem gezielt dosiert eingesetzt werden: Übermäßiges Zitieren rückte die eigene Perspektive in den Hintergrund. Das Zitieren nicht ausreichend angesehener Quellen oder solcher, die in den falschen Kreisen angesehen sind, wirkte sich ebenfalls negativ aus. Und sogar das Zitiertwerden war nicht risikolos: Man wollte schließlich die richtige, nicht beliebige Anerkennung und Bestätigung.

Daran hat sich viel geändert. Das Streben nach Aufmerksamkeit hat eine gewaltige Popularisierungsbewegung hinter sich gebracht. Heute sind nicht nur einzelkämpfende Wissensarbeiter darauf angewiesen, bekannt zu sein. Ego-Branding-Coaches empfehlen jedem arbeitenden Menschen, zur Marke zu werden. Bekanntheit ist die Basis, ohne die man in vielen Bereichen gar nicht mehr mitreden kann. Und Digitalisierung hat Kanäle und Formate geschaffen, in denen Menschen ihre eigenen szenespezifischen Aufmerksamkeitsmärkte bilden.

Damit entstand Bewegung:
Zitatesammlungen waren in den statischen Urzeiten des WWW beliebte Trafficbringer. Vielschichtige Inhalte, breit gestreute Themen, große Namen, viele Buchstaben - das brachte Suchmaschinentreffer. Albert Einstein, Benjamin Franklin, Henry Ford, Mark Twain, Oscar Wilde - das sind die beliebtesten Stichwortgeber, deren Aphorismen und Überschriften gern genutzt wurden.

Social Media weckten neuen Bedarf an Zitaten. Selbstdarstellungsmöglichkeiten für alle, Profile, die mit Mottos geschmückt werden wollten, waren neue Betätigungsfelder, in denen auch keine strengen Regeln mehr herrschten. Erst verabschiedete man sich vom Wortlaut, dann von der Quelle und schließlich auch vom Bewusstsein, dass diese schönen plakativen Worte einmal mit Absicht gesagt wurden.

Dann kamen "Nachdenkliche Sprüche mit Bilder". Anfänglich eine Art Zitatesammlung mit kreativer Rechtschreibung, entwickelte sich diese Facebook-Seite schnell zum Inbegriff der Nonsens-Weisheit - oft ununterscheidbar von ernst gemeinten Mottos, manchmal auch nach einem ähnlichen Prinzip entstanden . . .

Geliehener Glanz

Die "seriösen" Geschwister von "Nachdenkliche Sprüche mit Bilder" sind Inspirational Quotes, inspirierende Zitate. Diese werden oft Zitate genannt, obwohl sie keine sind, sie sollen sich nur so anfühlen. Eigentlich sind es bloße Behauptungen, die den Gestus eines Zitats nachahmen und so helfen sollen, einer Person oder Marke einen Status zu verleihen, den sie sonst nicht hätte.

Inspirational Quotes zieren die Pitchdecks, also die Präsentationsfolien von Start-ups, sind das "humorvolle" oder "anregende" Element in den Powerpoint-Wüsten der Corporate-Welt und prangen als eingedampftes Ergebnis von Employer-Branding-Prozessen in den Kopfzeilen von Personalinseraten. Und sie geraten gerade aus ganz anderen Gründen in Verruf. Junge Linke, die über Social Media mit dieser Omnipräsenz aufgewachsen sind, kritisieren neuerdings Inspirational Quotes, weil diese unsolidarisch und klassistisch sind. Sie erwecken den Eindruck, als könnte jeder alles schaffen, als sei Erfolg eine Frage der persönlichen Verantwortung; sie ignorieren oder überdecken strukturelle Benachteiligung . . .

Mit der Pluralisierung und Beschleunigung der Selbstdarstellungsmöglichkeiten sind schlaue Sprüche gefragter denn je. Immer mehr Berufssparten leben in steigendem Ausmaß von Aufmerksamkeit. Es reicht nicht aus, ein Produkt zu verkaufen, eine Dienstleistung zu erbringen, ein politisches Programm zu vertreten, es braucht den Glanz des größeren Ganzen. Und das muss knapp auf den Punkt gebracht werden, Social-Media-Shareables und Presseaussendungs-Headlines sind ungeduldige Formate. Große Worte, salbungsvoller Ton mit ein wenig Vintage-Touch - gute Sprüche sind heute Accessoires wie teure Designerstücke. Was sie genau bedeuten oder welche
ideengeschichtlichen Anleihen sie aufnehmen, das ist nicht einmal mehr zweitrangig.

Vielleicht ist damit der Boden erreicht: Zitate spielten früher an große Gedankengebäude an und vermittelten einen pointierten Zusammenhang zu erprobten Überlegungen. Dann wurden sie zu Dekorationsobjekten und verloren die Verbindung zu ihrem Ursprung. Schließlich verloren sie auch ihren ursprünglichen Nutzen, nämlich den, Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung zu lenken. Und zuletzt verloren sie auch noch den schlichten Sinn.

Wie war das möglich? Eine der Bedingungen liegt in einem Irrtum in Francks "Ökonomie der Aufmerksamkeit": Eine Gesamtmenge an Aufmerksamkeit lasse sich nicht vermehren, postulierte Franck, dieser seien natürliche Grenzen gesetzt. So wie sich aber Geld in der Finanzindustrie vermehren lässt (so lange, bis es real gebraucht wird), haben moderne Kommunikationswege aber auch Surrogate für Aufmerksamkeit geschaffen, die sich grenzenlos vermehren lassen. Ausschlaggebend ist heute nicht die Wirkung, schon gar nicht die Tragfähigkeit einer Idee, im Vordergrund steht die schlichte Reichweite. Das ist die Grundlage, auf der heute Relevanz funktioniert.

Sinnleere Behauptungen

Die Aufmerksamkeitssurrogate sind Favs, Likes, Shares - es sind nüchterne ökonomische Kennzahlen. Es sind kleine Handgriffe, die den Aufmerksamkeits-Investor einen Klacks kosten, den Empfängern aber annähernd gleich viel bringen wie echte Aufmerksamkeit.

Das Zitat als Kulturtechnik hat sich dabei in mehrfacher Hinsicht verwandelt: Zum einen wurde es von der bedeutungsreichen Anspielung in den betulichen Sinnspruch transformiert. Zum anderen wurde es durch schlichte Wiederholung abgelöst: Man sagt etwas, und das wiederholt man so oft, bis es ausreichend beachtet wurde (oder bis klar ist, dass es eben nicht funktioniert). Und schließlich wurde das Zitieren, in seiner digitalen Form des Sharings, zu einer neuen Technik, Aufmerksamkeit in geordnete Bahnen zu lenken. Hier müsste eine Psychologie des Ignorierens und Blockierens anschließen - aber das ist bereits eine andere Geschichte.

Der Inhalt ist dabei großteils egal. Das lässt sich auch daran erkennen, dass sowohl Zitate als auch schlaue Sprüche heute zunehmend als Bilder weiterverbreitet werden, nicht mehr als Text. Stylishes Layout muss sein.

Und jetzt? Ich plane bereits eine Sammlung der pompösesten sinnleeren Behauptungen, die folgerichtig dann einen anonymen Kanon der absurden Selbstdarstellungen und unhaltbaren Behauptungen ergeben müsste. Vielleicht sollte man diesen dann noch mit einem Kommentarteil ergänzen, der zu ergründen versucht, was so manche Sprüche alles anklingen ließen, wollte man sie sinnvoll zu entschlüsseln versuchen.

Es wäre etwas in der Art: "Heraklit und Freud liefern einander ein stummes, aber erbittertes Duell zur blauen Stunde kurz vor Sonnenuntergang in einer Mohnblumenwiese, während in den schattigen Tiefen der Wiese bereits schleimige Monster ihre mit mehrfachen Zahnreihen bewehrten Mäuler öffnen, um letzte Reste von Sinn in ihren säuregefüllten Mägen verschwinden zu lassen."

Michael Hafner, geboren 1973, betreibt eine Werbeagentur, verlegt Comics und schreibt über Literatur, Philosophie und Reisen.