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Der Glanz der Ignoranz

Von Michael Hafner

Reflexionen

Fakten verdrehen, Inhalte wiederholen, bei seiner Story bleiben, blockieren: Sich ignorant zu geben ist ein Machtinstrument - auch und vor allem im Social-Media-Zeitalter.


Eigentlich ist es bewundernswert: Zwei Halbwahrheiten, eine aalglatte Lüge, drei maßlose Übertreibungen - fertig ist die angriffige Positionierung, mit der ein Lobbyist seine Hausiererrunde dreht. Manchmal ist es auch Mitleid erregend: Der ehemalige Unternehmensboss twittert eine Dummheit nach der anderen, kann mit Kritik, die ihm dann entgegenschlägt, nicht umgehen, sieht die Schwachpunkte seiner Position nicht - und zieht sich zurück. Manchmal ist es auch einfach nur einleuchtend: Die Politikerin bleibt klar bei ihrer Botschaft, wiederholt ihre Aussagen konsequent, ist konsistent, glaubwürdig und eindeutig im Gespräch. Sie lässt sich weder beirren noch verunsichern - man glaubt ihr.

Ein Element, das diese drei Szenarien unterschiedlich erfreulicher Begegnungen verbindet, ist Ignoranz. Ignoranz? Trotz all des Bemühens, des Drangs, etwas voranzubringen und die Welt zu verändern? Früher war Ignoranz ein Makel der Mächtigen, deren Bäuche in dunklen Anzügen steckten, während sie kettenrauchend in breiten Klubfauteuils saßen und sagten, wo es langgeht. Ihre Meinung zählte, alles andere war nichtig.

Heute sind eine Menge diverser Themen im Zentrum der Aufmerksamkeit angelangt, mit bescheidenen Mitteln lässt sich viel Beachtung erreichen. Die Aktivistin hat auf Social Media mehr Reichweite als der Chefredakteur, der Lobbyist ist häufiger in den Medien als die eigentliche Entscheidungsträgerin. Viele Themen können mit vielen Stimmen gleichzeitig erzählt werden.

Ein Weg zum Erfolg

Von dieser Entwicklung haben sich Kommunikationsexperten vor noch nicht allzu langer Zeit Öffnung, Demokratisierung und Vielstimmigkeit versprochen. Die Allgegenwart von Information, die leichte Auffindbarkeit von Fakten müssten zu viel schnelleren und pragmatischeren Entscheidungen führen, Kompromisse ergäben sich praktisch von selbst. Das Gegenteil scheint allerdings der Fall zu sein. Je mehr verschiedene Stimmen sich Gehör verschaffen können, desto wichtiger ist es, sich in der eigenen Erzählung nicht stören zu lassen.

Von einem Charakterfehler jener, die am Wort sind, ist Ignoranz heute zu einem wichtigen Kommunikationsskill jener geworden, die etwas durchsetzen wollen. Ignoranz stärkt das Bild des entschlossenen, gezielt und kompetent voranschreitenden Akteurs, der im Gegensatz zum verkopften, verworrenen, verlorenen Verwirrten klar und verständlich kommuniziert und das Geschäft beherrscht.

Das ist ein ziemlicher Wandel. Ignoranz und Unbeirrbarkeit sind das Markenzeichen der Erfolgreichen. Wer bei seiner Story bleibt, dem glaubt man sie auch irgendwann einmal. Wer gelernt hat, dass Ignorieren, Faktenverdrehen und Wiederholen die besten Mittel sind, um mit Einwänden umzugehen, erzählt genau die Story, die er will. Im Regime der Ignoranz ist ein offenes Ohr für Argumente ein Zeichen von Charakterschwäche. Donald Trump und Boris Johnson sind die Tanker dieser Taktik. Aber sie sind nicht allein.

Denn Ignoranz ist ein leicht zu beherrschendes Machtinstrument für alle. Sie verschafft demjenigen Vorteile, der seine Geschichte so erzählt, als gäbe es keine Alternativen. Derjenige nimmt den verfügbaren Raum alleine für sich ein und hält sich nicht mit historischen Abhängigkeiten, Verantwortung oder Beziehungen auf. Zwischentöne schaden der Prägnanz, pointierte Positionen sind gut für den eigenen Pressespiegel. Ignoranz ist der direktere Weg zum Erfolg.

Ignoranz kann aber auch ein Instrument des Widerstands sein: Sie setzt sich über Zuschreibungen hinweg, die handelnde Personen einschränken sollen: Der unerfahrene junge Mann, die freche Frau, die zornige Feministin, der engagierte Öko - all das sind Bilder, die mit wenigen Worten gezeichnet werden, eine Vorstellung von einem Menschen entstehen lassen und diesen Menschen dazu zwingen, sich damit auseinanderzusetzen. Er ist angehalten, das Bild richtigzustellen (oder mit dem Klischee zu leben). Es sei denn, man ignoriert diese Zuschreibung - und am besten auch noch jene, die sie vorbringen.

In diesem Szenario der Ignoranz kann allein die eigene Position Gültigkeit beanspruchen. Persönliche Perspektiven werden dann zum bestimmenden Element im öffentlichen Diskurs. Spätestens seit Identitätsfragen eine tragende Rolle nicht nur in der Politik spielen, ist die persönliche Betroffenheit zur rhetorischen Kunstfigur geworden, die Argumente ersetzt. Persönliche Betroffenheit entscheidet darüber, wer bei welchem Thema in welchem Ausmaß mitreden darf.

Emotionale identitätsbezogene Argumente zielen darauf ab, anderen den Mund zu verbieten. Da ist es verlockend, dem eine vermeintlich klare Rationalität entgegenzusetzen und auf Vernunft zu pochen. "Wie ignorant, wie selbstgerecht", antworten darauf die Jünger der Betroffenheit.

Das große "Ist so"

Damit stehen dann einander ignorierende Denk- und Diskursmodelle gegenüber, die keinen gemeinsamen Nenner finden. Im Gegenteil: In einer Kommunikationsordnung, deren Königsdisziplin die Reichweite ist, ist Ignoranz die Königsmacherin. Die Größeren ignoriert man, um deren Position nicht zu bestärken. Die Kleineren ignoriert man, um sie nicht an der eigenen Reichweite teilhaben zu lassen. Die Lästigen ignoriert man, um sie klein und auf Distanz zu halten. Und die Guten ignoriert man, um den Glanz nicht teilen zu müssen. Die eigene Story darf keine Risse und Brüche bekommen.

Eine praktische Ausformung von Ignoranz-Taktiken ist das Blockieren auf Social Media: In der Theorie ist der Block ein Mittel, um Belästiger in die Schranken zu weisen und sich vor unliebsamen Attacken zu schützen. In der auf Twitter beobachtbaren Praxis ist das Blockieren aber vielmehr eine Strategie, ungestört beim eigenen Thema bleiben zu können. Wortführer blenden andere Stimmen aus, halten ihr Profil "sauber" und sorgen dafür, dass ihr Publikum unbehelligt von Zweitmeinungen bleibt. Auch auf Parteiprofilen auf Facebook weicht die vorgebliche Freude am Dialog mit dem Volk schnell der Tendenz zur einheitlichen Meinung, die am leichtesten durch Löschen erreicht wird. Und gerade sich radikal gebende Aktivisten, die für ihre eigenen Ideen fundamentale Neuheit beanspruchen, ersetzen Argumente gern durch "Lösch dich" oder "Ist so".

Ignoranz als Kommunikationsstrategie schließt den anderen aber nicht immer völlig aus. Schließlich ist auch das Entstehen einer eigenen Spielart ignoranter Kritik zu beobachten: Diese verschwendet keine Zeit damit, Gegenargumente zu formulieren, sondern greift die denkbar dümmsten Argumente für etwas auf, das es zu kritisieren gilt, und arbeitet sich an diesen ab.

Dass diese Argumente oft nur als Scheinargumente erfunden wurden, ist dabei Nebensache - der Gegenstand der Kritik kann trefflich ignoriert werden, stattdessen werden fröhlich andere Bilder gezeichnet, in denen jene, die es eigentlich betreffen sollte, tunlichst nicht zu Wort kommen. Political Correctness oder Feminismus sind besonders häufig Gegenstand ignoranter Kritik; Positionen liberaler Sozialpolitik oder Reflexionen zu Männlichkeit werden aber ebenso gern Zielscheibe. Warum, wenn diese unerfreulichen Szenarien so leicht erkennbar sind, wenn sie all dem widersprechen, was vernünftige Menschen von Kommunikation erwarten, ist Ignoranz dann trotzdem die zeitgenössische Allzweckwaffe der Kommunikation schlechthin?

Es liegt daran, dass wir neugierig sind und dass wir lange Zeit wohl doch an das Gute in unserem Gegenüber glauben. So smart wir in unseren Augen auch sein mögen, grundsätzlich gehen wir doch immer erst einmal davon aus, dass unser Gegenüber eher nicht lügt. Im Alltag unterstellen wir Menschen, die Wahrheit zu sagen.

Neues ist verlockend

Und widersprüchliche Signale, mit denen wir vorerst gar nichts anfangen können, wecken unsere Neugier. Sie scheinen auf den ersten Blick den größten Neuigkeitswert zu liefern. Die Philosophen Rudolf Carnap und Yehoshua Bar-Hillel haben dieses Paradox in ihren Überlegungen zur Informationstheorie formuliert: Ein Merkmal von Information, so die Überlegung, ist auch Neuigkeitswert; Information besteht aus Daten, die einen Unterschied machen. Das bedeutet auch: Je plausibler etwas ist, je direkter etwas mit Mitteln der Logik hergeleitet ist, desto weniger neu ist es. Es ist dann eigentlich keine Information mehr.

Der Haken dabei: Was mit Mitteln der Logik hergeleitet ist, das können wir verstehen. Bei allem anderen fehlt uns zuerst einmal die Möglichkeit, es einzuordnen, uns fehlt der Zugang, es zu verstehen. Auch das ist dann letztlich keine Information, weil es für uns keinen Sinn ergibt. Aber weil es neu ist, ist es verlockend.

Das Unerklärliche sind aber nicht immer spektakuläre Ereignisse in der Weltgeschichte, die die Regeln der Gesellschaft auf den Kopf stellen. Manchmal ist es schlicht Blödsinn. Oder es ist gar nicht so neu. Im Dunstkreis dynamischer Generationendebatten oder aktivistischer Abgrenzungsdiskurse erheben Akteure gern den Anspruch auf Teilhabe an einer Welt, die die anderen nicht mehr verstehen. Für manche ist vielleicht dieses wohlige Gefühl, etwas Neuem gegenüberzustehen, ausreichend - das soll dann nicht durch komplizierte Erklärungen zerstört werden, die den Reiz des Neuen trüben.

Andere nehmen einmal geweckte Neugier als Anlass, das Objekt der Neugier verstehen zu wollen. Sie suchen mehr Information und verbindende Elemente. Für diese Menschen ist es enttäuschend, wenn Erklärungen auf die schlichte Wiederholung der Behauptung, allenfalls ergänzt mit "Ist so", reduziert bleiben. Und es scheint keinen größeren Affront zu geben als nachzulesen, anzuerkennen, das Gespräch zu suchen und festzustellen, dass es sich immer noch um den gemeinsamen Planeten handelt. Das nimmt dem vermeintlich Einzigartigen, das alle Verbindungen kappen wollte, seine Besonderheit - das nimmt der Ignoranz ihren Glanz.

Michael Hafner, geboren 1973, betreibt eine Werbeagentur, verlegt Comics und schreibt über Literatur, Philosophie und Reisen.