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Historiker Bruckmüller: Warum Geschichte wichtig ist

Von Walter Hämmerle

Reflexionen

"Es ist ja löblich, den Kindern in der Schule Kompetenzen beizubringen, aber es braucht auch Wissen."


© Wiener Zeitung/Moritz Ziegler

Geschichte ist nur scheinbar eine abgeschlossene Sache. Tatsächlich macht sich jede Generation aufs Neue einen Reim auf die Vergangenheit. Entsprechend wechseln die Perspektiven und Rückschlüsse. Der Historiker Ernst Bruckmüller hat eine neue, 692 Seiten starke und dennoch kompakte Geschichte Österreichs vorgelegt. Die "Wiener Zeitung" traf ihn zum Gespräch.

"Wiener Zeitung": Gibt es für Sie so etwas wie eine sich durch die Geschichte der letzten Jahrhunderte ziehende Idee von Österreich?

Ernst Bruckmüller: Dass hinter unserer Geschichte eine Schöpfungsidee stehen könnte, von diesem Glauben müssen wir uns wohl, so fürchte ich jedenfalls, verabschieden. Österreich hat keine übernationale Sendung, weder im mitteleuropäischen noch im deutschsprachigen Raum. Österreich ist, so wie es heute dasteht, tatsächlich ein Überbleibsel, das vor allem von der Bedeutung seiner Hauptstadt Wien getragen wird. Alleine diese Hauptstadt ist, so wie alle großen Städte dieser Welt, etwas Besonderes. Und dieses Besondere ist es wert, dass wir es erhalten und pflegen. Damit dies gelingen kann, ist es wiederum notwendig, dass wir als staatliche Einheit über die Pflege dieses Erbes übereinstimmen. Gottseidank haben wir diesen Konsens. Das ist sehr viel wert, auch im Hinblick auf die Entwicklung eines gemeinsamen Europas, wo jeder Teil seine Kultur und Geschichte einbringen soll, ja muss.

Trotzdem reden Politiker von einer "historischen Rolle" Österreichs: Auch Intellektuelle und Manager sehen das Land als Brückenbauer nach Mittel- und Osteuropa, ja als neutralen Vermittler. Ist das nur Wunschdenken?

Die erste Aufgabe eines jeden Staats besteht darin, dass er zunächst der eigenen Bevölkerung eine vernünftige Lebensgrundlage bietet, einen festen Rahmen für die politische und wirtschaftliche Existenz. Darüber hinaus ergibt sich für Österreich die Rolle, für diese Europäische Union, deren Mitglied wir seit 1995 sind, sinnvoll und konstruktiv zu wirken. Was unsere Rolle als Brückenbauer nach Osteuropa angeht, so fürchte ich, ist in den letzten Jahrzehnten nicht allzu viel geschehen. Vielleicht ist das aber auch ein Glück, weil ja in Prag, in Budapest oder Warschau Österreichs historische und gegenwärtige Rolle nicht immer nur positiv gesehen wird. Von daher ist es womöglich ganz gut, wenn wir uns nicht zu wichtig in diesem Raum machen, der ja erst durch Emanzipation von Österreich zu seiner heutigen staatlicher Eigenständigkeit gefunden hat.

Folgt man Friedrich Heer, hat sich Österreichs Identität stets in der Auseinandersetzung mit inneren wie äußeren Feinden entwickelt: Katholiken gegen Protestanten, Christen gegen Osmanen, Deutsche gegen Slawen, Haus Habsburg gegen Preußen und schließlich Christdemokraten gegen Sozialdemokraten. Brauchen wir solche Gegnerschaften mehr als andere?

Wir dürfen nicht vergessen, dass kollektive Befindlichkeiten wie ein Nationalbewusstsein erst seit dem 19. Jahrhundert eine Rolle spielen. Davor gab es die Dynastie und die adeligen Führungsschichten in den Ländern, die ihre ganz eigenen Vorhaben und Weltsicht hatten. Erst nach der Französischen Revolution wurde es für die Herrscher notwendig, Politik nicht nur mit den Mitteln der Diplomatie und Armeen zu machen, sondern auch durch den Appell "an meine Völker", wie Franz Joseph es formulierte. Erst jetzt wird eine Massenidentität notwendig, und dazu braucht man eben Abgrenzungen von anderen, da sind wir Österreicher keine Ausnahme. Allerdings war es bei uns aufgrund unserer vielschichtigen Einheiten ein besonders komplizierter Prozess. Es könnte jedoch ein Problem Österreichs gewesen sein, dass die Demokratisierung Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem Zeitpunkt erfolgte, zu dem die Ausbildung eines staatsbürgerlichen Kollektivgeistes noch hinterherhinkte, etwa im Vergleich zur Schweiz.

Die Demokratie kam also zu früh?

Ja, das ist eine Möglichkeit. Tatsächlich hat ja auch die Ausweitung der demokratischen Mitbestimmung die Kämpfe zwischen den Nationalitäten immer weiter beflügelt.

Die Habsburger-Monarchie galt noch vor Jahrzehnten als "Völkerkerker", wirtschaftlich, sozial wie politisch rückständig und außerdem schuldig am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Heute ist der Blick wohlwollender.

Die Behauptung einer ökonomischen Rückständigkeit hat allenfalls für Ungarn und die Randgebiete gestimmt, aber nie für die Kerngebiete der Monarchie in Wien, Böhmen oder Niederösterreich. Auch politisch war vor allem die ungarische Reichshälfte die Krux für den Gesamtstaat. Die Monarchie hat als Staat nur durch den Ausgleich mit Ungarn 1867 überleben können, doch dieser Ausgleich war zugleich auch ihre Todesstunde, weil er vor allem alle Ansprüche der Böhmen auf einen mit dem ungarischen Ausgleich vergleichbaren Status durchkreuzte. Dabei war das Königreich Böhmen wirtschaftlich viel bedeutsamer als Ungarn. In der cisleithanischen Reichshälfte gab es sehr wohl einen interessanten Mix aus zentraler Verwaltung, föderalistischen Elementen und einer starken Gemeindeautonomie. Nach 1919 gab es dann in allen Nachfolgestaaten in einem Bereich einen massiven Rückschritt, auch in Österreich: beim Schutz der Minderheitenrechte.

Geschichte dreht sich weiter. Was wird von Österreich bleiben, wenn Europas Integration fortschreitet? Binnengrenzen verschwinden, die nationale Politik wird zusehends europäisiert.

Die Sprach- und Mentalitätsgrenzen werden auf absehbare Zeit sicher bleiben. Die Barrieren sind in den Köpfen fest verankert. Ein europäischer Einheitsbrei wird also nicht so schnell entstehen.

Es verändert sich aber auch die Bevölkerung. 2019 hatten 40 Prozent der Wiener eine ausländische Herkunft. Die Vergangenheit ihrer neuen Heimat wird hier eher nicht auf großes Interesse stoßen. Wie kann Geschichte trotzdem bewahrt und für Gegenwart und Zukunft genutzt werden?

Das können wohl nur die Staaten, vor allem über das Bildungswesen. Ein Bekannter hat mir kürzlich erzählt, was ihm eine Lehrerin seines Enkelkindes gesagt hat, als er sie gefragt hat, was sie denn zum Nationalfeiertag mache: "Natürlich nichts", lautete die Antwort, denn sie wolle ja die Kinder nicht zu Chauvinisten erziehen. Ich halte das für eine bedenkliche Aussage, gegen die die Politik mit politischer Bildung und Geschichtswissen gegensteuern müsste. Es ist ja löblich, den Kindern in der Schule Kompetenzen beizubringen, aber es braucht auch Wissen, etwa über die Stadt, in der man lebt. Ich muss doch die Stadt und das Kulturland, ja Europa, meine tägliche Umwelt, als Raum lesen und verstehen können. Das ist jedenfalls meine Auffassung von Geschichte; das Aufstellen neuer Gendertheorien halte ich dagegen nicht für unbedingt notwendig. Es ist eines der großen Probleme der Demokratie, dass sie ein Grundeinverständnis ihrer Bevölkerung über das Bestehende benötigt, ansonsten beginnt dieses Bestehende unwiderruflich zu zerbröseln. Dieses Grundeinverständnis, egal, ob man es jetzt Nationalbewusstsein oder Patriotismus nennt, muss genauso wie ein Landes- und Europabewusstsein gepflegt werden, weil es ja nicht von selbst entsteht.

Es gibt das Streben, die Nationalstaaten für obsolet zu erklären und stattdessen die Regionen zu politischen Subjekten zu bestimmen.

Die Geschichte ist immer ein offener Prozess; die Nationen sind geworden, also können sie auch wieder vergehen. Aber ich teile die hier geäußerte Ansicht nicht. Man sieht, dass auch die bisherigen Bemühungen um grenzüberschreitende Regionen - mit Ausnahme Tirols - nicht sehr erfolgreich waren. Und außerhalb Österreichs und Deutschland findet dieser Regionalisierungswunsch nirgends wirklich Unterstützung, weil viele Staaten darin Gefahren für ihren Zusammenhalt sehen.

Zur Person: Ernst Bruckmüller, geboren 1945 in Niederösterreich, ist Univ.Prof für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Soeben hat er bei Böhlau sein Buch "Österreichische Geschichte. Von der Urgeschichte bis zur Gegenwart" herausgebracht.