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Massenmedien als Zeitmesser und Zeitfresser

Von Walter Hömberg

Reflexionen
Kalender als "Zeitweiser", die das Leben des Einzelnen und der Gesellschaft synchronisieren sollen, haben eine lange Geschichte.
© ullstein bild/Imagebroker/Sylvia Westermann/WZ-Montage

Vom Kalender bis zum Internet: Wie Medien unser Zeitbewusstsein beeinflussen: Reflexionen zum Jahreswechsel.


Das alte Jahr liegt in den letzten Zügen. Da richtet sich der Blick auf ein Medium, das sonst eher beiläufig unseren Alltag begleitet: auf den Kalender. Die Produktion solcher "Zeitweiser", die das Leben des Einzelnen und der Gesellschaft synchronisieren sollen, lässt sich in Wien bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen. Die Einblattdrucke der Frühzeit wurden bald ergänzt durch umfangreiche Almanache, die auch Geschichten, Gespräche und Ratgebertexte enthielten.

Relativitätstheorie

Heute gibt es ein riesiges Angebot von Wand- und Tisch-, Taschen- und Terminkalendern in gedruckter und inzwischen auch in elektronischer Form. Sie informieren uns über gesellschaftliche Zeitmarken wie Sonn- und Werktage, Feier- und Gedenktage. Und sie helfen dabei, den Fluss der Zeit zu strukturieren und für die Zukunft zu planen.

Die Zeit fließt nicht immer und für alle gleich schnell. Bei monotonen Tätigkeiten kriecht sie wie eine Schnecke, abwechslungsreiche Stunden dagegen können wie im Fluge vergehen. Unangenehme Gefühle, Trauer, Schmerz, Schuld und Ermüdung bremsen das Erleben des Zeitablaufs. Auch das Warten kann das Zeiterleben verlangsamen. Wie viele (gefühlte) Jahre haben wir schon vor Bahnschranken und roten Ampeln, vor Supermarktkassen oder in Wartezimmern von Ärzten und Ämtern verbracht?

Für ältere Menschen läuft die Zeit schneller ab als für jüngere. Wir erinnern uns an die eigene Kindheit: Wie lang war die Zeit von Weihnachtsfest zu Weihnachtsfest! Zwei traditionelle Zeitweiser erhöhen am Ende die Spannung: der Adventskranz, der mit seinen vier Kerzen die Wochen bis zum Heiligen Abend überbrückt, und der Adventskalender, der hinter den geöffneten Türchen die Tage bis zum Fest mit Bildern oder kleinen Geschenken verkürzt.

Mit ihren unterschiedlichen Erscheinungsintervallen gliedern Medien den Tag, die Woche, den Monat, das Jahr . . .
© reuters/Eric Gaillard

Albert Einstein soll seine Relativitätstheorie in einem Gespräch so erläutert haben: "Wenn Sie zwei Stunden mit einem netten Mädchen zusammensitzen, denken Sie, dass es nur eine Minute ist; aber wenn Sie eine Minute auf einem heißen Herd sitzen, denken Sie, dass es zwei Stunden sind." Damit greift er einen Gedanken auf, den schon der römische Politiker und Schriftsteller Plinius der Jüngere formuliert hat: "Jede Zeitspanne erscheint umso kürzer, je glücklicher sie ist."

Die individuellen Unterschiede in der Wahrnehmung der Zeit verlangen nach einer gesellschaftlichen Synchronisierung. Einer der wichtigsten sozialen Zeitgeber in entwickelten Gesellschaften sind die Massenmedien. Um diese These zu entfalten, möchte ich zu einer kurzen Zeitreise in die Geschichte der Medien einladen.

In sogenannten primitiven Gesellschaften stehen die Zeitbezeichnungen noch unverbunden nebeneinander. Es fehlt das Bewusstsein der Folge und der Kontinuität. Erst im Laufe der sozialen Entwicklung wird die zunächst vorherrschende Orientierung an Zeitpunkten erweitert durch eine Orientierung an Zeiträumen. Ähnliches lässt sich auch in der Entwicklung der Medien beobachten.

Die frühen gedruckten Nachrichtenmedien galten primär einzelnen Ereignissen. Neben den Haupt- und Staatsaktionen, den Schlachten und Kriegen, den Niederlagen und Siegen schienen den Verfassern, Herausgebern und Druckern vor allem die Ereignistypen "Katastrophe", "Menetekel" und "Mirakel" nachrichtenwürdig. Die Flugblätter und Flugschriften der beginnenden Neuzeit erschienen sporadisch, fixiert auf aktuelle Anlässe, und ich möchte sie deshalb als Zeitpunkt-Medien bezeichnen.

Kalenderzensur

Diese punktuelle Orientierung änderte sich mit der Einführung der Periodizität. Der Nachrichtenstoff wird jetzt kontinuierlich gesammelt, verarbeitet und weitergegeben. Für die Bezieher und Leser ist damit eine regelmäßige Unterrichtung sichergestellt. Das Zeitpunkt-Medium wird zum Zeitraum-Medium.

Das älteste periodische Druckwerk ist der bereits erwähnte Kalender. Wenige Medien erreichen so hohe Auflagen, weshalb autoritäre und totalitäre Systeme bis heute Kalenderzensur betreiben. Die nationalsozialistische Reichsschrifttumskammer richtete 1937, als die Gesamtauflage der Kalender in Deutschland bei 25 Millionen Exemplaren lag, eine sogenannte Kalenderberatungsstelle ein. Moniert wurde etwa, dass in einem Kalender der 20. April als Geburtstag Mohammeds ausgewiesen sei; an diesem Tag hatten die Kinder schulfrei - aber nicht wegen Mohammeds, sondern wegen "Führers Geburtstag".

Die Rolle des Kalenders zur Synchronisierung gemeinsamer Lebensvollzüge, aber auch zur Herstellung und Festigung von Traditionslinien kann man kaum überschätzen. Ebenso den Beitrag zur Gruppenbildung, wie ihn Bauern- und Lehrerkalender, Kirchen­ und Freimaurer-, Jäger- und Feministenkalender und viele andere Typen in je eigener Weise leisten.

Die Periodizitätsfolgen der Medien wurden bald kürzer: Bereits zweimal jährlich brachte der in Oberösterreich geborene Michael von Aitzing seit 1588 die "Relatio historica" heraus, und zwar jeweils zu den Verkaufsmessen im Frühjahr und im Herbst. Diese Messrelation, die bald Nachahmer fand, verstand sich als Chronik politischer und militärischer Ereignisse und fasste Nachrichten aus allen Teilen Europas zusammen. Und schon am Ende des 16. Jahrhunderts ist eine Monatsschrift nachgewiesen. Am Beginn des folgenden Jahrhunderts erschienen dann in Straßburg und Wolfenbüttel wöchentliche Zeitungen, und nur wenig später kam in Leipzig das erste Tagblatt heraus. Und im August 1703 erschien erstmals das "Wiennerische Diarium", der Vorläufer der heutigen "Wiener Zeitung".

Periodisches Erscheinen

Die Bezeichnung Journalismus ist abgeleitet von französisch jour, der Tag. Das tägliche Erscheinen war allerdings bis ins 19. Jahrhundert noch nicht die Regel. Die meisten Zeitungen wurden zwar mehrmals in der Woche gedruckt, aber noch nicht täglich. Andererseits steigerten einige Blätter nach der Industrialisierung ihren Erscheinungsrhythmus auf zwei-, drei-, ja viermal am Tag. Morgen- und Abendausgaben waren vor allem in den Großstädten nicht selten.

Dass sich in der Geburtszeit der Moderne das periodische Erscheinen so schnell durchsetzte, hatte viele Gründe: Der Ausbau des Post- und Nachrichtenverkehrs, die Verbesserung der Drucktechnik, die steigende Bevölkerungsdichte, die wachsende Zahl der Gewerbe und Berufe, die Expansion des Handels - all dies kam zusammen. Aus sozialen und aus wirtschaftlichen Gründen waren immer mehr Menschen auf regelmäßige, verlässliche und schnelle Information angewiesen.

Die periodische Erscheinungsweise war ein wichtiges Instrument der Kommunikationsrationalisierung. Die periodischen Veröffentlichungen repräsentieren ein zyklisches Zeitbewusstsein. Die Folgen entsprechen dabei im Wesentlichen den Zyklen der as-tronomischen Zeit: Jahr, Monat, Tag - diese Zeiteinheiten folgen der Bewegung der Himmelskörper, konkret: von Erde, Mond und Sonne. Und die Medien sind die gesellschaftlichen Zeitmesser.

In unserem Kulturkreis hat das zyklische Zeitbewusstsein schon früh Konkurrenz erhalten durch lineare Zeitvorstellungen. Am deutlichsten zeigt sich dies in der industriellen Revolution. Benjamin Franklin hat es 1848 in seinem "Advice to a Young Tradesman" auf den Punkt gebracht: "Zeit ist Geld" - damit war die neue Leitformel der Moderne geboren. Und die Zeitungen und Zeitschriften taten alles, um diese Formel populär zu machen.

Zeitdisziplin - als bürgerliche Tugend wurde sie bereits während der Aufklärungszeit mit Nachdruck gefordert. Bei Knigge heißt es: "Sei streng, pünktlich, ordentlich, arbeitsam, fleißig in Deinem Berufe!" Und Goethe notiert im "West-östlichen Divan": "Die Zeit ist mein Besitz, mein Acker ist die Zeit."

Eisenbahn und Dampfboot, elektrische Telegrafie und Telefonie beschleunigten den Nachrichtenverkehr enorm. Dies führte zusammen mit neuen Produktionsverfahren, mit Xylografie, Stereotypie und Schnellpresse, zu gesteigerter Aktualität in der Me-dienkommunikation. Das älteste Nachrichtenblatt, in dem die Bezeichnung "Neue Zeitung" im Titel auftaucht, enthielt noch einen Bericht von der Wiedereroberung der Insel Lesbos durch die Vene-zianer und Franzosen, die damals bereits über ein Jahr zurücklag. Und der Tod Napoleons am 5. Mai 1821 wurde von der Londoner "Times" als erster Zeitung erst zwei Monate später gemeldet.

Seit Einführung der Periodizität verändert sich das Aktualitätsverständnis immer mehr in Richtung der Erscheinungsintervalle. Ein Blatt des französischen Karikaturisten Daumier zeigt eine Zeitungshändlerin, die einem Passanten ein Zeitungsexemplar anbietet. Dieser beschwert sich: "Ich habe Ihr Journal gekauft, und ich finde nicht die neuesten Nachrichten von heute." Die Händlerin erwidert daraufhin: "Mein Herr, die Nachrichten von heute, die waren in dem Journal von gestern."

Heute ist nichts so alt wie die Zeitung von gestern. Mit Hörfunk, Fernsehen und den digitalen Medien haben wir inzwischen längst die Gleichzeitigkeit erreicht. Über die Periodizität hinaus hat sich eine neue Dimension der Medienzeit aufgetan: die Simultaneität.

Die Simultanmedien setzen besonders nachdrücklich Zeitmarken in unserem Alltag. Sie strukturieren den Tageslauf und synchronisieren die Medienzuwendung. Sie sind aber nicht nur Zeitmesser, sondern vor allem auch Zeitfresser. Fast neun Stunden wenden sich die Österreicher durchschnittlich jeden Tag Medien aller Art zu. Der Löwenanteil entfällt auf die elektronischen und digitalen Medien, wobei das Internet und die Mobilkommunikation in den letzten Jahren die größten Zuwächse erzielt haben. Wenn man die Nutzungszeiten hochrechnet, dann verbringt der Durchschnittsbürger hierzulande rund dreißig Jahre seines Lebens mit Medienkonsum.

Mit ihren unterschiedlichen Erscheinungsintervallen gliedern die Massenmedien den Tag, die Woche, den Monat, das Jahr. Und sie beeinflussen unsere Wahrnehmung: Film und Fernsehen stehen unter dem Diktat der Bewegung. Der schnelle Reizwechsel durch Raum- und Zeitsprünge, die unvermittelte Aufeinanderfolge von Schwenks, Zooms und Kamerafahrten, von Schuss und Gegenschuss, von Totale und Ausschnitt - all dies vermittelt den Eindruck rasanter Dynamik.

Hybridmedien

In immer kürzeren Zeitabständen kamen im vergangenen Jahrhundert technische Innovationen auf die Welt: Schallplatte, Tonband und Tonkassette, Kabel- und Satellitenrundfunk, Video, Compact Disk et cetera. Revolutionär war eine Innovation, die niemand vorausgesehen und vorausgesagt hatte: der Computer zum Gebrauch für jedermann. Die Computertechnologie und das Internet als Hybridmedium ermöglichen sowohl Individualkommunikation als auch Gruppen- und Massenkommunikation. Sie erlauben ganz neue Verknüpfungen von Sprache, Schrift, Bild und Ton bei Angebot und Nutzung. Und durch das Smartphone, das sich in sensationeller Geschwindigkeit verbreitet hat, ist jeder Nutzer überall und immerzu mobil erreichbar.

Allerdings: Die neuen Medien verdrängen nicht zwangsläufig die alten, sondern sie ergänzen diese - wobei es freilich zu Funktionsverschiebungen und Relevanzänderungen kommen kann. Die gilt auch für die Zeit-Dimen-sion: Die Monatsschriften haben nicht die Jahreskalender, die Tageszeitungen nicht die Wochenblätter, der Rundfunk nicht die Presse und die digitalen Medien nicht all ihre Vorläufer verdrängt.

Wohl nicht zufällig trug die älteste der sogenannten "Zeitgeist"-Zeitschriften in Deutschland den Titel "Tempo". Mit dem Zerfall des Fortschrittskonsenses wurden zunehmend gegenläufige Zeitkonzepte propagiert: Etwa die ruhende Zeit der Meditation, wie sie in asiatischen Religionen beheimatet ist, oder die "Entdeckung der Langsamkeit" als ästhetisches Programm. John Franklin, der Held in Sten Nadolnys gleichnamigem Roman, konnte nur deshalb zum genialen Seefahrer werden, weil er so langsam war und die Kunst der genauen Wahrnehmung beherrschte. Dieser Text, zuerst 1983 veröffentlicht, hat inzwischen viele Auflagen erlebt und ist längst zum Kultbuch avanciert.

Auch Peter Handke und Botho Strauß wandeln auf ähnlichen ästhetischen Pfaden. "Bleib bei Bewußtsein und werde langsam", hat Handke im Sommer 1989, als er ohne festen Wohnsitz durch die Welt vagabundierte, in sein Notizbuch geschrieben. Und für die Durchlauferhitzer-Dramaturgie der Audiovision kann man sich keine größere Provokation denken als Andy Warhols Film "Sleep", der sechs Stunden lang nichts anderes zeigt als einen schlafenden Mann.

Auch Psychologen, Pädagogen und Philosophen wenden sich heute immer mehr gegen die Gleichsetzung von Schnelligkeit und Fortschritt. Zeitökologie statt Zeitökonomie heißt die Devise. Bücher zum Thema Entschleunigung haben inzwischen Konjunktur - wobei das Medium Buch hier ganz im Sinne McLuhans schon ein Teil der Botschaft ist. Gegen Fast Food hat sich längst eine Slow-Food-Front gebildet, und manche Wissenschafter bekennen sich zu den Prinzipien der Slow-Science-Bewegung. Ihr Motto lautet: "Science needs time to think. Science needs time to read, and time to fail."

Heilmittel Langsamkeit

Selbst Kurse zum Zeitmanagement empfehlen inzwischen die Langsamkeit als Heilmittel gegen den Geschwindigkeitsrausch und die Sucht, Zeit zu sparen. In Klagenfurt wurde im Herbst 1990 sogar ein "Verein zur Verzögerung der Zeit" gegründet. Vor einigen Jahren habe ich diesen Verein um Informationsmaterial gebeten. Die Antwort kam postwendend. Nach diesem eklatanten Verstoß gegen den Vereinszweck habe ich von einer Mitgliedschaft abgesehen - wobei mir die wunderbare Geschichte von Sigismund von Radecki über den "Postwender" eine Warnung war: Der Protagonist dieser Erzählung pflegte alle Briefe sofort zu beantworten. Das ging so lange gut, bis er selbst auf einen Postwender traf. In der Folge wurden dann Briefe beantwortet, die noch gar nicht geschrieben waren.

Wie auch immer sich die Zeitvorstellungen wandeln - tröstlich bleibt eine alttestamentarische Weisheit aus dem Buch Kohelet, die in verkürzter Form manchmal in Todesanzeigen zitiert wird: "Es gibt im Leben für alles eine Zeit: eine Zeit der Freude, eine Zeit der Stille, eine Zeit der Trauer und eine Zeit der dankbaren Erinnerung."

Walter Hömberg, Kommunikationswissenschafter und Publizist, war
Professor für Journalistik an den Universitäten Bamberg und Eichstätt
und lehrt als Gastprofessor an der Universität Wien. Vor kurzem hat er
das Buch "Marginalistik - Almanach für Freunde fröhlicher Wissenschaft"
herausgegeben (Allitera Verlag, München).