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"Moral ist unsere letzte Religion"

Von Judith Belfkih

Reflexionen

Womöglich erweist sich die pluralistische Postmoderne als Sackgasse: Autor und Philosoph Alexander Grau im Gespräch.


Die Spirale der Empörung dreht sich schneller. Moralisieren verhindert sachliche Debatten. Die Mehrheitsgesellschaft gehört der Vergangenheit an. Und mit Dissens können wir auch nicht umgehen. Der deutsche Philosoph Alexander Grau spürt in seinen Gegenwartsanalysen dem Pulsschlag einer selbstgefälligen Zeit nach. Ein Gespräch am Rande des Philosophicum Lech über die Emotionalisierung der Politik und Kulturpessimismus als einzigen Ausweg.

"Wiener Zeitung": Diese neuen Eliten, die Sie anprangern: Wie unterscheiden sie sich von den bisherigen?Alexander Grau: Die alten Eliten waren traditionell konservativ. Die neuen geben sich bewusst progressiv. Entsprechend definieren sich die neuen Eliten nicht über Herkunft und Besitz, sondern vor allem über ihr kulturelles Kapital - über ihren Habitus, ihren Lifestyle, ihre Gesinnung. Man arbeitet vorzugsweise in den Medien, im Kulturbereich, im IT-Sektor, man ist gut vernetzt und international. Was diese Menschen verbindet, ist ein gewisser Lebensstil. Diese neuen sozialen Eliten begreifen sich als technische und vor allem auch als die moralische Speerspitze einer globalisierten Gesellschaft.

Worin liegt deren Einfluss?

Die Machtstrategien der neuen Elite sind wesentlich weicher als die der alten Eliten. Es geht nicht mehr um steile Hierarchien, im Gegenteil. Es geht vielmehr um die kulturelle Deutungshoheit, um die Beherrschung der gesellschaftlichen Debatten, darum, normative Standards zu setzen, an die man sich halten muss, wenn man nicht ausgegrenzt werden will. Dieser Einfluss ist nicht das Produkt einer bewussten Planung, er ist das Ergebnis sozialer Umformungsprozesse. An den Schaltstellen der Meinungsmache unserer spätmodernen Gesellschaften, in Medien, im Kultursektor, in Bildungseinrichtungen, hat sich ein Sozialmilieu mit einem recht homogenen Weltbild versammelt. Das führt übrigens zu sozialen Spannungen: Im Zweifelsfall fühlt man sich dem Filmemacher in Buenos Aires oder dem IT-Spezialisten aus Sydney näher als dem eigenen, kleinbürgerlichen Herkunftsmilieu.

Liegt darin die Wurzel der viel zitierten Spaltung der Gesellschaft?

Dafür spricht einiges. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den alten und den neuen Eliten ist auch, dass die neuen eben keine kleine Gruppe mehr bilden. Manche Soziologen schätzen den Anteil der neuen Eliten an der Gesamtbevölkerung auf 20 und 25 Prozent. Das ist eine große Minderheit: das linksliberale, neubürgerliche, urbane Milieu der Kreativen, Flexiblen und Modernen. Diesen gegenüber steht eine mindestens ebenso große Gruppe, die die Welt anders sieht, die - in den USA etwa oder in Großbritannien - mit Donald Trump oder Boris Johnson sympathisiert. Beide Seiten machen den Fehler, sich selbst als schweigende Mehrheit zu betrachten. Doch das Konzept der Mehrheitsgesellschaft funktioniert so nicht mehr. Es gibt lediglich große Minderheiten, die Angst haben, von der jeweils anderen dominiert zu werden. Mit dieser Situation sind wir aktuell überfordert.

Beide Seiten sehen sich als moralisch überlegen. Ist das die Hypermoral, von der Sie sprechen?

Die meisten Menschen sind von der eigenen Lebensführung überzeugt, auch in moralischer Sicht, sonst würden sie ja anders leben. Es ist nur die Frage, wie man mit Differenzen umgeht. Gerade im linksliberalen Milieu wird ständig von Diversität gesprochen, man toleriert aber nur eine gewisse Diversität: die der anderen Kultur, der fremden Folklore. Aber Diversität in der eigenen Kultur, also Sozialmilieus mit anderen Wertevorstellungen, werden abgewertet und moralisch diskreditiert. Unter Hypermoral verstehe ich die Ideologie, die diese Abwertung zu rechtfertigen versucht.

Die damit einhergehende Moralisierung öffentlicher Debatten macht Gespräche auf Fachebene unmöglich. Wann und warum ist uns das passiert?

Das ist der zunehmenden Emotionalisierung politischer Debatten geschuldet. Politik ist natürlich immer emotional, niemand hat seine Überzeugungen aus rationalen Überlegungen. Doch wir sollten lernen, unsere Emotionen zu hinterfragen. Dieser Schritt fällt jedoch zunehmend weg. Es geht nur noch darum, das richtige Gefühl zu haben, die richtige Haltung. Das hat zwei Effekte: eine unterkomplexe Weltbetrachtung und eine Unfähigkeit zum Dialog. Denn über Emotionen lässt sich nicht diskutieren. Da wird das Gegenüber schnell zum linken Gutmenschen oder zum reaktionären Provinzler erklärt.

Sind wir damit in der Tyrannei der Werte angekommen?

Das ist der Effekt. Das lässt sich aber auch auf Säkularisierungsprozesse zurückführen. Menschen suchen nach neuen Sinnerzählungen. Gerade moralische Haltungen eignen sich da als letzter Anker ganz gut. Sie geben auch religionsfernen Menschen Orientierung und Halt. Viele Debatte, ob Migration oder Klima, gewinnen daraus ihre Heftigkeit. Moral ist unsere letzte Religion.

Moral statt Religion - ist es so einfach?

Es funktioniert so gut, dass selbst die Kirchen mitmachen und kaum noch über theologische Inhalte reden. Werte sind zu Aspekten eines umfassenden Lebensgefühls geworden, das Moral, Politik, Mode, Kulturinteressen und Lifestyle umfasst und den Menschen offensichtlich Halt gab. Doch wenn es in politischen Kontroversen nicht mehr nur um komplexe Problemlösungen geht, sondern um Fragen persönlicher Identität, werden diese Debatten emotional enorm aufgeladen. Da ist nüchterne Auseinandersetzung kaum noch möglich.

Wenn Religion auf Moral reduziert ist und mit Moral Politik gemacht wird: Beißt sich die Säkularisierung da nicht selbst in den Schwanz?

Provozierend gesagt: Es gibt keinen säkularen Standpunkt. Jede Weltanschauung, jedes Wertesystem hat einen normativen Überschuss, der nicht rational zu begründen ist. Es gibt keinen ideologiefreien Standpunkt, auch wenn das immer wieder behauptet wird. Nehmen Sie Fridays for Future: Dort vermittelt man gerne den Eindruck, man selbst halte sich nur an Fakten, alles sei wissenschaftlich, vollkommen ideologiefrei. Das ist natürlich Unsinn. Ziel dieser Form von Rhetorik ist es, den politischen Gegner im Vorfeld zu desavouieren.

Orten Sie hier eine neue Lust an der Empörung?

Die lässt sich täglich in den Medien beobachten. Skandale gab es freilich immer. Aber die Dichte an Aufregern ist gestiegen. Ein Grund dafür ist die erwähnte Moralisierung gesellschaftlicher Debatten. Ein anderer die veränderte mediale Infrastruktur mit Twitter und Facebook. Aber auch die Bereitschaft der Gesellschaft, sich darauf einzulassen, ist gestiegen. Ohne die Empörten funktioniert Empörung nicht. Selbst Empörung über Empörung bleibt Empörung.

Wie kommen wir da wieder heraus?

Da kommen wir gar nicht raus! (Lacht) Da bin ich fatalistisch. Ideologien sind immer Produkte ihrer sozioökonomischen Bedingungen. Individualisierung, Heterogenisierung, Pluralismus, ein aggressiveres Meinungsklima: Das alles ist typisch für spätmoderne Wohlstandsgesellschaften. Das ändert sich nur vor dem Hintergrund einer umfassenden Krise. Aber die wollen wir natürlich nicht. Von daher müssen wir lernen, mit dem Auseinanderdriften der Gesellschaft zu leben. Wir müssen lernen, uns von der Fata Morgana der Konsensgesellschaft zu verabschieden und den Dissens zu organisieren.

Wessen Aufgabe ist das, die der Politik?

Nur bedingt. Das Problem betrifft ja die Politik selbst. Aktuelle Spaltungen und Gründungen zeigen, dass Parteien es immer schwerer fällt, internen Dissens auszuhalten. Das Spektrum wird immer feinkörniger.

Wie können wir da gegensteuern?

Wir sollen uns mehr in Frage stellen. Westliche Gesellschaften sind zu selbstgefällig geworden. Gerade im Milieu dieser neuen Eliten, der Kreativen und Fortschrittlichen, hat sich ein enges Bild von Zukunft breitgemacht. Dort geht man davon aus, dass sich global früher oder später ein universalistisches, linksliberales Weltbild durchsetzt. Abgesehen davon, dass das eine unglaubliche Verarmung wäre: Unsere pluralistische Postmoderne ist womöglich gar nicht das Ende der Geschichte, sondern eine Seitenstraße, die sich als Sackgasse erweist. Angesichts der Erregungszustände in westlichen Gesellschaften stellt sich ernsthaft die Frage, ob wir noch in der Lage wären, mit echten Krisen umgehen.

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