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Leben mit dem Untergang in Jakarta

Von Günter Spreitzhofer

Reflexionen
Die eine Seite von Jakarta: protzige Bauten des Banken- und Versicherungswesens. Die Armut ist anderswo. Untergangsgefährdet sind aber alle (Stadt-)Teile.
© Spreitzhofer

Indonesiens Hauptstadt, einer der größten Ballungsräume weltweit, hat mit den Problemen vieler Megacities zu kämpfen: Bevölkerungsexplosion, Verkehrschaos - und einer speziellen Art von Absenkung.


Schauplatz Sunda Kelapa, der alte Segelfrachtschiffhafen in Kota, dem ursprünglichen niederländischen Zentrum in Nordjakarta. Dort entstand 1619 das alte Batavia, das die ersten niederländischen Siedler zum Zentrum der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC) machten. Das ist lange her, auch wenn der neu gepflasterte Taman Fatahillah, der Platz vor dem weißgetünchten alten Stadthuys (Rathaus, heute: Museum Sejarah), in den letzten Jahren zum urbanen Funpark wurde, mit Fußgängerzone, Selfie-Stationen für koloniale Leihkleidung und Radverleih neben holländischen Kanonenkugeln - die einzige größere Fläche in der Hauptstadt weit und breit, wo Radfahren ohne Gefahr für Leib, Lunge (Abgase!) und Leben (anarchischer Verkehr) möglich ist.

Rundum reihen sich nette Eissalons und Straßencafés für die urbane Bourgeoisie, die sich hier an sonnigen Wochenenden ein Stelldichein gibt, mit Caffè Latte und heimischen Straßenbands: "Country Road, take me home, to the place I belong." Man klatscht. Denn die Armutsflüchtlinge aus der indonesischen Peripherie, die die Megacity Jakarta zu einem Zehn-Millionen-Moloch gemacht haben, sind mittlerweile anderswo.

Nicht nur die mega-urbanen Regionen Südostasiens wachsen weiter - oft mit ähnlicher (kolonialer) Genese, konfrontiert mit immer denselben wirtschaftlichen und sozialen Problemen, für die Lösungen im Dunst der neuen industrialisierten Motorisierung nur schemenhaft auszunehmen sind. Bis 2025 wird sich die städtische Bevölkerung weltweit von 2,4 Milliarden (1995) auf 5 verdoppeln; laut UN-Habitat werden bis 2030 bis zu zwei Drittel aller Menschen in urbanen Zentren leben. Derzeit gibt es 33 Megacities, deren Einwohnerzahl über 10 Millionen liegt. Zehn der fünfzehn größten liegen in Asien.

Ob Bangkok oder Manila, Singapur oder Jakarta: Die Globalisierung hat sie alle fest im Griff. Damit entstanden wachsende Disparitäten für Gewinner und Verlierer: Letztere, meist sogenannte Squatters ohne Landrechte, werden aus den (historisch bedeutsamen und/oder touristisch attraktiven) Stadtteilen mit vergleichsweise hoher Sicherheit und Lebensqualität gezielt in neue suburbane Peripherien gedrängt, was seit den 1980ern als KIP (Kampung Improvement Programme; Kampungs sind dörfliche Strukturen in indonesischen Städten) umstrittene Bekanntheit erlangt hat. Raum ist wertvoll, also wird danach vertikal ausgebaut: Die imposante Skyline von Jakarta, mit protzigen Bauten des Banken- und Versicherungssektors vor allem entlang der vielspurigen Nord-Süd-Verbindung Jalan Sudirman, hat Gewicht. Zu viel.

Reißbrettstadt

Für die anderen entstehen seit den 1990ern räumlich überschaubare Gated Communities oder gleich Paralleluniversen wie Bumi Serpong Damai (BSD). Diese Reißbrettstadt im Westteil des Ballungsraumes ist im Endausbau für eine Million Menschen ausgelegt, mit eigenen Autobahnanschlüssen und vielen Checkpoints bis zum Infozentrum, wo Immobilienmakler - eigenen Aussagen zufolge - aktuell reißenden Absatz für ihre mehrstöckigen Reihenhaus-Anlagen finden, die einander gleichen wie ein Ei dem anderen.

Offensichtlich ist der Zutritt für das Prekariat unerwünscht - und der politische Klimawandel noch nicht eingetreten, auch wenn Präsident Joko Widodo gegenüber NGOs wie UPC (Urban Poor Consortium) mehrfach bekräftigt hat, sich für Gesundheit, Bildung, Land- und Wohnrechte der Armen einsetzen zu wollen.

Es gibt dort bereits begrünte Parkhäuser, mit vielen SUVs im Schatten, idyllischen Teichen und Cocktailbars. Dazu Aufladestationen für (natürlich grün lackierte) E-Scooter, mit denen das Planungspersonal lautlos von Baustelle zu Baustelle gleiten kann. Eine Skihalle Marke Dubai ist projektiert, wie haushohe Plakattürme an den Jalan Tol (Mautstraßen) wissen lassen.

Es sind nur dreißig Kilometer nach BSD, die Anreise dauert aber - je nach Tageszeit - bis zu drei Stunden. Das statistische Durchschnittstempo in der Kernstadt DKI Jakarta, die Provinzstatus hat, liegt nach wie vor bei rund 10 km/h: trotz ehrgeiziger Projekte wie Transjakarta (separate Busspur), LRT (Light Rail Transport) und einer brandneuen - von Japan finanzierten - U-Bahnlinie über 27 km, deren erstes Teilstück seit April 2019 in Betrieb ist.

10 km/h beträgt die Durchschnittsgeschwindigkeit in den Straßen von Jakarta . . .
© Spreitzhofer

Abgedeckt wird derzeit nur ein Miniteil der Nord-Südachse, der zudem an der Provinzgrenze zu Bogor endet, da überregionale Raumplanung der bürokratischen Realpolitik zum Opfer fällt. Der Boom der neuen, hippen Self-Contained Cities (inkl. Schulen, Universitäten, Firmenniederlassungen für Personalberater und IT-Konzerne, Krankenhäuser und Vergnügungsparks) von "Sinar Mas Land" und anderen Landentwicklern, die das aktuelle Wirtschaftswachstum Indonesiens - rund 5 Prozent jährlich laut WTO - widerspiegeln, scheint derzeit grenzenlos.

Starker Mittelstand

Designierter Wohlstand für immer mehr Menschen? Fast zwei Drittel der 270-Millionen-Bevölkerung Indonesiens leben auf der Insel Java, das nur etwa sechs Prozent der Landesfläche einnimmt. Die Bevölkerungsdichte liegt bei 1100 Menschen/km2 (in Österreich zum Vergleich: 106). Über zwanzig Millionen Menschen gelten in Java als zunehmend einkommensstarke Mittelschicht, die immer mehr Kapital und immer weniger Platz hat. Immobilien und pendelfreie Arbeitsplätze in sicherer Lage zu besitzen, ist zunehmend attraktiv.

Der Aufstand marginalisierter Bevölkerungsgruppen gegen protzige Neureiche ist dabei gar nicht die größte Befürchtung. Denn ob arm oder reich: Jakarta liegt an tektonischen Schnittstellen und ist latent tsunami- und erdbebengefährdet. Und Jakarta versinkt, für alle gleich, stetig und unaufhaltsam, ganz ohne endogenen Knalleffekt. Dieser Bedrohung sehen sich viele große Megacities ausgesetzt, die meist an Küsten liegen und bauliche Maßnahmen gegen den prognostizierten Anstieg des Meeresspiegels erwägen. Doch für Jakartas Untergang spielt die globale Erwärmung nur eine Nebenrolle.

Zurück nach Sunda Kelapa in Nordjakarta: Der knappe Kilometer nordwärts zum Hafen ist deutlich weniger schick als die Unesco-finanzierten Programme am Taman Fatahillah: urbanes Brachland, Abbruchzonen, dazwischen die Betonstelzen der neuen Hafenautobahn, einige üble Rinnsale hinter stinkenden Müllhaufen. Ein paar verlassene Garküchen auf Rädern und vereinzelte Grabs und Go-Jeks, Motorradtaxis auf Uber-Prinzip, die für ihre Kunden am Sozius grüne Helme bereitstellen: "Ohne Mopeds wäre in den Staus hier oftmals überhaupt kein Weiterkommen möglich. Und bei Überschwemmungen fahren wir meistens auch", sagt Bondok, einer der Fahrer. Er trägt Badeschlapfen, zerrissene Designer-Jeans und eine Kapuzenjacke mit Grab-Logo. Sein Smartphone vibriert ständig, neue Kundschaft wartet.

Heute fährt er wieder im Trockenen, nach den Neujahrshochwassern 2020, die nicht nur den Norden Jakartas wieder einmal unter Wasser gesetzt haben. Plastikmüll hat sich in Büschen verfangen. Ansonsten ist es gespenstisch menschenleer hier, angesichts des bunten Treibens von vorhin und fast überall sonst: Der metropolitane Ballungsraum Jabodetabek - Jakarta und seine Nachbarstädte Bogor, Depok, Tangerang und Bekasi - mit über 30 Millionen Menschen erstreckt sich von hier aus je 40 km süd-, ost- und westwärts, eine der größten Agglomerationen weltweit.

Unter Wasser

Die Slums am Ciliwung-Fluss, der hier mündet, wurden jüngst behördlich entfernt. Kommunale Müllfischer in roten Warnwesten sammeln Treibgut an den Schleusen. In einem Kartonverhau unter der Brücke schläft nur mehr ein einzelner junger Mann. Nicht weit davon entfernt steht eine mächtige, feuchte Mauer zum alten Hafen Sunda Kelapa hin, wo rostige Kutter mit Zement beladen werden. Sie besteht aus verschiedenen Schichten in verschiedenen Grautönen.

"Sie ist auf der alten See-Mauer errichtet, hier unten sieht man die Höhe von 2007. Diese Höhe war von 2012, dann kam eine neue Schicht 2014 und jetzt die große Erhöhung von 2017. Es ist eine ganze Schichtung von See-Mauern. Wie Archäologie, aber normalerweise sieht man tausende von Jahren in solchen Schichten, hier ist es nur ein Jahrzehnt. Und die Wand leckt, denn die Grundmauer ist nicht besonders gut gebaut. Die steigenden Wasserhöhen bringen mehr Druck auf die Mauer, und darum gibt es überall diese undichten Stellen."

Victor Coenen muss es wissen: Er ist Hochwasserschutz-Experte und Projektleiter der niederländischen Bautechnik- und Beraterfirma Witteveen en Bos, die in Jakarta für den "Nationalen Hauptstadt- und integrierten Küsten-Entwicklungs-Masterplan" zuständig ist. Und der ist - ganz unabhängig von Klimawandel und Jahrhundertniederschlägen - zur Überlebensfrage der Stadt geworden, die zu niederländischen Kolonialzeiten deutlich über dem Meeresspiegel lag.

Reinigungskräfte auf dem Ciliwung-Fluss.
© Spreitzhofer

Denn Jakarta sinkt Jahr für Jahr tiefer. In manchen Vierteln geht es um Zentimeter, andere liegen bereits rund drei Meter unter dem Meeresspiegel. Wenn die großen Pumpen nicht funktionieren, stehen manche Gebiete unter Wasser. Früher konnten die 13 Wasserläufe durch die Stadt, die meist in der Vulkankette hinter Bogor entspringen, noch ungehindert ins Meer fließen. "Jetzt müssten die Flüsse und Kanäle bergauf fließen, um das Meer zu erreichen. Also müssen sie es herauspumpen", sagt Bondok, der mich zur Mauer gebracht hat.

Er wohnt ganz in der Nähe. Doch Wasseranschluss hat er genauso wenig wie fast drei Viertel der Bevölkerung. Die muss Wasser aus Plastikkanistern oder von Tankwägen kaufen. Oder sie bohrt Brunnen zum Grundwasser, das aber in Küstennähe zunehmend versalzen ist, weil bereits Meerwasser eingedrungen ist. Also muss noch tiefer gebohrt werden.

"Je mehr Grundwasser abgepumpt wird, desto stärker sinkt die Stadt, denn der Boden ist sumpfig, und wenn ihm das Wasser entzogen wird, fehlt Stabilität. Es kommt zur Bodensenkung. Zudem drückt das schiere Gewicht der Gebäude auf den weichen Untergrund", erklärte Victor Coenen kürzlich in einem TV-Interview. "Jakarta vor dem Wasser zu schützen - das ist technisch betrachtet gar nicht so schwer. Aber die sozialen Konsequenzen sind es. Wenn du diese Menschen in Sozialbauten umsiedeln willst, dann müssten sie etwa 13 Euro Miete zahlen. Das ist eine lächerliche Summe für uns, aber unfassbar viel für sie. Hochwasserschutz in Jakarta ist also eher ein sozio-ökonomisches als ein technisches Problem."

Die prekären sanitären Verhältnisse der Stadt an der Java-See sind seit Jahrhunderten bekannt und keineswegs bloß Folge eines unseligen Mix aus Bevölkerungsexplosion (1950: 1,7 - 2019: 10,8 Millionen Menschen), umweltschädlicher Produktion und Klimawandel. James Cook, Forscher und Entdeckungsreisender, beschreibt die Situation 1770 wie folgt: "Die Kanäle, welche größtenteils ein stillstehendes, sehr verunreinigtes und faules Wasser enthalten, dünsten in der heißen Jahreszeit einen unausstehlichen Gestank aus (. . .) In der nassen Jahreszeit (. . .) schwillt das Wasser in diesen unreinen Kanälen dermaßen an, dass es aus seinen Ufern tritt und in den niedrigen Gegenden der Stadt die unteren Stockwerke überschwemmt. Ist es wieder abgelaufen, so findet man da, wo es stand, eine unglaubliche Menge von Schlamm und Kot."

Schwer verseucht

250 Jahre später sind Cooks Betrachtungen nur teilweise obsolet. Aus gesundheitlicher Perspektive herrscht jedenfalls dringender Handlungsbedarf: Von den ungeklärten Industrie-Abwässern der Hauptstadt sind etwa im Mündungsgebiet des Flusses Citarum, im Ostteil von Metro-Jakarta, direkt 500.000 und indirekt rund fünf Millionen Menschen betroffen. Wasser und Boden sind mit hohen Anteilen von Blei, Cadmium, Chrom und Pestiziden derart verseucht, dass das Blacksmith Institute den Fluss 2013 in seine Liste der "Top 10 der am stärksten verseuchten Orte der Welt" aufgenommen hat.

2018 belegte Jakarta in einer Rangliste der Städte nach ihrer Lebensqualität Platz 142 unter 231 untersuchten Städten weltweit. Dass 40 Prozent der Rohrleitungen lecken, wie Elisa Sutanudjaja vom Rujak Center für urbane Studien in Jakarta schätzt, macht die Versorgungslage nicht einfacher.

Vieles stinkt hier, nicht nur olfaktorisch. Und alles sinkt. Reiche Viertel und Gated Communities, Industriezonen und Lagerhallen genauso wie informelle Slums, die immer wieder neu aufgebaut werden: an Wasser-Reservoirs, an stockenden Flüssen und Kanälen, im Wasser auf Stelzen gebaut. Und so blockieren Bauten, Schmutz und Abfall ein Abfließen des Wassers in den Entwässerungskanälen noch mehr. Die Ärmsten können sich Mieten schwer leisten, seien sie noch so gering, also errichten sie ihre Behausungen dort, wo es nichts oder sehr wenig kostet. Bondok bringt mich zu seinem Onkel. Der kann nur mehr mit gebeugtem Kopf in seine Küche gehen, deren Decke er vor fünf Jahren nicht einmal mit den Händen erreichen konnte.

Neue Hauptstadt

Die Wasserversorgung verbessern, existierende Schutzmauern sichern - so lautet die Marschrichtung. Ist ein großer, befahrbarer Deich vor der Bucht von Jakarta eine letzte Option, um die Stadt langfristig zu retten? Wie der Abschlussdeich am Ijsselmeer in Holland weit draußen gelegen, würde er die Wellen brechen und könnte zugleich als Verbindung zwischen dem internationalen Flughafen Soekarno Hatta und dem Containerfrachthafen Tanjung Priok dienen.

Im Hafen Sunda Kelapa.
© Spreitzhofer

Bis dahin wird Jakarta wahrscheinlich seinen Hauptstadt-Status verlieren, weil bis 2024 eine neue Hauptstadt in der indonesischen Provinz Kalimantan auf der Insel Borneo erbaut werden soll: Im Zentrum des Archipelstaates, wo es tektonisch sicherer, unbesiedelter, frei von latenten Überschwemmungen ist. Präsident Joko Widodo, unter seinen Anhängern besser bekannt als Jokowi, versucht die Vision eines gerechten und fortschrittlichen Indonesiens heraufzubeschwören: "Eine Hauptstadt ist nicht nur ein Symbol nationaler Identität, sondern sie repräsentiert auch den Fortschritt einer Nation. Dieser Schritt verwirklicht wirtschaftliche Gleichheit und Gerechtigkeit." Und so soll eine neue, smarte, grüne Hauptstadt am Reißbrett entstehen, Baubeginn 2021. Über eine Million Menschen sollen aus Metro-Jakarta in die neue Hauptstadt ziehen, von der weder Name noch genaue Lage offiziell feststehen.

Mit oder ohne Regierungssitz: Für Bondok und seinen Onkel sollte sich vorerst wenig ändern. Denn Jakarta wird das Geschäfts- und Finanzzentrum bleiben, attraktiv für Migration aus dem ruralen Umland. Zugleich mit einer wachsenden Upper Class ohne großen Appetit auf Umzug in die insulare Peripherie Indonesiens, solange es sich in autarken Satellitensiedlungen im Speckgürtel der Metropole gut leben lässt.

Deshalb werden weiterhin täglich Hunderttausende in die Metropole strömen, stauen und hoffen, dass die Hi-Tech-Tunnel des neuen U-Bahnsystems wasserdichter sind als die neuen Deiche hinter Sunda Kelapa. Denn der nächste Regen kommt bestimmt. Bondoks Badeschlapfen sind bewusst gewählt.

Günter Spreitzhofer, geb. 1966, ist Lektor am Institut für Geographie
und Regionalforschung der Universität Wien; Arbeitschwerpunkte:
(Südost-)Asien, Urbanisierung & soziokulturelle Transformation,
Umwelt & Ressourcen.