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Wien als strahlende Kinostadt

Von Peter Payer

Reflexionen
Der Wiener Sascha Palast an der Ecke Ungargasse/Rennweg im Jahr 1931.
© Sammlung Thomas Jelinek

Kino als "Architektur der Nacht": Ein historischer Streifzug durch die Bundeshauptstadt im (Neon-)Schein.


Das Kino ist ein Kind der Stadt. Geboren in der Wahrnehmungs- und Vergnügungskultur der Moderne, reiht es sich ein in jene Attraktionen, die im Dienst einer zunehmend reizhungrigen urbanen Massengesellschaft entstanden. Schon die frühen Kinos etablierten sich daher an stark frequentierten Orten der Innenstädte, in betriebsamen Geschäftsstraßen oder ausgedehnten Vergnügungsvierteln.

In Wien kommt bekanntermaßen dem Prater eine wesentliche Pionierfunktion zu, als Ort, an dem sich Innovation und Sensation kreativ vermengten. Das traf von Beginn an auch auf das Kino zu. Sowohl von seiner Technik her wie auch von den gezeigten Inhalten - und natürlich auch von seiner Wirkung nach außen: Denn auffallen musste das Kino, wollte es sich von den übrigen metropolitanen Unterhaltungsangeboten unterscheiden.

Die Auffälligkeit, um nicht zu sagen: Grellheit der Ankündigung, wurde zunächst durch bunte und teils überdimensional große Schrift- und Bildplakate erreicht. Erst später kam eine mehr oder weniger phantasie- und effektvolle Fassadengestaltung hinzu. Unterstützt wurde all dies durch jenes Medium, ohne dem das Kino schlicht nicht zu denken ist: das (elektrische) Licht.

Visuelle Reize

Von außen bis innen ist das Kino zutiefst Licht-determiniert: An der Fassade werden Kinonamen, Filmtitel und Schauspieler mittels effektvoller Beleuchtung im Stadtraum angekündigt, sodann im erleuchteten Foyer, das als Transitraum fungiert, bis hin zum abgedunkelten Vorführraum, der dem eigentlichen Licht-Spiel gewidmet ist, ermöglicht durch die technische Apparatur zur Lichtprojektion. Für die Besucher ist es eine völlig neue Raumerfahrung: Eine Reise vom Licht-Ort hin zum Nicht-Ort, in dem sich auf magische Weise sämtliche Raum-Zeit-Grenzen auflösen.

Die in Wien um 1900 beginnende Elektrifizierung stellte die technologische Voraussetzung für die räumliche Ausbreitung dieser Wunderwelt dar, die topografisch vorerst auf das Zentrum und zentrale Verkehrsachsen beschränkt blieb. Erst mit dem Ausbau der entsprechenden Infrastruktur konnte das Kino ab der Zwischenkriegszeit in die Außenbezirke diffundieren. Und letztlich zu jenem kinematographischen Nahversorger werden, als welcher es zu seiner Blütezeit im ganzen Stadtgebiet präsent war.

Bewegung und Licht waren schon mit der Gasbeleuchtung des 19. Jahrhunderts zu Charakteristika der Großstadt geworden. Das elektrische Licht führte dies im darauffolgenden Jahrhundert konsequent fort - mit dem Kino als Medium. Die steigende Zahl an visuellen Reizen, die auf den Großstadtmenschen einströmten, der permanente Wechsel der Eindrücke auf der Straße erfuhen im Kinosaal ihre "logische" Fortsetzung. Und dies in besonderer Weise in der Nacht. Denn die sukzessive Beleuchtung des öffentlichen Raumes und die Etablierung von mit Licht inszenierten Eingängen und Schaufenstern machten die Straße immer mehr zum visuellen Erlebnisraum. Ein Nachtleben entstand, in dem das Kino eine herausragende Stellung einnahm. Seine "Lichtarchitektur" setzte unübersehbare Akzente im Dunkel der Großstadtnacht.

Historische Ansicht des Apollo-Kinos.
© Agentur Votava

Neben dem ebenfalls neu entstehenden Warenhaus nutzte das Kino als erstes die enorme Anziehungskraft des elektrischen Lichts. Geschickt lenkte es die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich, lockte und verführte sie auf faszinierende Weise - sowohl im Nahbereich als auch in der Fernwirkung. Geschaffen für die Dunkelheit, trat das Kino in wirkungsmächtige Licht-Kommunikation mit seiner Umgebung. Kino war Architektur für die Nacht, wie der Kunsthistoriker Christoph Bignens als einer der Ersten analysierte. Dies spiegelte sich nicht zuletzt in Bezeichnungen wie "Lichtspieltheater" oder "Lichtpalast" - oder in mythologisch assoziierten, auch in Wien häufig verwendeten Kinonamen wie Lux, Apollo, Helios, Luna, Diana oder Eos.

Waren zunächst nur der Haupteingang, Schaukästen und einzelne architektonische Elemente der Fassade durch Glühbirnen punktmäßig markiert, ermöglichte die von Georges Claude erfundene Neonröhre neue Ausdrucksformen. Die Kino- und Filmwirtschaft gehörte in Wien - wie auch in anderen Städten - zu den Pionieren dieser neuen Art von Reklame. Es war das Café Payr am Getreidemarkt 7/Ecke Lehargasse, ein Treffpunkt der Film- und Theaterwelt, an dessen Fassade im Jahr 1923 Wiens erste Neonreklame erstrahlte.

Als erstes Kino mit Neonreklame folgte sodann das Lustspieltheater im Prater. Ende November 1927 eröffnet, war es vom Theater zum Großkino umgebaut und mit einer hochaufragenden Leuchtreklame ausgestattet worden. 25 Meter, bis auf die halbe Höhe des Riesenrades, reichte die weithin strahlende Lichtwerbung. Noch bombastischer und mit ebenfalls enormer Fernwirkung präsentierte sich zwei Jahre später das vom Varieté zum Kino umgebaute Apollo. Es wurde am 11. September 1929 als "Lichtspieltheater großen Formats" eröffnet und sogleich als europaweit einzigartiger Kinopalast gefeiert.

Glitzernder Filmpalast

Im Jahr 1931 eröffneten zwei weitere lichttechnisch bemerkenswerte Großbauten: Das Scala in der Favoritenstraße, ein - wie es hieß - "Prachtkino" mit aufsehenerregenden blauen Neonröhren an seiner Fassade, und der Sascha Palast am Rennweg, der mit Leuchtobelisken und -reklamen geradezu mondänes Flair verströmte.

Das Kino hatte in seiner Entwicklungsgeschichte eine neue Stufe erreicht, sich rein äußerlich vom schlichten Ladenkino in einen glitzernden Filmpalast verwandelt. Die neue Art der Reklame brachte Bewegung ins Stadtbild und zunehmend auch Farbe. Beides Effekte, die allerdings mit der darauffolgenden Änderung der politischen Verhältnisse als unerwünscht galten. Eine allzu aufdringliche Reklame an der Straßenfassade war in der NS-Zeit ebenso verboten wie die Verwendung des Wortes "Kino". Beides erschien den autoritären Machthabern als zu wenig deutsch, die Kennzeichnung der Filmvorführungsorte als "Lichtspieltheater" bzw. "Lichtspiele" wurde obligatorisch.

Das Künstlerhaus Kino in strahlenden Lettern.
© Johann Klinger

Bis nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs und erfolgreichem Wiederaufbau die Stadt so richtig bewegt und bunt zu werden begann. Es waren die 1950er Jahre, die als das goldene Zeitalter der Kinoreklame in die Geschichte eingehen sollten. Nie zuvor und nie mehr danach erreichte sie eine annähernd hohe Präsenz in der Stadt. Selbst die kleineren Nachspielkinos in den Bezirken rüsteten auf, wie Wiens führender Filmbezirk Neubau beispielhaft illustrierte, vor allem aber natürlich die Hauptgeschäftsstraßen als kommerzielle Zentren der Vergnügungskultur. Allein in der Mariahilfer Straße mit ihren insgesamt sieben Kinos kletterten unzählige Neonlichter die Fassaden hinauf, warben bunte Filmplakate um die Gunst des Kinopublikums.

Die in den 1960er Jahren einsetzende Kinokrise verringerte sodann die Anzahl der Spielstätten in dramatischem Tempo, bereitete aber zugleich eine neue Art der Außenwerbung vor: Großflächige Lichtkästen mit Steckbuchstaben, vornehmlich in den Farben rot, schwarz und blau, waren immer öfter an den Straßenfronten der Kinogebäude zu sehen. Flexibel und leicht austauschbar, spiegelten sie jenen Trend zu standardisierter Vielfalt wider, der in der Reklame wie generell im urbanen Diskurs zur Leitlinie erhoben wurde.

Funktionalität und Nüchternheit strahlten auch die wenigen neuen Großkinos der Nachkriegszeit aus, wie das 1950 eröffnete Forum in der Stadiongasse, eine adaptierte Markthalle mit glatter Fassade und reduzierten Lichtakzenten, oder das 1960 eröffnete Gartenbau am Parkring. Die noch verbliebenen Kinostandorte reagierten, wenn architektonisch möglich, mit Steigerung der Effizienz und Vergrößerung des Angebots: Kino-Center mit mehreren Sälen entstanden. Schon 1962 war mit dem Panorama am Praterstern der erste derartige Kinotyp eröffnet worden, ab den 1980er Jahren folgten zahlreiche weitere. Als größte davon seien das Apollo (zwölf Säle), Kolosseum (acht Säle), Artis (sechs Säle), Auge Gottes (fünf Säle) sowie Cine und Flotten (je vier Säle) genannt.

Sie alle machten schon rein äußerlich deutlich, dass das Kino seine einstige auratische Wirkung zu verlieren begann und im Begriff war zu einer überwiegend kommerziell orientierten Filmvorführmaschine zu werden. Gebäudefronten mit informativ und übersichtlich gehaltenen Displays prägten das Stadtbild. Ein Trend, der sich im folgenden Jahrzehnt mit dem Multiplex-Boom weiter verstärken sollte.

Sinnliche Qualitäten

Die neuen Kino-Konglomerate, zumeist verkehrsgünstig an der Peripherie der Stadt gelegen, funktionierten nunmehr auch werbetechnisch ganz anders. Eingebettet in komplex organisierte Entertainment- und Shopping-Center, traten die dort integrierten Kinos im Stadtbild so gut wie nicht mehr in Erscheinung. Als Teil einer neuen Indoor-Freizeitkultur verlor das Kino sein Alleinstellungsmerkmal. Es war zu einer von mehreren, dicht neben- und übereinander gestapelten Erlebniswelten geworden. Aufgegangen in einer großen Unterhaltungs- und Wahrnehmungsmaschine, deren Ziel es war, unaufhörlich in Betrieb zu sein.

Das Verhältnis von Kino und Stadt hatte sich damit erneut - und diesmal radikal - zu wandeln begonnen. Wenngleich heute bei weitem nicht mehr alle der mit enormer Rasanz errichteten Multiplexe in Betrieb sind, waren die Auswirkungen auf die Wiener Kinolandschaft doch nachhaltig. Angesichts der gestiegenen Konkurrenzsituation gelang es nur mit massiver öffentlicher Unterstützung, die Kinokultur der Stadt in ihrer Differenziertheit aufrecht zu erhalten. Zumindest im innerstädtischen Bereich kann man heute noch ansatzweise die Anziehungskraft der Kinos in ihrem ursprünglichen urbanen Kontext nachvollziehen.

Noch flimmern einige bunte Kinoreklamen in der Nacht, erinnern Steckdisplays an die Hochblüte der Kino-Center, und das Apollo fungiert nach wie vor als Ikone der heimischen Lichtspielarchitektur. Auch wenn das Kino längst sein Monopol als Ort des Films verloren hat, gibt es somit Reservate, die jene Erlebniswirkung bewahren, die das klassische Kino mit all seinen sinnlichen Qualitäten auszeichnet.

Hinweis: Die Ausstellung "Kino Welt Wien" ist von 5. März 2020 bis 10. Jänner 2021 im Metro Kinokulturhaus (Johannesgasse 4, 1010 Wien) zu sehen. www.filmarchiv.at

Peter Payer, geboren 1962, ist Historiker, Stadtforscher und Publizist. Er führt ein Büro für Stadtgeschichte und arbeitet als Kurator im Technischen Museum Wien. Zahlreiche Publikationen, zuletzt "Der Klang der Großstadt. Eine Geschichte des Hörens, Wien 1850-1914 (Böhlau Verlag, Wien 2018).