
Das Osterfest begeht das zentrale Heilsereignis des Christentums. Am Karfreitag wird des gewaltsamen Todes Jesu am Kreuz gedacht, in der Osternacht wird seine Auferstehung gefeiert. Ohne Jesu Tod und Auferstehung gäbe es das Christentum nicht. Jesus selbst war Jude, der beispielsweise von Maria von Magdalena im Rahmen der Erzählung von ihrer Begegnung mit dem Auferstandenen als "Rabbi" angesprochen wird. In dieser jüdischen Identität des frühen Christentums liegt mitbegründet, dass im zentralen Heilsereignis des Christentums gleichzeitig die Wurzel einer Unheilsgeschichte für das Judentum zu suchen ist. Die ersten Anhänger Jesu waren Juden. Im Gegensatz zu den meisten Juden glaubten die Anhänger Jesu, dass er der von den Juden erwartete Messias war, also der Christus.
Durch die Ausbreitung des Christentums entstand eine Konkurrenzsituation zwischen Judentum und Christentum. Nach einem weit verbreiteten christlichen Verständnis, das sich zum Beispiel bei dem lateinischen Kirchvater Augustinus von Hippo (4./5. Jhdt.) findet, geht die Heilsverheißung des "alten Bundes" vom Judentum auf das Christentum über.
Triumphierende Kirche
Diese Deutung der mit Israel verbundenen Heilsgeschichte, die im Christentum ihre endgültige Bestimmung finden soll, hat auch in der Kunst ihren Niederschlag gefunden. Es gibt zahlreiche mittelalterliche Zeugen einer besonderen Form der Kreuzigungsszene: In der Mitte ist der Gekreuzigte dargestellt, zwei Frauengestalten finden sich zu seinen Seiten unterhalb des Querbalkens. Die Frau zur Rechten Jesu stellt die Kirche dar. Mit einer Krone gekrönt, steht sie für den Sieg des Christentums. Es ist die Darstellung der ecclesia triumphans, der triumphierenden Kirche. Zur Linken findet sich als typologische Darstellung des Judentums die Synagoge, dargestellt als eine Frau, deren Augen verbunden sind. Durch ihr Herz geht ein Schwert (siehe Abbildung oben).
Hände, die aus dem Kreuz oder den Wolken neben dem Kreuz hervorkommen, krönen die Kirche und durchbohren die Synagoge. In aus moderner Sicht höchst gewalttätiger Weise wird der Sieg der Kirche über das Judentum dargestellt. Es ist wenig erstaunlich, dass derartige Darstellungen auch in zeitlicher Nähe zu mittelalterlichen Pogromen entstehen.
In den mittelalterlichen Darstellungen wird die Synagoge vom Schwert durchbohrt, in der historischen Wirklichkeit starben Jüdinnen und Juden, ihre Synagogen und Bethäuser wurden zerstört, so etwa während der sogenannten Wiener Gesera im Jahr 1421.
Diese Darstellung hat ihre Wurzeln im Neuen Testament: Bildinspiration ist ein Zitat aus dem Johannesevangelium. Im zwölften Kapitel (Joh 12,39-40) liest man in der Übertragung der Einheitsübersetzung 2016, die es sich zum Ziel gemacht hat, unnötig judenfeindliche Übersetzungsentscheidungen zu vermeiden: "Denn sie konnten nicht glauben, weil Jesaja an einer anderen Stelle gesagt hat: Er hat ihre Augen blind gemacht und ihr Herz hart, damit sie mit ihren Augen nicht sehen und mit ihrem Herzen nicht zur Einsicht kommen, damit sie sich nicht bekehren und ich sie nicht heile."
Der Verfasser des Johannesevangeliums zitiert den Propheten Jesaja, eine jüdische Schrift, um die Verblendung des Judentums als göttliche Entscheidung zu beschreiben. Man muss bei dieser Verwendung des Propheten Jesaja wohl von einer Enteignung des Judentums sprechen. Gott selbst, dessen Hände in zahlreichen mittelalterlichen Darstellungen der Kreuzigung zu sehen sind, verstößt das Volk, zu dem er durch Jesaja gesprochen hat, und durchbohrt das Herz der Synagoge - aus dem Volk der Verheißung wird das Volk unter dem Fluch. Der "unverbrüchliche" Bund Abrahams ist zerbrochen, der Unglaube wird dem erwählten Volk zum Fluch - und die Kirche wird zum "neuen Is-rael".
Dies ist eine über Jahrhunderte hinweg wirksame theologische Sicht des Judentums. Es nimmt nicht wunder, dass das Johannesevangelium als das jüngste und judenfeindlichste Evangelium unter den vier neutestamentlichen Evangelien gilt. Die jüdische Gelehrte Adele Reinhartz bezeichnete es in einer Veröffentlichung als "grammar of hate" - Grammatik des Hasses.
"Erstes Testament"
Von einer derartigen Verwendung des Alten Testaments peinlich berührt, gibt sich die christliche Theologie heute Mühe, bereits die Schriften der hebräischen Bibel in einer Weise zu bezeichnen, dass sie als heilige Schriften des Judentums erkennbar sind. Man spricht nur noch ungern vom "Alten Testament". Schließlich setzt das einen impliziten Gegensatz zum "Neuen Testament" voraus. Bevorzugt werden stattdessen Formulierungen wie "hebräische Bibel" oder "erstes Testament".
All dies kann jedoch nicht da-rüber hinwegtäuschen, dass im Johannesevangelium die Schriften der Juden dafür verwendet werden, den Juden den Fortbestand der ursprünglich an sie ergangenen Verheißung abzusprechen.
Eben diese Sicht der Dinge hat mit dazu beigetragen, dass beide christlichen Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus theologisch unfähig waren, den bedrängten Juden zu Hilfe zu kommen. Die Zerstörung von mehr als 1400 jüdischen Beträumen, Versammlungsorten und Synagogen im Rahmen der Novemberpogrome 1938 konnte gleichsam als Erfüllung dieser mittelalterlichen Darstellungen verstanden werden.
Einer der bedeutendsten und einflussreichsten Neutestamentler des zwanzigsten Jahrhunderts, Gerhard Kittel, der während des Nationalsozialismus in Tübingen und von 1939 bis 1943 auch an der Universität Wien wirkte, ist ein Beispiel für diese Haltung. Kittel, der bereits am 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP wurde, bezeichnet sich selbst in seiner nach dem Krieg verfassten Verteidigungsschrift als Vertreter eines "christlichen Antijudaismus".
Er war nach dem Krieg seines Amtes als Theologieprofessor in Tübingen enthoben worden, die Verteidigungsschrift sollte seiner Rehabilitation dienen. In ihr spricht er von der jüdischen Geschichte als "Fluch und Verwerfung". Zahlreiche, dieser Verteidigungsschrift beigelegte Unterstützungsschreiben von katholischen und evangelischen Theologen bezeichnen Gerhard Kittel als einen typischen Theologen, der keine besondere Nähe zum nationalsozialistischen Regime aufgewiesen habe. Er selbst behauptet in seiner Verteidigungsschrift, sogar mit einer Verhaftung und Überstellung ins KZ gerechnet zu haben.
Rechtfertigung Hitlers
Ein bisher in der Forschung nicht berücksichtigter Artikel Kittels, der im Jänner 1939 als Reaktion auf die nationalsozialistischen Gewaltexzesse im November 1938 in einer reichsdeutschen Tageszeitung erschien, macht heute betroffen. Kittel schreibt am Ende des langen Beitrags: "Während des ganzen Mittelalters und bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war [...] das Judentum wieder in sich abgeschlossen, bis die Schranken des Ghetto fielen und die neue Mischperiode des modernen Assimilationsjudentums einsetzte, dem erst die Tat Adolf Hitlers ein Ende bereitet hat." Mit Erschrecken muss man heute fragen, wie nach den im November 1938 brennenden Synagogen Adolf Hitlers Taten von einem christlichen Theologen noch gelobt werden konnten?
Heilszusage
Viel erschreckender ist jedoch, dass der Einfluss Gerhard Kittels bis heute weiterwirkt. Das überzeugte NSDAP-Mitglied war Herausgeber des "Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament", das im Jahr 2019 unverändert nachgedruckt wurde. Gleich zwei Artikel in diesem Wörterbuch betonen bezüglich der im Johannesevangelium zitierten Weissagung des Propheten Jesaja, dass es Gott selbst war, der die Verhärtung der Herzen verursacht habe.
Das "Volk unter dem Fluch" wird damit durch ein Standardwörterbuch zum Neuen Testament als sachlich richtiges Verständnis des Zitats des Propheten Jesaja im Johannesevangelium ausgewiesen. Diese Behauptung ist sprachwissenschaftlich nachweislich falsch. Natürlich, Augustinus versteht den Text so. Aber Augustinus war ein lateinischer Kirchenvater. Einer der besten Philologen der griechischen Kirche, Origenes (er wirkte im dritten Jahrhundert), bemerkt zu dieser Stelle: "Einer ist es, der die Augen blind macht und die Herzen verhärtet, ein anderer ist es, der Heilung bringt."
Mit Origenes muss man also diese Stelle folgendermaßen übertragen: "Er hat ihre Augen blind gemacht und ihr Herz hart. Folglich sehen sie mit ihren Augen nicht und kommen mit ihrem Herzen nicht zur Einsicht und bekehren sich nicht. Und ich werde sie heilen." Das Verständnis des Textes, wenn man auf den griechischen Kirchenvater hört, verändert sich grundlegend. Der Verfasser des Johannesevangeliums verwendet ein Zitat aus der Schrift, um zu erklären, warum Jesus gar keinen Glauben finden konnte: Es ist geradezu das Kennzeichen eines Propheten, dass er erst einmal auf geschlossene Augen und verhärtete Herzen trifft. Trotzdem will Gott daraus Heil schaffen. Der griechische Text kann eigentlich nur als Heilszusage verstanden werden. In der Rezeptionsgeschichte wird er zur Unheilsbotschaft.
Tabu bis heute
Es macht betroffen, dass ein Werk, dessen erster Hauptherausgeber bekanntermaßen Ehrengast Adolf Hitlers am Reichsparteitag 1938 in Nürnberg war, noch heute als Autorität verwendet wird und sprachwissenschaftlich falsche und judenfeindliche Übersetzungsentscheidungen stützt. Martin Leutzsch bemerkte kürzlich mit Recht, dass das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament "insgesamt als philologisches Ins-trument unbrauchbar" sei.
Angesichts der Tatsache, dass die öffentliche Wirkung Gerhard Kittels während des Nationalsozialismus - der oben erwähnte Zeitungsartikel aus dem Jänner 1939 stellt nur die Spitze eines großen Eisbergs dar - bis heute nicht untersucht ist, wird man den Zeithistorikern Manfred Gailus und Clemens Vollnhals zustimmen müssen, die in einem 2020 erschienen Tagungsband zu Gerhard Kittel bemerken: "Aber offensichtlich war das Thema sehr lange Zeit ein Tabu, und teilweise scheint es das noch heute zu sein."
Es war gerade die christliche Sicht des Judentums als "Volk unter dem Fluch", die Gerhard Kittel - und nicht nur ihn - bewog, in Adolf Hitler und seinem Vorgehen einen "christlichen" Umgang mit dem Judentum zu sehen. Dies zeigt, wie sehr theologische Vorurteile, die unter anderem auch auf einer sprachwissenschaftlich unhaltbaren Übersetzungsentscheidung im Johannesevangelium aufbauen, dazu beigetragen haben, dass das Unvorstellbare während des Nationalsozialismus möglich wurde. Tabus sollte es im 21. Jahrhundert zu diesem Thema gerade in der deutschsprachigen theologischen Forschung eigentlich keine mehr geben.