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"Es galt die Rettung der Monarchie"

Von Christoph Rella

Reflexionen

Als sich ab Mai 1831 in Österreich die Cholera ausbreitete, reagierten die Behörden in Wien mit strengen Maßnahmen.


Wer konnte, verließ die Stadt. Auf Karren und Ochsen zogen die Bewohner Galiziens in Richtung Westen. Am 5. Mai 1831 war in der Stadt Brody - aus dem benachbarten Russland eingeschleppt - die Cholera ausgebrochen, 14 Tage später erreichte die "asiatische Seuche", wie die bakterielle Durchfallerkrankung damals genannt wurde, die Hauptstadt des Kronlandes. Tatsächlich sollten Lemberg und Brody, das 100 Jahre später als Geburtsort des Schriftstellers Joseph Roth Bekanntheit erlangen sollte, als das St. Anton und Ischgl der Cholera-Pandemie von 1831/32 im alten Österreich in die Geschichte eingehen. Kaum eine andere Stadt des Kaiserstaates hatte so viele Todesopfer zu verzeichnen wie Lemberg, wo von den insgesamt 5018 Infizierten binnen eines Jahres 2621 starben, also mehr als die Hälfte. In Brody waren es zwar "nur" 1767 (von 4639), verglichen mit der Einwohnerzahl (18.000) wurde hier aber jeder Zehnte von der Cholera hingerafft.

Den verantwortlichen Behörden in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien blieben die Zustände im Osten der Monarchie nicht verborgen. Sie reagierten, so wie ihre Nachfolger in der Corona-Pandemie 200 Jahre später, zunächst einmal mit Grenzschließungen. An der Grenze zu Russland wurde auf kaiserliche Verfügung hin ein "Militär-Cordon" aufgestellt sowie auch die Grenzen Galiziens zu Mähren und Ungarn gesperrt. Zusätzlich wurden die Städte unter Quarantäne gestellt, "die Strenge ist so groß, daß kein Reisender in Lemberg eingelassen wird, der nicht ein Gesundheits-Zeugniß mitbringt", schrieb etwa die Zeitung "Carinthia". Und der von der Landesregierung mit der Seuchenbekämpfung beauftragte Mediziner und Sanitätsbeamte Joseph Johann Knolz notierte: "Die befallenen Wohnungen, Häuser und Orte wurden der engsten Sperre, wo sich diese nur immer ausführbar zeigte, unterzogen. Es galt die Rettung der Monarchie und ganz Europas vor den Verheerungen einer verderblichen Seuche, wie sie seit Jahrhunderten nicht in Europa aufgetreten war."

Allein, es war zu spät. Während in Galizien die Infizierten- und Opferzahlen anschwollen, waren im ungarischen Pest sowie - verbreitet durch heimreisende Studenten - auch in den Komitaten die ersten Krankheitsfälle aufgetreten, was wiederum die k.k. Regierung in Wien dazu veranlasste, Ungarn östlich der Donau zum Epidemiegebiet zu erklären sowie ab 7. Juli 1831 auch die Grenzen Niederösterreichs, der Steiermark und Mährens für jeden Verkehr zu sperren. Ausgenommen waren zunächst nur Körnerfuhren aus den Komitaten des heutigen Burgenlandes. Aber auch an den innerösterreichischen Grenzen, etwa zu Oberösterreich, wurden umgehend alle "Provenienten, wenn sie nicht dringende Geschäfte hatten, zurückgewiesen".

Androhung der Todesstrafe

Um "das Einschleichen verdächtigen Gesindels" zu unterbinden, wurden die Grenzen streng bewacht, wer sich nicht an die Vorschriften hielt, musste mit Strafen rechnen. Nachdem die Disziplin der Reisenden offenbar zu wünschen übrig ließ, wurde entlang des ungarischen Cordons am 15. August das Standrecht verhängt, also die Todesstrafe angedroht, um "gegen aufgegriffene Landstreicher, paßlose Handwerksburschen, vorzüglich aber gegen die Schacherjuden der benachbarten ungarischen Comitate mit großer Strenge" zu verfahren. Wer dagegen legal durch die Sperren gelangen wollte, musste eine zehn- bis zwanzigtägige Quarantäne in einer der eigens errichteten "Contumaz-Anstalten" auf sich nehmen. Eine besondere Vorsicht legte laut Knolz dabei die Wiener Polizei, die vor den Toren der Stadt Kontrollen durchführte, an den Tag: "Alle Pässe und Papiere der zur Contumaz bestimmten Personen wurden mit Zangen gefaßt, über einen in den Linien aufgestellten Apparat durchräuchert, und so der höheren Aufsichtsbehörde eingesendet." Von den strengen Vorschriften betroffen war, anders als bei der aktuellen Corona-Krise, auch der Import angeblich "giftfangender Waren" und von Vieh: Konnte hier kein "Ursprungscertificat" vorgelegt werden, mussten auch sie für mehrere Tage in Quarantäne. Lediglich Reisende aus "gesunden Comitaten" wie Kroatien und Slawonien waren gegen Vorlage "legaler Sanitäts-Pässe contumazfrey einzulassen".

Noch während die Behörden an der Undurchlässigkeit ihrer Cordons arbeiteten, trat Anfang August unbemerkt der erste Cholera-Fall in Wien auf. "Am 10. August kam erwiesenermaßen der 1te Fall von dieser Krankheit am sogenannten Salzgries bei einem armen Weibe vor, welches (...) sich mehrfache Erkältungen ausgesetzt, bereits 3 Tage an Diarrhöe gelitten hatte, ehe sie von Erbrechen und Schwäche befallen und in’s allgemeine Krankenhaus gebracht wurde, wo sie nach 2 Tagen starb", berichtet der Lörracher Arzt Carl Zeller in seiner 1832 erschienenen Studie "Die epidemische Cholera". In den Zeitungen und Verlautbarungen war in diesen Tagen über den Fall kein Wort zu lesen. Entweder hatte man die Seuche, die auch über das Grundwasser verbreitet wurde, nicht erkannt oder man wollte den Ausbruch, so wie zuletzt bei Covid-19 in Wuhan, nicht an die große Glocke hängen. Glaubt man Zeller, versuchten es die Wiener zunächst mit der "chinesischen Strategie": "Noch suchte man die Anwesenheit des gefürchteten Feindes zu verheimlichen oder diesen für einen anderen zu erklären. Gewiß aber war dieser Versuch, die Bewohner Wien in täuschendem Schlummer zu erhalten, nur schädlich. Das Erwachen war für diese um so schrecklicher. Den 14., 15., 16. September brach unvermutet die Seuche aufs Heftigste aus."

42 Tage Heimquarantäne

Binnen weniger Tage mutierten mehrere Gassen der Innenstadt zu Hotspots, am stärksten betroffen waren die Judengasse, Preßgasse, der Kohlmarkt, die Tuchlauben, das Burgviertel sowie die Wipplinger Straße. Es war, schreibt Zeller, "ein regelmäßiges Fortschreiten nach der Häuserreihe, nach den Straßen zu bemerken; sie (die Cholera, Anm.) sprang unregelmäßig von entgegengesetzten Punkten einer Straße zu einer andern über." Als nach den Wohnungen auch öffentliche Institutionen wie das "Polizey- und Criminal-Gerichtshaus" befallen waren (54 Fälle), zog die Regierung die Reißleine. Die betroffenen Gassen und Straßen in der Innenstadt und den Vorstädten, wo sie Seuche ebenfalls um sich griff, wurden unmittelbar "cerniert", Erkrankte und ihre Angehörigen angewiesen, unter allen Umständen zu Hause zu bleiben, wobei die Quarantäne bis zu 42 Tage dauern konnte. Lediglich jene Personen, "die auf eine Wartung und Pflege zu Hause nicht rechnen können", wurden in den Spitälern und Lazaretten aufgenommen. Um die große Zahl an Erkrankten - täglich kamen rund 100 Fälle hinzu - versorgen zu können, wurden 28 bereits zuvor ausgewählte Gebäude in Cholera-Lazarette mit einer Kapazität von jeweils 60 bis 100 Betten umfunktioniert.

Organisiert und überwacht wurden die Maßnahmen von politischen Commissären und Militärs, die - wenig verwunderlich - auch von Kräften der Metternichschen Geheimpolizei gestellt wurden. Und die Männer führten streng Buch - und nicht nur über die Infektionszahlen. So war jedes Gebrechen, jeder Mangel sowie Anstand in täglichen Rapporten zusammenzufassen und diese über die k.k. Polizey-Ober-Direction an die Regierung weiterzuleiten. Und Probleme gab es viele: Es mangelte an Ärzten, Krankenwärtern, Hausknechten, Wächtern, Ausspeisern und Hauswäschern, aber auch an "Schlafröcken, Pantoffeln und Hemden". Um die ohnehin kargen Ressourcen der Spitäler zu schonen und weitere Ansteckungen zu vermeiden, wurden ab 26. Oktober 1831 der Eintritt in die Krankenhäuser reglementiert und nur Erkrankte aufgenommen, "wenn Gefahr im Verzuge haftete" - also eine Intensivbetreuung vonnöten war.

Schwindel, Ekel, Erbrechen

Die Symptome, welche Cholerakranke gewöhnlich zeigten, waren vielfältig, sodass nicht immer der Schweregrad der Erkrankung sofort erkannt werden konnte. Eine Auflistung der Symptome in der "Oesterreichischen Gesundheits-Zeitung" vom 12. Oktober 1831 macht dies deutlich: "Ein eigenthümliches Kollern und Poltern im Bauche, Magendrücken, ein brennendes Gefühl im Magen, ein schneidender Schmerz in den Gedärmen, Beängstigung, Schwindel, Ekel, Erbrechen und Abführen einer molkeartigen und weißflockigen Flüssigkeit, verbunden mit Krämpfen in den Gliedmaßen, eigenthümliche Veränderung der Gesichtszüge, Verlust oder charakteristische Modification der Sprache (heisere, klanglose Fistelstimme), das Zurücktreten des Lebensturgors und der animalischen Wärme, Eiskälte des Körpers, Starrheit der Glieder mit lividem Ansehen der Haut u.s.w. werden gewöhnlich für unfehlbare Kennzeichen und charakteristische Merkmahle der indischen Cholera angegeben."

"Reiben des Körpers mit Tuch"

Allerdings waren die Rezepte, die man für die Behandlung zur Verfügung hatte, dürftig und beschränkten sich auf praktische Hilfsmittel wie Brechwurzel, vegetabilische und mineralische Säuren, Reizmittel, Opium, Getränke, Bäder oder - bis zu einem bestimmten Grad - nach wie vor des Aderlasses. Parallel wurden in Zeitungen und Werbeschriften alternative "Hausmittel" angepriesen: So wie manche Kranke in Osteuropa das Coronavirus heute mit Saunagängen und Wodka zu bekämpfen suchen, verließ man sich 1831 auf nicht weniger fragwürdige Methoden. So berichtete etwa die "Brünner Zeitung": "Die kräftigsten Mittel dagegen (die Cholera-Infektion, Anm.) fanden die Kolomeaer Juden in Galizien in ihren alten Büchern; sie hat dort vor 200 Jahren gewüthet. Diese Mittel sind: starkes Reiben des ganzen Körpers mit rauhem Tuche oder mit Bürsten, Einreiben mit Aquavit-Alkohol oder Spiritus am Leibe, Belegung der Fußsohlen und zwischen den Beinen mit gehizten Ziegeln, und, um die Erwärmung zu beschleunigen, Umschlagung eines starkwarmen Breies." Einen anderen Rat wusste wiederum die Kirche. So heißt es etwa in einem im August geschalteten Aufruf in der "Grazer Zeitung": "Vertrauet auf Gott, Kaiser Franz und fürchtet die Cholera nicht." Das war leichter gesagt als getan, zumal die Lebensgefährlichkeit der Cholera rasch evident war. Dies wurde nicht nur angesichts der gemeldeten Opferzahlen deutlich, auch war der Schrecken in den Spitälern, Wohnungen und auf den eigens eingerichteten, insgesamt acht "Leichenhöfen" täglich sichtbar. "Von den Verstorbenen", berichtet der Arzt Zeller, "soll sogar mancher als an einer andern Krankheit verstorben angegeben worden seyn, um, wo es sich thun ließ, den Schrecken der Familie, den Abscheu von der besonderen Begräbnißweise ec. zu vermeiden." Und die Begräbnisse waren tatsächlich eine traurige Angelegenheit. Um jeden "üblen Eindruck auf das Publicum" zu vermeiden, wurden die Toten "zur Nachtzeit und in geschlossenen Wägen" abgeholt und ohne feierliche Zeremonie vor den Toren bestattet, wobei laut Knolz "die gewählten Beerdigungsplätze mit einem schwarzen Kreuz und dem Bildnisse unsres Heilandes versehen" wurden. Angesichts der Corona-Massengräber, wie sie zuletzt aus Italien und den USA bekannt wurden, eine vergleichsweise würdige Vorgehensweise.

Auf die Menschen übten nicht nur die Fallzahlen und Toten, sondern vor allem die Einschränkungen des täglichen Lebens sowie die daraus resultierenden sozialen und gesellschaftlichen Folgen eine starke negative Wirkung aus. Die Sperren und Quarantänemaßnahmen hatten nämlich auch dazu geführt, dass "Schulen, Schenken und Gewölbe" gesperrt werden mussten und Gottesdienste nur noch "bey geschlossenen Thüren gehalten werden sollten". Noch einmal Knolz: "Sie lösten die Bande des Blutes und der Freundschaft, die den Manschen an den Menschen ketten; scheu floh das Kind die Ältern, der Mann das Weib, das Weib den Mann." Und: "Die Sperren verschlossen die Absatzwege des Handels und die Erwerbsquellen von Tausenden versiegten; nahrungs- und erwerbslos wären sie dem drückenden Loose anheimgefallen, wenn nicht öffentliche und Privat-Wohltätigkeit Hülfe bringend, ins Mittel getreten wären."

Geld für Familien und Betriebe

Nun waren es zwar keine Milliardenbeträge, welche die k.k. Regierung in in die Wirtschaft und in den Arbeitsmarkt pumpte, aber immerhin. Um "brotlosen Arbeitern in den bevorstehenden Wintermonathen zweckmäßige Beschäftigung zum Erwerbe ihres Unterhalts zu verschaffen", wurde ihnen Taglohn bei der Renovierung der Befestigungen, beim Bau des neuen "Unrathcanals" am rechten Wienufer (siehe Bild) oder eines neuen Damms in Nußdorf angeboten. Darüber hinaus wurden die Armen mit Lebensmitteln, Holz oder Geld, rund 1000 in Not geratene Familien mit Zuschüssen in der Höhe jeweils von 20 bis 200 Gulden (435 bis 2175 Euro) versorgt. Gleichzeitig wurden Betrieben "ausständige Zinsungen oder sonstige Schulden, wegen welchen sie mit Pfändung bedroht waren, getilgt".

Über den wirtschaftlichen und fiskalischen Schaden, den die österreichische Volkswirtschaft aufgrund der Cholera-Pandemie nahm, existieren keine gesicherten Zahlen. Gewiss ist hingegen, dass zwischen September 1831 und März 1832 allein in Wien 2188 Opfer ihr Leben ließen. 1970 Tote sollten in einer zweiten Welle, die bis Ende 1832 andauerte, hinzukommen. Die höchste Sterblichkeitsrate wiesen Taglöhner (58 Prozent) auf.

Im Herbst 1832 erreichte die Pandemie, die 15 Jahre zuvor in Indien ihren Ausgang genommen hatte, England und Nordamerika. Allein in der Stadt New York zählte man 3515 Tote, bei einer Bevölkerung von 250.000. In Österreich trat die Cholera bis zur Entdeckung des Penicillins alle Jahrzehnte wieder auf. Im Fall von Covid-19 wird es, so kein Impfstoff gefunden wird, wohl nicht anders sein.