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Entscheidung am Semmering

Von Christoph Rella

Reflexionen
Die ungarische Exilregierung amtierte 1945 für einige Wochen im Hotel Panhans. Aber auch der Widerstand war hier aktiv.
© ÖNB/Hilscher

Das südliche Niederösterreich war in den letzten Kriegswochen des Jahres 1945 der politische Hotspot Österreichs.


Semmering, 8. Mai 1945, nachts. Im Gefechtsstand des Gebirgsjäger-Regiments 155 am Sonnwendstein rasselt der Fernsprecher. Oberleutnant Karl Dittrich greift zum Hörer. "Um 3 Uhr Kompanie-Führerbesprechung in der Hubertushütte", sagt die Stimme in der Leitung und legt auf. Dittrich kommt nicht einmal mehr zu Wort. Ahnungsvoll stapft er durch die Dunkelheit in Richtung Divisionsgefechtsstand. "Die Nacht ist nicht nur seltsam still, sie ist eigenartig schön", notiert er ins Tagebuch. "Der Himmel ist klar. Nur in den Tiefen liegen einige Nebelfelder. Nach Schottwien hinunter ist die Sicht frei. Nur ein einziges schwaches Licht ist zu sehen. Ist es ein unachtsamer russischer Posten?"

Kurz nach 3.00 Uhr betritt Oberst Heribert Raithel das Gastzimmer der Hubertushütte. Erst Anfang Mai war er vom Oberbefehlshaber der in der Steiermark stehenden 6. Armee, General Hermann Balck, zum Kommandanten der neuen 9. Gebirgsdivision am Semmering ernannt worden - eine bunt zusammengewürfelte, rund 10.000 Mann starke Truppe bestehend aus Wehrmacht, SS und Volkssturm. Raithel setzt die Offiziere mit stockender Stimme davon in Kenntnis, dass die Waffen ab 24 Uhr zu ruhen haben. "Kapitulation! Wir erhalten Befehl, heute Abend um 20 Uhr die Stellungen unbemerkt vom Feind zu räumen", schreibt Dittrich. "Oberleutnant Grögor kredenzt noch jedem von uns ein Stamperl Schnaps."

Damit fand nach sechs langen Wochen auch der bittere Stellungskrieg im Semmeringgebiet ein Ende. Am Ostersonntag, dem 1. April 1945, waren die ersten sowjetischen Vorauskommandos in Gloggnitz und Neunkirchen eingerückt und hatten die Bahnhöfe besetzt. Das Ziel der Roten Armee, die Unterbrechung der Südbahn und damit des Nachschubs für die Verteidigung von Wien, war also erreicht. Die Eroberung des Semmerings, der aufgrund seiner engen Talfurchen und felsigen Höhen tatsächlich festungsähnlichen Charakter hat, blieb hingegen aus. Die Truppen der von Marschall Fedor Iwanowitsch Tolbuchin kommandierten 3. Ukrainischen Front bissen sich entlang der Linie Schneeberg-Sonnwendstein fest - und die Front erstarrte.

Für die "Kampfgruppe Semmering" erwies sich dies als Vorteil. Sie konnte sich so mit dringend benötigten Truppen und Nachschub versorgen sowie ihre Stellungen ausbauen. Um die Verluste gering zu halten, beließen es die Sowjets bei geringfügigen Vorstößen. Statt sich auf den Höhen aufreiben zu lassen, wurden alle verfügbaren Kräfte in die Schlacht um Wien geworfen. Dabei sollte der Semmering nicht an Bedeutung verlieren, ganz im Gegenteil: Noch während des russischen Vormarsches auf die Hauptstadt mutierte das südliche Niederösterreich unbemerkt vom militärischen zum politischen Hotspot. Schließlich drängten sich hier nicht bloß Kampfverbände, sondern auch offizielle Repräsentanten gleich mehrerer Regierungen.

Die Bezirke Neunkirchen und Wiener Neustadt waren im April und Mai 1945 in zwei politische Gewaltbereiche zerrissen: So war das westliche Gebiet um den Semmering, Rax und Schneeberg fest in der Hand der Nationalsozialisten, deren höchster Funktionär, NS-Kreisleiter Johann Braun, nach seiner Flucht aus Neunkirchen in der Gemeinde Schwarzau im Gebirge eine Dienststelle samt Standgericht errichtet hatte. Darüber hinaus hatte zur gleichen Zeit auch die nach wie vor mit dem Deutschen Reich verbündete ungarische Exilregierung im Grand-Hotel Panhans am Semmering Quartier bezogen.

Das Territorium östlich des Semmerings (sowie auch der Großteil des besetzten Industrieviertels) wiederum wurde von der russischen Besatzungsmacht und den von ihr eingesetzten Kräften beherrscht. So befand sich der Stab von Marschall Tolbuchin im rund 40 Kilometer entfernt liegenden Hochwolkersdorf, während auch in den umliegenden Gemeinden nach und nach politische Strukturen geschaffen und provisorische Bürgermeister eingesetzt wurden. Damit gilt beispielsweise der am 10. April zum Bürgermeister von Gloggnitz ernannte Fabrikarbeiter August Höllerbauer zu den ersten öffentlichen Repräsentanten des neu entstehenden Österreich. (Die Einsetzung von Theodor Körner als Bürgermeister von Wien erfolgte am 17. April.) Für die (österreichischen) Wehrmachtssoldaten auf dem Semmering, schrieb der Historiker Manfried Rauchensteiner, "vollzog sich damit praktisch zu ihren Füßen und mit ihren Fernrohren verfolgbar der Wandel ihrer Heimat von der Ostmark zum neuen Österreich".

Szokoll und Renner verhandeln

Nun war das Semmeringgebiet nicht nur hinsichtlich der Bürgermeisterernennungen so etwas wie die Wiege der Zweiten Republik. Auch kriegs- und staatspolitisch wurden die Gemeinden Gloggnitz und Hochwolkersdorf in jenen Tagen Schauplätze historischer Ereignisse: Zu nennen ist hier zunächst die Operation "Radetzky", also die kampflose Übergabe von Wien an die Rote Armee, die vom Widerstandskämpfer und Wehrmachtsoffizier Carl Szokoll betrieben wurde. Um mit den Sowjets in Verhandlungen zu treten, wurden am 2. April die Emissäre Ferdinand Käs und Johann Reif nach Süden befohlen: "Im Morgengrauen fuhren wir den Semmering an - als der Tag anbrach, hatten wir die Höhe erreicht", notiert Käs in seinen Erinnerungen. "Sie war noch Niemandsland und ich konnte vom Dach des verlassenen Hotel Panhans mit Hilfe des Feldstechers, der Feuerkampf hatte gerade begonnen, den Frontverlauf beurteilen. Meine Beobachtungen führten mich zu dem Entschluß, über den Kreuzberg oder den Eichberg den Versuch zu unternehmen, die Linien zu überschreiten."

Als die Soldaten die Kreuzberghöhe bei Gloggnitz erreichten, wurde ihr Opel-Olympia zeitgleich von deutscher und russischer Artillerie unter Feuer genommen. "Jetzt gab es nur noch eine Möglichkeit des Handelns - heraus aus dem Wagen und sich über den Hang in das Tal abrollen", schrieb Käs. "Unter Beschuß der Russen rollten wir den Hang hinunter. An einem hölzernen Gartenzaun endete die Abrollerei - vor uns standen zwei Rotarmisten mit angeschlagenen Maschinenpistolen." Die Emissäre wurden nach Hochwolkersdorf geleitet, wo sie die Übergabe Wiens anboten, militärische Stärkemeldungen übermittelten und Vorschläge für das weitere operative Vorgehen machten. Drei Tage später, am 6. April, begann der Angriff der sowjetischen Armee auf Wien. Die Operation "Radetzky" kam allerdings kaum zur Umsetzung, da sie verraten wurde. Szokoll wurde gewarnt und entging der Verhaftung.

In etwa zur gleichen Zeit, als Käs und Reif in Hochwolkersdorf vorsprachen, betrat in Gloggnitz ein gewisser Karl Renner die russische Kommandantur, um die Besatzer um Hilfe bei der Versorgung der Bevölkerung und um die Einstellung der Übergriffe der Soldaten zu bitten. Der Zufall wollte es, dass der ehemalige Staatskanzler als politische Persönlichkeit erkannt und nach Hochwolkersdorf geleitet wurde. Die Russen witterten ihre Chance, mit dem Sozialdemokraten eine Marionette für die Bildung einer Volksfrontregierung in Österreich gefunden zu haben - und trugen ihm den Posten eines provisorischen Regierungschefs an. Renner durchschaute die Pläne, spielte aber mit: Am 27. April 1945 rief er in Wien gemeinsam mit SPÖ, ÖVP und KPÖ die Republik aus, bereits am 29. April wurde eine Allparteienregierung gebildet.

Während die provisorische Regierung im Parlament in Wien zusammentrat, wütete in den unbesetzten Zonen der NS-Terror weiter. Zu diesen Zonen zählte insbesondere auch der Bezirk Neunkirchen, wo vor allem die Bevölkerungen von Schwarzau im Gebirge und Reichenau an der Rax zu Zeugen und Opfern einer der brutalsten Endphaseverbrechen dieses Krieges wurden. Initiiert und dirigiert wurden die Festnahmen und Erschießungen von Kreisleiter Braun und die von ihm eingesetzten (illegalen) Standgerichte. Als Opfer wurden Personen ausgewählt, die als Regimekritiker galten, darüber hinaus wurden auch Juden und Deserteure verfolgt. In Reichenau ging ein Großteil der insgesamt 29 Morde auf das Konto des "Volkssturmsonderkommandos der Kreisleitung Neunkirchen", welches vom 24-jährigen HJ-Bannführer Johann Wallner kommandiert wurde. Allein am 26. April, einen Tag vor der Ausrufung der Republik Österreich, wurden acht Bewohner aus Prein und Reichenau exekutiert.

Hinrichtungen und Rückzug

In den Wochen zuvor hatten Wallners Männer in Schwarzau im Rahmen eines Standgerichtsverfahrens vier Personen hingerichtet, darunter den erst 16-jährigen Roman Kneissl, den man der Desertion beschuldigte. Die herzzerreißende Szene schilderte ein Zeuge wie folgt: "Wallner verlas das Urteil. Jetzt hatte Kneissl den Eindruck, dass auf ihn geschossen würde, lief auf Wallner zu und klammerte sich schutzsuchend um ihn. Wallner stieß ihn weg und führte ihn an seinen früheren Standort. Als sich Wallner von Kneissl entfernte, lief ihm dieser wieder nach. Dies wiederholte sich zwei bis drei Mal, wobei Kneissl laut weinend um Gnade bat und nach seiner Mutter rief." Als der Bursch schließlich davonlaufen wollte, schoss ihm Wallner mit seiner Pistole nach und traf ihn im Bauchbereich. "Das Hinrichtungspeloton gab auf den schon auf dem Boden liegenden, aber noch Lebenszeichen von sich gebenden Roman Kneissl eine Salve ab. Angeblich ist Wallner dann an Kneissl herangetreten und hat ihm noch in den Kopf geschossen."

Erst mit Kriegsende fanden die Exekutionen ein Ende. Allerdings kam es allein in Payerbach und Reichenau noch in den ersten Monaten der Besatzung zu dutzenden Mordtaten russischer Soldaten. Die am Semmering stationierten Wehrmachtssoldaten rund um Oberleutnant Dittrich bekamen davon nichts mehr mit. Sie hatten sich bereits am 8. Mai nach Westen abgesetzt und versuchten im Verband der 6. Armee die alliierten Linien bei der Enns zu erreichen. Dabei spielten sich noch kuriose Szenen ab. Weil der diensthabende Kommandant der 80. US-Infanteriedivision die Kapitulation der Deutschen - zumal sie ja nicht gegen ihn gekämpft hatten - nicht akzeptieren wollte, drohte man damit, die US-Amerikaner einfach anzugreifen. Daraufhin ließ man sie gewähren, darunter auch Karl Dittrich.

Nach dem Krieg urteilte der Wehrmachtsgeneral Balck über die 9. Gebirgsdivision: "Undenkbar wäre die Rückführung der Truppen der 6. Armee nach Deutschland gewesen ohne den Widerstand am Semmering. Dass Hunderttausende die Heimat wiedersehen und nicht in Sibirien untergingen, war mit ein Verdienst der Kämpfer vom Semmering."