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Die Misere des Trottoirs

Von Sándor Békési

Reflexionen
Anfang (um 1820) und Ende (2020) des Trottoirs in Wien?
© Leopold Beyer /Wien Museum (l.) / Békési (r.)

Die ersten Gehsteige entstanden als Akt der Sicherheit und Gleichstellung, aber auch der Kontrolle. In Corona-Zeiten werden diese Aspekte wieder aktuell.


Gehsteige sind die "wichtigsten öffentlichen Räume der Stadt" und ihre "lebensnotwendigsten Organe", meinte Jane Jacobs 1961 in ihrem Buch "Tod und Leben großer amerikanischer Städte". Die legendäre Stadtbeobachterin und Aktivistin schrieb dies zu einem Zeitpunkt, als die Planer auch in Europa dabei waren, in der Stadt und in Suburbia die Gehsteige zu verschmälern oder ganz wegzulassen, weil eine motorisierte und zersiedelte Gesellschaft diese eben nicht mehr brauche.

Mittlerweile wird die Idee des klassischen Bürgersteigs aber nicht nur von der autoorientierten Planung in Frage gestellt. In Begegnungszonen verzichtet man bewusst auf erhöhte Gehsteige - gerade im Interesse der Fußgängerinnen und Fußgänger. So seit kurzem auch in Wien. Doch in den meisten Teilen der Stadt ist es noch längst nicht so weit. Die Straßen werden in Wien allgemein von Automobilität beherrscht und sind nur eingeschränkt fußgängerfreundlich. So beanspruchen fahrende oder parkende PKW durchschnittlich mehr als zwei Drittel der Straßenfläche. Zumal für jene Mobilitätsform mit der schlechtesten Umweltbilanz, die lediglich für ein Viertel der Wege in der Stadt benutzt wird. Gehen ist hingegen die einfachste und demokratischste Art und Weise der Fortbewegung.

Die ersten Gehsteige im heutigen Sinn dürften in Europa ab Mitte des 18. Jahrhunderts in Westminster (London) errichtet worden sein. Sie waren eine Reaktion auf den wachsenden Straßenverkehr sowie neue hygienische Ansprüche. Man ordnete zur Verbesserung der Straßenverhältnisse unter anderem die Anlage von erhöhten und gepflasterten Fußsteigen entlang der Häuser an. Diese ermöglichten den Passanten, sich ohne Schmutz und bequemer in der Stadt zu bewegen. All das sollte nicht weiter das Privileg jener sein, die sich eine eigene Kutsche leisten konnten. Auf der anderen Seite stand die Bündelung der fußläufigen Mobilität freilich auch im Interesse des Wagenverkehrs.

Umkämpfter Ort

In Wien war es erst später so weit. Hier legte man um 1800 zunächst Gehwege auf Straßenniveau an, die durch breiteres Pflaster gekennzeichnet waren - jenen in heutigen Begegnungszonen nicht unähnlich. Dieser neue Fußweg ("Trottoir") war der unmittelbare Vorgänger des Gehsteigs und im Hinblick auf Reinlichkeit und Gehkomfort gewiss ein Fortschritt. Doch er hinderte Fuhrwerke nicht am Befahren der Gehwege. Das gefährdete weiter die Fußgänger und sorgte für Konfliktsituationen.

So beklagte sich der Schriftsteller mit dem Pseudonym Realis im Jahr 1846 über die "Fußgängerhölle" in der Stadt: "Weil in Wien keine Bürgersteige bestehen, welche die Fuhrwerke hindern, bis an die Häuser zu fahren. Was früher ein Gegenstand des Luxus war, ist gegenwärtig ein allgemeines Bedürfnis geworden." In der Tat hielten Gehsteige im eigentlichen Sinne, als erhöhter Gehweg und für zu Fuß Gehende reserviert, hierzulande erst nach Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich Einzug. Im Vordergrund standen dabei verkehrstechnische und sanitäre Aspekte. Die Regelbreite gründerzeitlicher Gehsteige bei Neubauten betrug mindestens ein Sechstel der Straßenbreite. Das bedeutete bei einer 15 Meter breiten Straße beidseitig 2,5 Meter breite Trottoirs. Zwar gab es im Vergleich zu heute noch wesentlich weniger Straßenverkehr, dafür war das Trottoir aufgrund der damaligen Wirtschafts- und Lebensweise noch multifunktionaler und häufiger genutzt.

Anfangs waren die neu angelegten Gehsteige häufig noch mit schräger Einfassung zur Straße hin ausgestattet und damit für Fuhrwerke auch befahrbar. Sie blieben somit umkämpfte Orte im Straßenraum - zwischen Gehenden und Fahrenden, zwischen alten und neuen "Vehikeln". Im Jahr 1869 wurde verfügt, dass Velozipede die Gehsteige nicht passieren dürfen; für den Wagenverkehr galt dieses generelle Verbot erst ab 1880. Die darauffolgenden Jahrzehnte bis um 1910 könnten wir sozial- und kulturhistorisch als den Höhepunkt in der Entwicklung des Gehsteigs in Wien bezeichnen, ohne dass dies in planerischer Absicht entstanden wäre. In dieser Phase etablierte sich der Begriff "Bürgersteig", aber auch die Verwendung von "Trottoir" blieb. Die Passanten hatten in diesem Bereich der Straße so viel Spielraum wie vermutlich nie zuvor und - zumindest offiziell - keine Konkurrenz mit anderen Verkehrsteilnehmern zu befürchten.

Zugleich konnten sie auch die Fahrbahn mehr oder weniger frei benutzen. Was darauf folgte, war ein schrittweiser Abbau fußgängerischer Freiheiten und eine Erosion des Gehsteigs als Möglichkeitsraum. Um die Jahrhundertwende war in Folge des dichter und schneller werdenden Straßenverkehrs die Sicherheit der Fußgänger immer weniger gegeben - und vor allem: Sie schienen dem Verkehrsfluss auf der Fahrbahn immer mehr im Weg zu stehen.

Krise des Bürgersteigs

Im Jahr 1909 erließ die Polizeidirektion eine eigene "Gehordnung", welche das Verhältnis von Passant und Straße von Grund auf verändern sollte. Die Fußgänger hatten beim Überqueren der Fahrbahn nunmehr den kürzesten Weg zu wählen, und dies, wenn möglich, bei Straßenkreuzungen. Die Zeiten, wo "man unbesorgt mitten auf dem Fahrdamm stehenbleiben und plaudern konnte", sollten damit vorbei sein. Die strikte funktionale Trennung zwischen Fahrbahn und Gehsteig rückte einen großen Schritt näher. Der Bürgersteig wurde zum ambivalenten Ort, der zugleich Schutz wie Zwang darstellte. Manche Kritiker sahen darin eine "Rechtlosmachung der Fußgeher", die als "die letzten, dem Untergange geweihten Lebewesen einer vergangenen Kulturepoche" mit einem Mal auf die "Trottoirreservate" beschränkt wurden.

Aber es sollte für den Fußverkehr noch enger werden. Um die Mitte der 1950er Jahre setzte mit zunehmendem Wohlstand auch die Breitenmotorisierung ein. Die Unfallzahlen schnellten in die Höhe, man sprach vom "Schlachtfeld Straße". Dabei kamen vor allem Fußgänger zu Schaden. Verkehrssicherheit und Verkehrserziehung wurden intensiviert - mit einer erheblichen Anpassungsleistung seitens der Fußgehenden auf dem Wege zur motorisierten Stadt und Gesellschaft. Das lange Warten auf Grün vor Schutzwegen wurde zur Regel. Die Straßenverkehrsordnung von 1960 verbot es sogar, den fußläufigen Verkehr auf dem Gehsteig durch "unbegründetes Stehenbleiben" zu behindern. Mit ein Grund, warum sich das Trottoir zum monofunktionalen Fließraum entwickelte. Für viel mehr sollte auch nicht Platz sein: Vorgesehen waren damals in Nebenstraßen nur noch 1,25 Meter Mindestbreite. Die Misere des Bürgersteigs, einer "Errungenschaft" der klassischen Moderne, manifestierte sich zusehends in seiner physischen Gestalt wie in seiner Nutzungsweise.

Strukturprobleme und Erosion: Das Trottoir hat es nicht leicht in Wien.
© Archiv

Indes begannen die Autos die Straßen zu füllen, die Parkraumsituation wurde immer prekärer. Die Zauberlösung hieß: Schrägparken. Bis dahin durften Fahrzeuge in der Regel nur parallel zum Fahrbahnrand geparkt werden. Nun begann man Schrägparkordnungen einzuführen, um mehr Stellplätze zu schaffen. Dies setzte in engeren Gassen wiederum Einbahnregelungen voraus. Einbahnstraßen erhöhten jedoch insgesamt das Verkehrsaufkommen und machten das Radfahren in der Stadt noch unattraktiver. Dergestalt kam es zu einer radikalen Umwidmung und Neuverteilung des Straßenraums. Diese Art der Stellplatzvermehrung ging (und geht) auch unmittelbar auf Kosten der Fußgeher: Die hereinragenden Hecks und Motorhauben machten die Gehsteige noch schmäler - in der Extremform des Querparkens bis zu einem Drittel. Diese Praxis einer "stillen" Verschmälerung der Gehsteige bewegte sich vermutlich in einer Grauzone der Legalität, die in keine Statistik einfließt.

Städtische Straßen verwandelten sich somit großteils zu Abstellflächen des motorisierten Individualverkehrs. Und das Trottoir verkam zur Restfläche im Straßenraum, die zusätzlich auch noch Platz für diverses Stadtmobiliar bieten muss. Zu diesem gehören zahlreiche Verkehrszeichen, die in erster Linie wieder dem Straßenverkehr dienen. Verschärft wurde die Situation durch jene Regelung, die seit 1975 bei Neubauten jeweils Stellplätze pro Wohnung vorschreibt. Auf diese Weise sehen sich Passanten immer öfter mit Garagenzufahrten in der Erdgeschoßzone und mit querenden Autos konfrontiert.

Abstandsregeln

Die legale Rückkehr von Fahrzeugen auf das Trottoir wurde auch durch jene "Radwege" befördert, die ab den 1980er Jahren konfliktträchtig auf Gehsteigen angebracht wurden. Neue Mobilitätsformen und Verkehrsmittel wie Inlineskates, Skateboards und E-Roller beanspruchen ebenfalls die ohnehin schon enge Gehsteigfläche. Und sie scheinen die Stadtbewohner, weil unmittelbar spürbar, mehr zu stören als die unzähligen herumstehenden Autos ...

Wohlgemerkt gibt es auch gegenteilige Tendenzen. Durch die Errichtung von Fußgängerzonen und verkehrsberuhigten Bereichen, barrierefreien Gehsteigen und vielem mehr wurde in den letzten Jahrzehnten einiges an Straßenraum für die schwächsten Verkehrsteilnehmer zurückgewonnen. All das vermag allerdings nicht die flächendeckende Erosion des Bürgersteigs aufzuwiegen. Hierzulande wurden am Ende keine Autobahnen bis ins Zentrum gebaut, aber auf eine andere, schleichende Art ist auch Wien eine autogerechte Stadt geworden.

Der "Masterplan Verkehr 2003" legte zwar eine anzustrebende, frei begehbare Mindestbreite von zwei Metern für Gehsteige fest. Doch zwischen Zielvorgabe und Realisierung klafft offenbar eine große Lücke. Derzeit sollen immer noch fast 40 Prozent der Wiener Gehsteige schmäler als zwei Meter sein, von den effektiven Breiten ganz zu schweigen. Dieses ungelöste Strukturproblem und die Misere des Trottoirs wurden spätestens anlässlich der gegenwärtigen Pandemie virulent. Kürzlich haben Bürgerinitiativen darauf hingewiesen, dass die Einhaltung der behördlichen Abstandsregeln bei den bestehenden Gehsteigbreiten in Wien häufig gar nicht möglich sei.

Die Corona-Krise hat somit die Krise des Trottoirs sichtbarer gemacht. Uns aber auch vor Augen geführt: Die Politik verfügt über beachtliche Handlungsspielräume und kann im Interesse des Allgemeinwohls auch radikale Maßnahmen setzen. Bleibt also abzuwarten, ob unsere Zeit als eine Periode des Umbruchs in die Geschichte der Gehsteige eingehen wird.

Sándor Békési, geboren 1962, arbeitet als Historiker und Kurator im Wien Museum.