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Tief im Wald auf offener See

Von Christian Hütterer

Reflexionen
Faszinosum Ostsee: der südliche Teil der Kurischen Nehrung in Russland.
© getty images/Alex Tihonov

Diesen Sommer wird die Ostsee für Gäste aus Österreich nur schwer zu erreichen sein, aber sie taugt auch als Anker der Sehnsucht: eine Würdigung.


Sie ist so etwas wie die Exzentrikerin unter den Meeren. Anders als die großen Ozeane kennt sie kaum Gezeiten und im Gegensatz zum benachbarten Atlantik ist ihr Wasser so schwach salzhaltig, dass sie eigentlich aus Brackwasser besteht. Auch die nüchternen Daten sind nicht sehr beeindruckend: Nur etwa fünfmal so groß wie Österreich und eine mittlere Tiefe von lediglich 52 Metern, in dieser Kategorie kann sogar der Bodensee mit immerhin 90 Metern mehr bieten. Die Ostsee ist also in vielerlei Hinsicht etwas Besonderes.

Zu ihren Eigenheiten gehört auch, dass sie ein Meer in Bewegung ist, denn in ihrem nördlichen Teil drängt der Grund nach oben. Als nach der letzten Eiszeit die Gletscher schmolzen, wurde das darunter liegende Land von enormem Gewicht befreit und begann sich zu heben - ein Prozess, der bis heute andauert. Sichtbar wird dies etwa im finnischen Turku, das lange Zeit die bedeutendste Stadt des Landes war.

Labiles Gleichgewicht

Die Burg von Turku wurde im 13. Jahrhundert von schwedischen Königen gebaut, um ihre Herrschaft in Finnland abzusichern. Als Standort dafür wählten sie eine kleine Insel an der Mündung des Flusses Aurajoki in die Ostsee. Die Burg steht zwar heute noch und ist eines der wenigen erhaltenen mittelalterlichen Gebäude in Finnland, die Insel ist nun aber ein Teil des Festlands, denn seit dem Mittelalter hat sich das Land um mehr als drei Meter gehoben und das Wasser verdrängt.

Der Meeresboden, der sich hebt, und die Küste, die ihren Verlauf langsam, aber stetig ändert, sind nicht die einzigen Besonderheiten der Ostsee. Ihr Wasser enthält weit weniger Salz, als sich das für ein ordentliches Meer gehört. Mehr als 200 Flüsse münden in sie und bringen viel Süßwasser mit sich. Die Verbindung der Ostsee zur Nordsee und damit zum Atlantik verläuft über drei flache Meerengen, die diese Bezeichnung redlich verdienen, denn sie sind nur wenige Kilometer breit und begrenzen den Austausch des Wassers. Süßwasser fließt in die Nordsee, aber nur wenig Salzwasser in die Ostsee zurück, und so wird sie zum größten Brackwassermeer der Welt.

Fischarten wie Steinbutt und Sprotte haben sich im Lauf der Zeit an diese besonderen Umstände angepasst, der Mensch setzte dem fragilen Ökosystem aber zu. Vor allem die Düngestoffe von den Feldern rund um das Meer gefährden das labile Gleichgewicht. Sie werden in die Ostsee eingeschwemmt und lassen zuerst Algen sprießen. Sobald sie absterben, werden sie von Bakterien zersetzt, die allen Sauerstoff in ihrer Umgebung aufbrauchen. Die Folge sind sogenannte Todeszonen, in denen Fische nicht mehr leben können. Die Klimaerwärmung, die nach aktuellen Messungen an der Ostsee stärker als in anderen Regionen ausfällt, trägt das ihre zur Verschlechterung der Lage bei, denn warmes Wasser kann noch weniger Sauerstoff binden.

Naturschauspiel

Schlagzeilen über den erbärmlichen ökologischen Zustand der Ostsee haben in den letzten Jahren immer wieder Aufmerksamkeit erregt, doch ihnen folgen selten die notwendigen Taten. Dabei gäbe es nicht nur in, sondern auch rund um die Ostsee viele Lebensräume zu bewahren. An den südlichen Küsten finden sich einzigartige Biotope, in denen vor allem Vögel ideale Lebensbedingungen finden. 1896 verschlug es den Ornithologen Johannes Thienemann auf die Kurische Nehrung, und er sah dort einen Vogelzug, "so gewaltig, wie er noch nie in Deutschland beobachtet worden war". Von diesem Naturschauspiel beeindruckt, gründete er in Rossitten (heute Rybatschi) die erste ornithologische Station der Welt, an der noch heute geforscht wird.

Zu der Zeit, als Thienemann die Erforschung der Vogelzüge begann, blühte weiter im Norden ein bis dahin verschlafenes Städtchen am Ufer der Ostsee auf und wurde zum mondänsten Strandbad des Zarenreichs. Jurmala liegt wenige Kilometer außerhalb der lettischen Hauptstadt Riga. Der Weg aus dem Zentrum zum Meer führt durch einen Föhrenwald, und zahlreiche alte Villen aus Holz beweisen, dass der Ort zur Zeit der Zaren ein beliebtes Ferienziel reicher Russen war.

Herrlicher Anblick

Ostsee-Impression mit Strandkorb (hier in Büsum in Schleswig-Holstein).
© Thomas Wolter

Schon im Wald wird das Rauschen des Meeres hörbar. Eine Kuppe muss noch überquert werden, und mit einem Mal wird der Blick frei, ein kilometerlanger Sandstrand liegt vor dem Besucher. Im Sommer bietet sich ein herrlicher Anblick: Über den strahlend blauen Himmel ziehen wattige Wölkchen, unter ihnen tummeln sich Touristen und Ausflügler, die Wetter und Wasser genießen. Die baltische Riviera wird ihrem Namen gerecht und steht dem Vorbild am Mittelmeer um nichts nach, auch wenn hier der Badespaß nicht unter Palmen, sondern unter Föhren stattfindet.

Szenenwechsel in den Winter. Die sommerliche Idylle ist verflogen, der lange Strand von einer dünnen Schicht Schnee bedeckt und menschenleer, nur selten begegnet man einzelnen Spaziergängern. Das graue Eis der gefrorenen Ostsee geht irgendwo am Horizont in einen ebenfalls grauen Himmel über, wo genau, lässt sich nur erahnen. Eine Symphonie von zahllosen Weiß- und Grautönen, die ineinanderfließen und die Grenzen zwischen Land, Meer und Himmel verschwimmen lassen.

Nur wenige Kilometer von dieser beeindruckenden Szenerie entfernt liegt Riga, die größte Stadt der drei baltischen Länder. In ihr lässt sich anhand der vielfältigen Architektur die historische Entwicklung an der Ostsee erkennen. Durch die Hanse wurde Riga im Mittelalter reich, im Zentrum der Stadt finden sich noch heute zahlreiche Bauten aus dieser Zeit. Später verlor sie an Bedeutung, blühte aber an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wieder auf und wurde zu einem der wichtigsten Häfen des Zarenreiches.

Prachtvolle Jugendstilhäuser aus dieser Epoche zeugen von der Bedeutung und vom Reichtum der Stadt. Aber auch die sowjetische Besatzung hinterließ architektonische Spuren, neben den Plattenbauten am Stadtrand erinnert der gigantische Fernsehturm, der etwas außerhalb des Zentrums auf einer Insel im Fluss Düna steht, an diese Zeit. In Sichtweite und ebenfalls am Fluss wurde vor einigen Jahren die neue lettische Nationalbibliothek gebaut, ein architektonisches Zeichen für den Aufbruch in eine neue Ära.

Neben der vielfältigen Architektur lassen sich an der Stadt Riga aber auch andere Entwicklungen festmachen, die nicht nur die Geschichte, sondern auch die Gegenwart der drei baltischen Staaten prägen. Nach dem Beitritt zur Europäischen Union sind die baltischen Staaten heute politisch und wirtschaftlich im Westen verankert, das Verhältnis zum großen Nachbarn im Osten spielt aber weiterhin eine wichtige Rolle in der Politik dieser Länder. Kehren wir noch einmal zum Beispiel Riga zurück: Auf eine kurze Unabhängigkeit in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen folgte die sowjetische Besatzung der drei baltischen Republiken. Viele Russen siedelten sich in dieser Zeit - freiwillig oder auf Befehl - in Riga an, und dies brachte tief gehende demografische Änderungen mit sich, die auch 30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion nachwirken.

Die Jugend wandert ab

Heute sind nur weniger als die Hälfte der Einwohner Rigas Letten, der Anteil der russischen Bevölkerung liegt fast ebenso hoch. Die Frage, wie man die große russische Minderheit in den jungen Staat integrieren kann, sorgt immer wieder für Diskussionen und Spannungen. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union steht in den Ländern an der Ostsee außer Frage, die Folgen des Beitrittes waren aber nicht nur positiv. Die Wirtschaft hat sich seitdem gut entwickelt und die Löhne sind gestiegen, aber viele junge und gut gebildete Menschen haben die Möglichkeit genutzt, um in den Westen zu ziehen.

Blickrichtung Meer in Neeme in Estland.
© Julius Jansson

Die Abwanderung der jungen Generationen bleibt nicht ohne Folgen für die Daheimgebliebenen: Die Geburtenrate im Land bricht ein, die Alterung der Gesellschaften schreitet rasant voran und jene, deren Beiträge und Steuern das Pensionssystem sichern, werden immer weniger. Tiefgreifende demografische Änderungen beschäftigen aber nicht nur die noch immer so genannten neuen Mitglieder der Union, auch die vergleichsweise reichen Länder an der Ostsee wie Schweden und Finnland stehen vor einem umwälzenden Wandel. Viele junge Menschen wandern dort aus den ohnehin schon dünn besiedelten Gebieten im Norden in die Metropolen im Süden der Länder ab. Die abgelegenen Regionen sind in einem Teufelskreis gefangen: Verkehrsanbindungen werden verringert, die Einkaufsmöglichkeiten ebenso, Arbeitsplätze fallen weg, schlechte Aussichten also für die, die bleiben wollen.

Eine wechselhafte Geschichte, unterschiedliche Völker und Sprachen, eine vielfältige Natur, da überrascht es nicht, dass die Ostsee unzählige Schriftsteller inspiriert hat. Die bekanntesten sind wohl die beiden deutschen Nobelpreisträger Thomas Mann und Günter Grass. Mann wurde in Lübeck geboren, in dieser Hansestadt ist auch sein Werk "Die Buddenbrooks" angesiedelt, in dem er den Niedergang einer eingesessenen Kaufmannsdynastie schilderte. 1929 erhielt Mann den Nobelpreis für Literatur und investierte einen guten Teil der damit verbundenen Prämie an der Ostsee, wo er sich ein Haus bauen ließ.

"Blubb, piff, pschsch"

Als Ort dafür wählte er die Kurische Nehrung, einen langen Sandstreifen, der die Ostsee von einem Haff trennt. Durch Zufall hatte es Mann kurz zuvor dorthin verschlagen und er war rasch dem "großartigen Reiz des Landes" verfallen. Mann sollte sein Glück dort aber nur drei Sommer lang genießen, denn nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 musste er Deutschland verlassen und sollte nie wieder auf die Nehrung zurückkehren. Heute ist die Kurische Nehrung zwischen Litauen und Russland geteilt und in Manns Haus ist ein Kulturzentrum untergebracht, das sich vor allem um den Austausch zwischen Litauen und Deutschland bemüht und Festivals vor einer beeindruckenden Kulisse organisiert.

Thomas Mann mit seinen Kindern Elisabeth und Michael und zwei Buben (l. & r.) vor seinem Ferienhaus an der Ostsee.
© ullstein bild

Der zweite deutsche Literaturnobelpreisträger, in dessen Schaffen die Ostsee eine bedeutende Rolle spielt, ist der gebürtige Danziger Günter Grass. Sein Vater war protestantisch-deutscher Abstammung, seine Mutter eine polnisch-kaschubische Katholikin, und so überrascht es nicht, dass Grass ein feines Gespür für die unterschiedlichen Nationen und konfessionellen Gruppen hatte, die an den Ufern der Ostsee leben. In dem Gedicht "Kleckerburg" fragt er etwa: "Wie macht die Ostsee? - Blubb, piff, pschsch / Auf deutsch, auf polnisch; Blubb, piff, pschsch . . ."

"Wogende Seide"

Neben diesen beiden bekannten Schriftstellern gelang es einem anderen, der lange Zeit ein vergessener Autor war und erst in den letzten Jahren wiederentdeckt wurde, den Geist der Ostsee auf einzigartige Weise einzufangen. Eduard von Keyserling stammte aus altem baltendeutschen Adel und erlebte den wirtschaftlichen und sozialen Niedergang dieser Kaste mit. Sein Meisterwerk ist der Roman "Wellen", den er, in Folge der Syphilis bereits erblindet, im Jahr 1911 seiner Schwester diktierte. Es ist die Geschichte einer Gruppe von Menschen, die ihre Ferien am Strand der Ostsee verbringen. Aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten - eine Generalswitwe, Landadelige, Künstler, Beamte - kommend, genießen sie die Tage in den Dünen, bis die Konventionen ins Rutschen geraten und Konflikte aufbrechen.

Der eigentliche Protagonist des Buches ist aber die Ostsee selbst. Der blinde Keyserling verstand es meisterlich, ihre Farben einzufangen und zu Gemälden aus Worten zu formen. Bei ihm ist das Meer wie aus "wogender grüngrauer Seide", darüber ein "heißes grelles Licht, es schwamm und zitterte auf dem Wasser, es sprühte auf dem Sande, erweckte Funken auf den Kieseln". Die Sommergeschichte endet tragisch, in einem plötzlich aufziehenden Sturm - "das Meer weiß vom Schaum wie kochende Milch" - verliert ein junger Künstler sein Leben und die Idylle unter der sommerlichen Sonne findet ein abruptes Ende.

Es gäbe noch viel zu erzählen über dieses Meer am Rande Europas, von den Metropolen wie Sankt Petersburg und Stockholm, aber auch von den abgelegenen Inseln und Schärengärten. Viel gäbe es auch über ihre Geschichte zu berichten, über die Wikinger und die Hanse, über den jahrhundertelangen Streit um die Herrschaft in der Region, über die Trennung der Region im Kalten Krieg und die Wiedervereinigung in einem geeinten Europa.

Die Ostsee vor Zingst in Mecklenburg-Vorpommern.
© WaldNob

In Zeiten von Corona und den damit einhergehenden Einschränkungen wird der nächste Besuch an diesem vielfältigen Meer wohl noch warten müssen. Aber wenn es stimmt, dass Vorfreude die größte Freude ist, dann kann man die Sehnsucht noch reifen lassen. Eines Tages wird es wieder so weit sein, aus einem Wald kommend sieht man zuerst das Glitzern des Meeres und dann öffnet sich der Blick über den Strand, der nach beiden Seiten führt und zu langen Spaziergängen einlädt.

Der schwedische Dichter Tomas Tranströmer (auch er ein Nobelpreisträger, in dessen Werk die Ostsee eine bedeutende Rolle spielt) fasste die besondere Stimmung an diesem Meer treffend so zusammen: "Tief im Wald ist man draußen auf offener See".

Christian Hütterer, geboren 1974, arbeitet in Brüssel und schreibt Kulturporträts und Reportagen.