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Hans Blumenberg - Apologet der Nachdenklichkeit

Von Nikolaus Halmer

Reflexionen

Der abschweifend erzählende Gedankengang war die Methode seiner Wahl: Zum 100. Geburtstag des deutschen Kulturphilosophen.


"Mein Resultat ist, dass die Philosophie etwas von ihrem lebensweltlichen Ursprung aus der Nachdenklichkeit zu bewahren hat. In der Nachdenklichkeit liegt ein Erlebnis von Freiheit, zumal von Freiheit der Abschweifung."

Nachdenklichkeit charakterisiert vielleicht am besten das Werk des Philosophen Hans Blumenberg, der sich zeit seines Lebens um eine differenzierte Analyse der abendländischen Denktradition bemüht hat. Nachdenklichkeit versteht er als eine Haltung, auf Umwegen Resultate zu erhalten; er stellt sie dem konventionellen philosophischen Denken gegenüber, in dem es darum geht, elaborierte Theorien zu entfalten, die möglichst stringent sind.

Der nachdenkliche Philosoph Blumenberg lehnte hingegen jegliches Philosophieren ab, "das die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten herstellt". Er bevorzugte die Randgänge und die Abschweifungen; er berief sich weniger auf den klassischen Kanon der Philosophie von Platon über Kant und Hegel, sondern bezog sich unter anderen auf Wittgensteins Tagebücher, auf Passagen aus den Gesprächen Goethes mit Eckermann, auf Sigmund Freuds Briefe oder auch auf Zeitungsnotizen.

In Lagerhaft

Nur wenig Persönliches ist von Hans Blumenberg bekannt. Er wurde am 13. Juli 1920 als Sohn eines Kunsthändlers in Lübeck geboren. Seine jüdische Mutter war zum Katholizismus konvertiert, um heiraten zu dürfen. Da-raus entstanden für Blumenberg massive Probleme, weil er als "Halbjude" nicht an deutschen Hochschulen studieren durfte. Er wurde 1945 verhaftet und in das Arbeitslager Zerbst gebracht, konnte fliehen und wurde bis zum Kriegsende von der Familie seiner späteren Ehefrau versteckt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte Blumenberg Philosophie, Germanistik und Klassische Philologie in Hamburg, promovierte und habilitierte sich in Kiel. Ab 1960 lehrte er als ordentlicher Professor in Gießen, Bochum und bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1985 in Münster. In diesen Jahren verfasste er umfangreiche Studien wie "Die Legitimität der Neuzeit", "Die Genesis der kopernikanischen Welt" oder "Die Lesbarkeit der Welt".

Blumenbergs Vorlesungen waren ein gesellschaftliches Ereignis, bei denen sich neben den Studierenden auch ein gebildetes Publikum einfand. Blumenbergs Assistent Ferdinand Fellmann beschrieb dessen Vorlesungsstil so: "Im grauen Paletot und elegantem Hut betrat er den Saal und trug dann frei vor. Als Gedächtnisstütze benutzte er lediglich Karteikarten, von denen er die Zitate ablas, die seinem Vortrag ein unvergleichliches Kolorit verliehen." Allmählich distanzierte sich der Gelehrte vom universitären Betrieb; er betrachtete ihn als Zeitverschwendung.

Der Ausgangspunkt von Blumenbergs Philosophie ist die Situation des Menschen, der sich angesichts der Unendlichkeit des Weltalls um eine sinnvolle, erfüllte Existenz bemüht. "Die moderne Kosmologie ortet den Menschen in einem unendlichen Raum, in dem er einem winzigen Erdenpunkt gleicht. Er ist umgeben von einem stummen Universum, von einer Welt, die auf seine religiösen Empfindungen und seine elementaren moralischen Forderungen mit Schweigen reagiert", schrieb Blumenberg.

Um das Schweigen erträglich zu machen, wurde in der Frühzeit der Menschheit der Mythos entfaltet: Er sollte zum Abbau der "absoluten Wirklichkeit" beitragen und das maßlose Entsetzen der Menschen angesichts der unheimlichen, fremden, feindlichen Realität mildern. Die Mythen halfen den Menschen, ihr Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Wirklichkeit zu verarbeiten. Ein anschauliches Beispiel für diese "Entlastung von der Wirklichkeit" gab Blumenberg in seiner umfangreichen Studie "Höhlenausgänge": Die Höhle ist eine "Stätte der Geborgenheit" und bietet eine Entlastung von der bedrohlichen Außenwelt.

In weiteren Studien wie dem 1979 publizierten Monumentalwerk "Arbeit am Mythos" entwarf der Kulturphilosoph die Genese der mythischen Weltsicht, die sich nicht, wie es häufig Philosophen gefordert hatten, in ein logisches Begriffskorsett übertragen und einzwängen lässt. Der Mythos fungiert als Gegenspieler der instrumentellen Vernunft, weil er andere Darstellungen der Wirklichkeit ermöglicht. "Die Vorstellung, der philosophische Logos habe den vorphilosophischen Mythos überwunden, hat uns die Sicht auf den Umfang der philosophischen Terminologie verengt", notierte Blumenberg.

Lob der Metapher

Neben der Analyse von Mythen befasste sich Blumenberg mit der Bedeutung der Metaphern in der Philosophie der Neuzeit. Im Gegensatz zum Begriff, der eine eindeutige Bestimmung eines Phänomens vornimmt, hat die Metapher den Vorteil der Mehrdeutigkeit. Diese positive Bewertung der Metapher wurde von den meisten Philosophen keineswegs geteilt: Sie wiesen der Metapher - ähnlich wie dem Mythos - einen geringen Stellenwert zu. Die Metapher wurde als defizientes "Vorfeld des Begrifflichen" angesehen, das - laut René Descartes - in das Korsett der klaren und bestimmten Begrifflichkeit der philosophischen Sprache gezwängt werden sollte.

Gegen die verengende Sichtweise der Metapher wandte sich Blumenberg ausdrücklich. Er betonte ihren eigenständigen Bedeutungsgehalt und zählte sie zu den Grundbeständen der philosophischen Sprache. Die Metapher "als Vorfeld des Begriffs ist in seinem ‚Aggregatszustand‘ plastischer, sensibler für das Unausdrückliche", schrieb Blumenberg, "weniger beherrscht durch fixierte Traditionsformen. Hier hat sich oft Ausdruck verschafft, was in der starren Architektonik der Systeme kein Medium fand."

Eine weitere zentrale Problematik ortete Blumenberg in der Diskrepanz von "Lebenszeit" und "Weltzeit". Das Mängelwesen Mensch muss zur Kenntnis nehmen, dass es neben seiner Nichtigkeit im kosmischen Raum nur als eine winzige Episode in der "Weltzeit" besteht. Das Dasein des Individuums reicht nicht aus, den phänomenalen Reichtum der Welt zu erkunden. Sein "vitaler und kognitiver Weltappetit wird limitiert", notierte Odo Marquard, der philosophische Kollege von Blumenberg.

Das Bewusstsein der zeitlichen Begrenztheit des menschlichen Lebens erfährt das Individuum als tiefgehende Kränkung und existenzielle Grunderfahrung. Eine Möglichkeit, auf diese Begrenztheit zu reagieren, besteht in einem maßlosen Hedonismus, der in einer "Multioptionsgesellschaft" - so der Schweizer Soziologe Peter Gross - hemmungslos ausgelebt wird. Die Devise lautet: "Nimm, was dir zusteht", wobei eine Legitimierung dieses Anspruchs unterbleibt. Die Lebenszeit mutiert zu der Lebensintensität einer Spaß- und Erlebnisgesellschaft, in der das "Spektakel" die oberste Priorität einnimmt. Gegen diesen Fetisch des Turbokapitalismus plädierte Blumenberg für Distanz und Begrenzung, um "unsere Optik auf uns so einzustellen, dass sie uns weder demütigt noch bläht. Man muss ertragen können: die Welt, die anderen, das Andere (wozu der Schmerz und das Leid gehören) - vor allem: sich selbst."

Ertragen werden muss auch das Faktum des Todes, das Blumenberg als bedrückendstes Phänomen bezeichnet. Religiöse oder philosophische Tröstungsversuche sind zum Scheitern verurteilt, denn "niemand lässt sich darüber trösten, dass er sterben muss. Alle Argumente sind schlecht bis lächerlich, die dafür Tröstungsfähigkeit unterstellen".

Die Begrenztheit der "Lebenszeit" empfand Blumenberg besonders intensiv. Im Gespräch mit Marquard erwähnte der Gelehrte, dass er acht Jahre seines Lebens verloren habe, weil er als "Halbjude" die Universität nicht besuchen durfte, und diesen Zeitverlust aufholen müsse. Deswegen schlafe er nur mehr sechsmal die Woche und ziehe sich zunehmend vom universitären Betrieb zurück.

Sein Rückzug führte Blumenberg in die Höhle der Gelehrsamkeit seiner Wohnung nahe Münster, wo der Troglodyt in intensiver Nachtarbeit an seinen Büchern arbeitete, die dem Leser eine unüberschaubare Wissensfülle auf dem Gebiet der Philosophie, Theologie, Geschichte, Literatur und Astronomie präsentierten. Blumenberg verglich seine Tätigkeit mit einer Wühlarbeit. "Das Wühlen im Boden" so schrieb er, "macht alle Sicherheit des Stehens und Gehens auf ihm du-
bios." Dieses Wühlen hatte zur Folge, dass die Lesenden oft den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr erkennen konnten, wie ein Rezensent anmerkte.

Zunehmend entzog sich Blumenberg der medialen Öffentlichkeit; so gibt es nur ein "offizielles" Foto, keine Interviews und nur wenige Tondokumente. Am 28. März 1996 starb Blumenberg an einem Herzinfarkt. Auf die Umfrage der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", wie er sterben möchte, antwortete er: "Aus Lust, mich davon zu machen."

In der kürzlich publizierten umfangreichen Biographie "Der absolute Leser - Hans Blumenberg" gibt der am Einstein Forum in Potsdam tätige Philosoph Rüdiger Zill einen Einblick in das Leben des Gelehrten und dessen labyrinthisches Denken und Werk. Blumenberg wird als monomanischer Leser vorgestellt, der Zettelkästen mit rund dreißigtausend Eintragungen anlegte, die ihm als Material für detaillierte Studien dienten. Ausführlich beschreibt Zill die verschiedenen Phasen von Blumenbergs Studien, die sich vom zeitgenössischen Mainstream deutlich abhoben. Ihm ging es nicht um eine große Erzählung, wie sie von Hegel oder Marx vorgenommen wurde, sondern um
eine Vielzahl von Erzählungen, die Facetten der gesamten europäischen Kulturgeschichte aufwiesen.

Blumenbergs Vorliebe für ein Patchwork von Erzählungen teilte er mit postmodernen Philosophen wie Jacques Derrida und Jean-
François Lyotard. Er errichtete ein Wurzelgeflecht von Erzählungen - so Rüdiger Zill -, welche das komplexe Gefüge der Welt - "das Zwiebelschalenuniversum" - beschreiben. Und wieder war es die zentrale Instanz der "Nachdenklichkeit", für die Blumenberg plädierte: "Ich setze Philosophie nicht gleich mit Nachdenklichkeit, lasse sie aber ihre Herkunft von dieser und ihren Dienst an dieser nicht verleugnen. Der nach allen Regeln der Kunst sich absichernde und vor lauter Methodenreflexion am Gehen gehinderte Denker ist nicht ausschließlich ihre Idealgestalt."

Literaturhinweise:

Die wichtigsten Bücher Hans Blumenbergs wie "Die Legitimität der Neuzeit", "Die Genesis der kopernikanischen Welt", "Die Lesbarkeit der Welt", "Arbeit am Mythos" oder "Höhlenausgänge" sind im Suhrkamp Verlag erschienen.

Rüdiger Zill: "Der absolute Leser - Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie", Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 816 Seiten, 39,10 Euro.

Nikolaus Halmer, geboren 1958, ist Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF mit den Schwerpunkten Philosophie und Kulturwissenschaften.