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Emil Orlik, der "Kopfjäger" mit dem Zeichenstift

Von Oliver Bentz

Reflexionen
Der bulgarische Maler Jules Pascin in einer Radierung von Emil Orlik, 1911.
© Bentz

Der Künstler porträtierte zahlreiche Zeitgenossen, die im frühen 20. Jahrhundert Rang und Namen hatten. Vor 150 Jahren wurde er in Prag geboren.


Emil Orlik war der Chronist seiner Epoche. Er porträtierte in Zeichnung, Radierung, Holzschnitt oder Lithographie viele bekannte Zeitgenossen und hielt bedeutende Ereignisse in Politik und Kultur in den verschiedenen graphischen Techniken fest. Aus Asien brachte der reisefreudige Künstler die Geheimnisse des Farbholzschnitts nach Europa mit, seine Streifzüge durch verschiedene Kontinente dokumentierte er, der auch Inszenierungen an den Theatern Max Reinhardts mit seinen Dekorations- und Kostümentwürfen ausstattete, in graphischen Zyklen. Vor 150 Jahren, am 21. Juli 1870, wurde er in Prag geboren.

"Orliks Grazie (nimmt) den Menschenkopf wie einen Ball und spielt mit ihm ein souveränes Spiel. Wirft ihn hoch und fängt ihn wieder auf. Schnellt ihn hierher und dorthin und schlägt Funken aus seinem Material. (...) Mit lachendem Ernst wird sein Geheimnis erraten, blitzmäßig durchschaut, aus genialem Instinkt ergründet. Ein paar Linien genügen, das Wesenhafte zu beschwören, (...) mit untrüglicher Sicherheit wird der Charakter des Menschen aufgespießt. (...) Das Wort Karikaturen genügt hier nicht. Es sind heitere Psychologien, ins Formale projiziert."

Charakteristische Linien

So beschrieb der Literatur- und Kunstkritiker Max Osborn im Vorwort die im "Verlag Neue Kunsthandlung" in Berlin 1920 erschienene Sammlung von 95 Porträtzeichnungen Emil Orliks, in der dieser die Köpfe der zeitgenössischen "Größen" aus Kultur, Wissenschaft und Politik aufs Zeichenpapier gebracht hatte. Der Band, der die Porträts so unterschiedlicher Charaktere wie Max Slevogt, Tilla Durieux, Alfred Kerr oder Mathias Erzberger zwischen den Buchdeckeln versammelte und dem Betrachter "die Stärke der Menschenvision" (Osborn) vermittelte, fand beim Publikum so starkes Interesse, dass ihm 1926 aufgrund des großen Erfolges ein weiterer folgte, mit Porträts u.a. von Thomas Mann, Albert Einstein, Marc Chagall und allerhand Stars und Sternchen aus der Theater-, Film- und Zirkuswelt dieser Zeit. Die beiden Porträtbände, die man als einen Spiegel des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens im deutschsprachigen Raum in den ersten drei Jahrzehnten des beginnenden 20. Jahrhunderts bezeichnen kann, sind heute gesuchte antiquarische Raritäten.

Der Künstler Emil Orlik, der zu den führenden Porträtisten des 20. Jahrhunderts zählt und dessen Bildniszeichnungen die renommiertesten Zeitungen und Zeitschriften im Berlin der Zwischenkriegszeit schmückten, hatte schon während des Weltkrieges Porträt-Skizze und -Karikatur zu neuer Blüte gebracht; es folgten ihm Kollegen wie Rudolf Grossmann, Emil Stumpp, Max Oppenheimer (genannt Mopp) oder Benedikt Fred Dolbin, die - wie auch Orlik - in Berlin ein gutes Auskommen hatten. Denn nach den entbehrungsreichen Nachkriegsjahren und der Inflation in den frühen Zwanzigern entwickelte sich die Reichshauptstadt zu jener Metropole, mit der man heute die "Goldenen Zwanziger Jahre" verbindet. Die Presse der Stadt wirkte in dieser Zeit wie ein gewaltiger Magnet, der gierig Talente und Könner anzog. Mosse, Ullstein und Scherl, die drei großen Zeitungskonzerne Berlins, standen in fruchtbarem Wettbewerb.

Hatten die Zeitungen während der Inflation aus Geldmangel weitgehend auf Illustrationen verzichtet, drängten die bildlichen Elemente jetzt stark in die Blätter, die auflockernde und stimulierende Wirkung der Bilder schärfte die Konkurrenz. Da die technischen Möglichkeiten der photographischen Reproduktion noch sehr beschränkt waren, bot sich Zeichnern bei den 45 Morgen-, zwei Mittags-, 14 Abendzeitungen und zahlreichen Illustrierten in Berlin ein weites Betätigungsfeld, entwickelte sich diese Kunstform zu einem typischen Produkt der Zeit.

Im Gegensatz zu vielen seiner zeichnenden Kollegen war Emil Orlik durch seine Lehrtätigkeit als Professor an der Kunstgewerbeschule in Berlin finanziell abgesichert und deshalb nicht ausschließlich von den Zeitungsredaktionen abhängig. So konnte er seinem Begehren, in verblüffender Schnelligkeit und oftmals unbemerkt von allen Anwesenden das Naturell des Dargestellten in charakteristischen Linien zu erfassen, aus "bloßem" Interesse und künstlerischer Leidenschaft folgen.

Der Porträtist im Porträt: Bildnis des Freundes Emil Orlik von Max Slevogt (Radierung, 1923).
© Bentz

In Prag als Sohn eines gut situierten Schneidermeisters geboren, galt Orliks Hauptinteresse schon auf dem dortigen Neustädter Gymnasium dem Zeichnen von Menschen und Dingen. Er studierte in den Jahren nach 1889 zuerst drei Semester an Heinrich Knirrs Kunstschule und danach an der Münchner Akademie bei Wilhelm Lindenschmidt und Johann Leonhard Raab. Der Teilnahme am akademischen Betrieb zog er, der seinen Lehrern mit extremer Eigenwilligkeit entgegentrat, aber meist das eigene Experimentieren mit diversen Kunsttechniken vor. Der fünf Jahre jüngere Prager Zeitgenosse Rainer Maria Rilke, der wie Orlik die Stadt an der Moldau in jungen Jahren verließ und in das "leuchtende" München aufbrach, sah in ihm den "talentiertesten jüngeren deutsch-böhmischen Künstler."

Wiener Freunde

Verschiedene Auslandsreisen führten Orlik durch Europa, wo er besonders in Frankreich und England die aktuellsten Tendenzen der modernen Kunst verfolgte. In Japan, wo er sich in den Jahren 1900/01 und dann noch einmal 1911/12 aufhielt, schulte er sich in den Ateliers der großen Meister des Farbholzschnittes, den er als einer der ersten Künstler in Europa einführte, was ihm die Zuschreibung eintrug "der Japanischste der Europäer" zu sein. Schon in seiner Münchner Zeit unternahm Orlik häufig Reisen nach Wien, wo er 1899 Mitglied der Secession wurde und 1902 seine erste große Ausstellung hatte, die ihm den Durchbruch brachte. Er war mit den führenden Wiener Künstlern dieser Zeit befreundet - mit Gustav Klimt, Josef Hoffmann, Gustav Mahler oder Richard Beer-Hofmann - und machte sich als Jugendstilgraphiker und Porträtmaler einen Namen. Seine Auseinandersetzung mit dem japanischen Farbholzschnitt wurde zudem wegweisend für die Wiener Secession. 1905 war er kurzzeitig Leiter der Graphikklasse der staatlichen Lehranstalt des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie in Wien und pflegte auch enge Kontakte zur Wiener Werkstätte. In den Angehörigen der Familie des Bankiers und Industriellen Max von Gomperz fand er großzügige Förderer.

Emil Orliks Porträt des Schriftstellers Hermann Bahr (1908).
© Bentz

1905 erfolgte Orliks Ruf an die Kunstgewerbeschule in Berlin, wo er bis 1932 tätig sein sollte. "Orlik, aus Prag, eben noch halb Japaner und schon ganz Berliner; der paßt her, so künstlerisch begabt als weltlich geschickt", schrieb der teils in Berlin lebende österreichische Schriftsteller Hermann Bahr 1906 über den Neuankömmling in der Reichshauptstadt. Seine Teilnahme am gesellschaftlichen und künstlerischen Leben der Stadt ließ Orlik Anteil haben an den mannigfaltigen kulturellen Diskussionen und Entwicklungen der Zeit.

Orlik galt, so sein Schüler Gerhard Ulrich, "als Inbegriff quirliger, weltoffener Betriebsamkeit, ein Unverwüstlicher und Unentwegter, der nichts auslassen kann und - wie man sagt - auf jeder Hochzeit tanzen muß." Als "Kopfjäger", der seine "Opfer", die Größen seiner Zeit, Maler, Schauspieler, Schriftsteller und Politiker mit dem Stift auf dem Zeichenblock einfing, nutzte er dazu jede Gelegenheit: So lauerte er an vielen Orten in Berlin, im "Romanischen Café", in den Salons des Berliner Westens oder auf Vernissagen. Zu Beginn der 1920er Jahre schloss sich Orlik mit den Künstlerfreunden Max Slevogt und Bernhard Pankok sowie dem Sammler und druckgraphikverrückten Zahnarzt Josef Grünberg zur Gesellschaft für graphische Versuche SPOG (zusammengesetzt aus den Anfangsbuchstaben der Namen) zusammen, in der die Kumpane Tage und Nächte damit verbrachten, mit graphischen Techniken zu experimentieren.

Mit besonderer Vorliebe zeichnete Orlik auch in den Theatern der Stadt, etwa in den Häusern Max Reinhardts, wo er, mit der Taschenlampe im Dunkeln sein Skizzenbuch beleuchtend und fortwährend an die Rampe laufend, die Schauspieler in ihren diversen Rollen zu Papier brachte oder auch im Publikum fündig wurde. Für Reinhardt entwarf er auch Schauspielerkostüme und Theaterdekorationen, so etwa für die Aufführung von Shakespeares "Das Wintermärchen". Der große Regisseur schätzte zudem Orliks Kenntnisse des japanischen Theaters und ließ sich von ihm beraten und inspirieren.

Keine Schranken

Emil Orliks Porträts sind in der Art ihrer Ausführung und im Einsatz der zeichnerischen Mittel höchst unterschiedlich angelegt. Bei manchen genügen ein paar scheinbar rasch hingeworfene Striche, um das Charakteristische der dargestellten Person zu erfassen, sodass sie fast karikaturenhaft wirken. Anderen ist das Bemühen anzusehen, mit sorgsamer, detailgenauer Herausarbeitung verschiedenster Details ein Höchstmaß an Realismus zu erreichen. Ganz selten erweitert Orlik das Farbenspektrum und fügt seinem schwarzen Zeichenstift bei porträtierten Damen einige wenige farbliche Hervorhebungen hinzu.

Blättert der Betrachter heute in den "Köpfe"-Bänden Emil Orliks, lebt vor ihm die gezeichnete Kulturgeschichte der mitteleuropäischen Kunstmetropolen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf. Orliks Porträts führen dem Beschauer zudem deutlich vor Augen, welch tiefer Einschnitt der kommende nationalsozialistische Machtantritt für das kulturelle Leben bedeutete: Denn viele der von ihm Dargestellten mussten 1933 aus Deutschland und später aus Österreich oder anderen europäischen Ländern fliehen, wurden von den Nationalsozialisten ihrer Freiheit beraubt oder ermordet.

Das Schicksal der von ihm Porträtierten und der Kunst in Deutschland nach 1933 musste der zeichnende Chronist nicht mehr miterleben. Orlik, "der in das Zeichnen vernarrte Greis" - er wünschte sich, dass man ihn so, falls er ein hohes Alter erreichen sollte, einmal nenne -, dessen Geist sich in keine Schranken fügte, sondern sich immer nur europäisch und universal entfaltete, starb im September 1932 in Berlin.

Ausstellungshinweis:.

Der Autor dieses Beitrages kuratiert die Ausstellung "Der ‚Kopfjäger‘: Emil Orlik - Porträtist seiner Epoche" (26.7. bis 23.8. 2020, Schloss Kleinniedesheim, Rheinland-Pfalz). Anstatt einer Vernissage wird die Ausstellung ab 21.7. auf YouTube vorgestellt.

Oliver Bentz, geboren 1969, lebt als Germanist, Ausstellungskurator und Kulturpublizist in Speyer.