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Fritz Kortner, das schwierige Genie

Von Hermann Schlösser

Reflexionen
Furor, Einfühlsamkeit und Intellektualität: Fritz Kortner (hier im Jahr 1965).
© ullstein bild

In der ersten Reihe der Schauspielkunst stehend, war der gebürtige Wiener als Regisseur so angesehen wie widerborstig. Eine Erinnerung anlässlich seines 50. Todestages.


Am 12. Dezember 1919 erhob sich im Staatlichen Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt ein gewaltiger Tumult: Gegner und Verteidiger der Aufführung schrien aufeinander ein, es kam zu Handgreiflichkeiten. Der Auslöser der Aufregung war eine Neudeutung von Friedrich Schillers "Wilhelm Tell". Leopold Jessner, der Regisseur, hatte alle Alpenpanoramen und Kuhglocken von der Bühne verbannt und inszenierte stattdessen auf einer fast leeren Bühne den revolutionären Kampf eines demokratisch gesinnten Volkes gegen eine historisch überholte Regierung.

Die Brust des despotischen Landvogts Geßler war mit Orden des gerade abgedankten Hohenzollernreichs dekoriert, und die Fanfare, die seinen Auftritt ankündigte, zitierte das Hupsignal des Autos, mit dem Seine Majestät, Kaiser Wilhelm II., vorzufahren pflegte. Diese Verlegung des historischen Dramas in die Realität der Weimarer Republik entfachte den Zorn der konservativen Fraktion im Theaterpublikum.

Genaues Verständnis

Schillers Landvogt betritt die Bühne mit einem Befehl an seine Soldaten: "Treibt sie auseinander!" 1919 wurde daraus ein Höhepunkt der Aufführung. Fritz Kortner, der 27 Jahre alte Darsteller des Geßler, begriff instinktiv, dass es in dieser aufgeheizten Situation darauf ankam, die tobenden Gegner mundtot zu machen. In seiner glänzend geschriebenen Autobiographie "Aller Tage Abend" hat er diesen kritischen Moment 40 Jahre später selbst geschildert: "Ich stürmte, peitschenknallend, nun bis an die Rampe vor, übersteigerte den schon höchstgesteigerten Ton und schrie, die Gegenschreie ignorierend, so lange in die Zuschauerhölle hinein, das ‚Treibt sie auseinander!‘ unzählige Male wiederholend, bis die Radaubande wie vor einem Vorgesetzten kuschte." Couragiert und stimmsicher sorgte der Schauspieler also dafür, dass der nun folgende Höhepunkt des Dramas, die Apfelschuss-Szene, einigermaßen ruhig über die Bühne gehen konnte (und wie nebenbei entlarvte er auch die Obrigkeitshörigkeit der aufbegehrenden Schreier im Publikum).

Dieser Abend bedeutete für den jungen Schauspieler den endgültigen Durchbruch. In den folgenden Jahren wurde er zu einem führenden Akteur des expressionistischen Theaters, dessen exaltierter Darstellungsstil - gemischt aus Rasanz und Pathos - manche Zeitgenossen erregte, andere abstieß. Ein Meister der ausgewogenen Mitte ist Fritz Kortner nie gewesen. Allerdings begriff er bald, dass er seine Kunstmittel weiterentwickeln müsse, um der Gefahr der Routine zu entgehen. Er erarbeitete sich ein genaues Verständnis für die Zwischentöne und Widersprüchlichkeiten anspruchsvoller Partien. Die so entstehende Verbindung aus Furor, Einfühlsamkeit und Intellektualität ließ ihn zum großen Shakespeare-Interpreten werden: Richard III., Othello, Hamlet, Caliban gehörten zu seinen Glanzrollen. Doch er trat nicht nur auf der Bühne in Erscheinung, sondern auch in zahlreichen Stumm- und Tonfilmen. So erarbeitete sich Kortner im Lauf eines Jahrzehnts einen Platz in der allerersten Reihe der deutschen Schauspielkunst.

Geboren wurde der Theatermann 1892 im Wiener Alsergrund als Sohn des Uhrmachers und Juweliers Juda Kohn und dessen zweiter Frau Helene. Schon als Sechzehnjähriger gewann der auffallend Begabte, der damals noch Fritz Nathan Kohn hieß, eine Freistelle an der Wiener Akademie für Musik und darstellende Künste. Eine Theaterlaufbahn zeichnete sich ab, aber es wurden Bedenken gegen sein Aussehen laut. Was daran auszusetzen war, erklärte der Schauspiellehrer Meixner dem jungen Mann in aller antisemitischen Offenheit: "... mit dem Ponim sollten Sie überhaupt nicht zum Theater gehen. In einer Bank oder einem Geschäft spielt das keine Rolle." Ponim ist das hebräische Wort für "Gesicht", gemeint war also, dass der talentierte junge Mann für eine Karriere an Österreichs oder Deutschlands Bühnen einfach zu jüdisch aussah. In "Aller Tage Abend" ist nachzulesen, wie sehr der angehende Schauspieler unter dieser rassistischen Abwertung gelitten hat - zumal er sich danach selbst als hässlich empfand.

Die Prophezeiung des Lehrers erfüllte sich nicht. Schon 1910 wurde der achtzehnjährige Nachwuchskünstler an das Nationaltheater Mannheim engagiert, nannte sich jedoch von da an Kortner. Auf Dauer war er jedoch nicht bereit, sein Judentum zu verbergen. Je berühmte er wurde, desto mehr jüdische Rollen nahm er in sein Repertoire auf: Im Spielfilm "Dreyfus" war Kortner 1930 in der Hauptrolle des Hauptmanns Alfred Dreyfus zu sehen, der in der französischen Armee unter falschen Anschuldigungen degradiert worden ist; auf der Bühne spielte er mehrmals den Professor Bernhardi, der in Arthur Schnitzlers gleichnamigem Drama Opfer einer antisemitischen Intrige wird. Und in Jürgen Fehlings Inszenierung von Shakespeares Komödie "Der Kaufmann von Venedig" bewies Kortner 1927 schließlich seinen großen Mut zum künstlerischen Risiko, indem er den Juden Shylock nicht als armes Opfer seiner Umgebung darstellte, sondern als begründet bösartigen alten "Kaftanjuden", der gegen die scheinbare Humanität seiner christlichen Mitmenschen auf seinem Recht beharrt, dem Schuldner ein Stück Fleisch aus dem Leib zu schneiden.

Keine Altersmilde

In den frühen 30er Jahren stand Kortner einerseits auf der Höhe seines Ruhmes, andererseits geriet er jedoch genau deswegen ins Schussfeld der nationalsozialistischen Propaganda, die das progressive Berliner Theatergeschehen als "verjudet" denunzierte. Im Nazi-Hetzblatt "Der Angriff" hieß es 1932 über Kortner: "Er ist so ziemlich der schmierigste und übelste jüdische Typ, der je auf einer deutschen Bühne gestanden ist." Der Angegriffene verließ Deutschland schon 1932, übersiedelte zunächst nach Ancona, dann nach London, wo er Englisch lernte, und schließlich in die USA, wo er sich als Drehbuchautor und Schauspieler einen Namen machen konnte.

1947 kehrte Fritz Kortner zusammen mit seiner Ehefrau, der Schauspielerin Johanna Hofer, nach Deutschland zurück. Das Paar lebte zunächst in Berlin, dann in München, und Kortner begann eine zweite Laufbahn als Regisseur. Er arbeitete nur an renommierten, großen Häusern und galt als inspirierter und genauer Leser der Dramen, die er inszenierte. Saalschlachten wie Jessners "Wilhelm Tell" hat keine seiner Inszenierungen der Nachkriegszeit ausgelöst. Dennoch fällt auf seine späten Jahre nicht der Abendglanz der Altersmilde. Zahlreiche Anekdoten berichten, dass Kortner als Regisseur zwar genial, aber auch unerträglich war. Perfektionistisch und pedantisch zwang er den Schauspielern und Schauspielerinnen seine Sicht des Stücks auf, die Proben vollzogen sich oftmals in quälender Zähigkeit. Als Vorbild empfahl er seinen Ensembles den finnischen Langstreckenläufer Paavo Nurmi, der beim Training immer auf die Uhr schaute, um sicher zu sein, dass er nicht zu schnell wird.

Fritz Kortner, gemalt von Günter Rittner (1967).
© Günter Rittner

Dieser gründlichen Langsamkeit entsprangen im besten Fall durchdachte, detailreiche Aufführungen, in schlechteren Fällen kam es zu Premierenverschiebungen, und manch eine Inszenierung scheiterte auch an Kortners monumentalen Ansprüchen. Entsprach eine Leistung nicht seinen Vorstellungen, konnte er sehr verletzend sein: ".. . von fünf Sachen, die ich Ihnen sage, machen Sie zehn falsch", "Dieser Mensch ist ein Unterdepp", "Ich kann mich gar nicht satt ekeln". Bonmots dieser Art wurden 1967 in dem Buch "Kortner anekdotisch" gesammelt. Es bietet heute eine erheiternde Lektüre, aber für die Zeitgenossen war die Zusammenarbeit mit dem witzigen, boshaften Regisseur zweifellos schwierig.

Der Theaterkritiker Joachim Kaiser, der Kortner sehr bewunderte, hat darauf hingewiesen, dass die Reizbarkeit des alten Mannes sowohl seiner Abneigung gegen künstlerische Mittelmäßigkeit entsprang als auch dem immer wachen Verdacht, jede Kritik an seiner Person habe antisemitische Motive. Dieses alte Trauma, das Kortner von Jugend an begleitet hat, erkläre, so Kaiser, auch einige Fragwürdigkeiten im Verhalten des Regisseurs: "Doch Antisemitismus-Verdacht war für diesen heiklen, großen, alten Mann und Mimosis auch ein Mittel, Macht durchzusetzen und weiterarbeiten zu können. Ich habe mich damals erbittert dagegen gewehrt mit dem Satz, die Opfer in Auschwitz seien nicht dafür ermordet worden, dass Kortner jetzt lauter gute Kritiken bekomme."

Mühsame Probenzeit

Aber so widerborstig der alte Mann auch war und sein wollte - viele seiner Regiearbeiten sind bis heute von der Aura der Unübertrefflichkeit umgeben: Becketts "Warten auf Godot" 1954 in München, Büchners "Leonce und Lena" 1963 ebenfalls in München, Goethes "Clavigo" 1969 in Hamburg, und schließlich seine letzte Regiearbeit: Lessings "Emilia Galotti" im Theater in der Josefstadt in Wien. Die Premiere dieser Inszenierung fand am 29. April 1970 statt. Drei Monate später, am 22. Juli, starb Fritz Kortner, der schon lange sehr viel kränker war, als er wahrhaben wollte. Er wurde 78 Jahre alt.

Die Mitwirkenden der Wiener Aufführung, Marianne Nentwich, Susanne Almassy, Klaus Maria Brandauer, Kurt Heintel u.a., haben ihrem Regisseur ein ehrendes Andenken bewahrt: In dem Film "Emilia Galotti", der in der DVD-"Edition Josefstadt" erhältlich ist, berichten sie ausführlich von der Arbeit mit ihm. Sie verschweigen nicht, wie mühsam und anstrengend die Probenzeit war, wie oft sie sich missachtet oder zu wenig wahrgenommen gefühlt haben. Aber letzten Endes sind sich doch alle Beteiligten darüber einig, dass sich die Mühe reichlich gelohnt habe. Kein anderer Regisseur habe ihnen so viel zugemutet, doch habe auch keiner mehr aus ihnen herausgeholt. Und niemand habe ihnen die Kunst, klassische Sätze zu sprechen, besser vermittelt als dieser anspruchsvolle Theatermacher.

Zum Beweis dieser Behauptung werden im Film ausgewählte Szenen aus der Inszenierung nachgespielt: Langsame, sorgsam choreographierte Abläufe, die der alten Tragödie eine ungeahnte psychologische Tiefenschärfe verleihen und ihren ernsten theatralischen Reiz auch fünfzig Jahre nach ihrer Entstehung noch entfalten.

Hermann Schlösser ist Literaturwissenschafter und war bis April 2018 Redakteur im "extra".