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Ein grünes deutsches Wendewunder

Von Markus Wanzeck

Reflexionen
Michael Succow will mit seinem Engagement die Liebe zur Natur wecken.
© Sascha Montag/Zeitenspiegel

Kurz bevor die DDR zusammenbrach, gelang dem Ökologen Michael Succow ein Coup: Fast fünf Prozent der Staatsfläche wurden unter Naturschutz gestellt.


Man kann sich kaum einen glücklicheren Menschen vorstellen als Michael Succow, wenn er am Rande des Dünen-Kiefernwaldes Lanken steht, der - unter Naturschutz - "sich selbst leben darf", wie Succow das nennt; im Blick die sanft wogenden Wellen des Greifswalder Boddens, umringt von rund 20 Studentinnen und Studenten aus ganz Deutschland, die lauschen, was er zu erzählen weiß über den Seeadler, über die Veränderung der Vegetation seit jener Zeit vor 300 Jahren, als der heutige Nordosten Deutschlands noch schwedisch war, über die alten Bäume, von denen er fast ehrfürchtig spricht: "Jeder Baum hier ist ein Individuum. Jeder hat seine eigene Entfaltung. Also, ein Wald, der eine unheimliche Schönheit ..." Nicht immer führt er seine Sätze zu Ende.

Michael Succow, Moorexperte von Weltrang, einer der bedeutendsten Umweltschützer Deutschlands, emeritierter Professor für Geobotanik und Landschaftsökologie, springt von Thema zu Thema, eines geht ins andere über, hängt ja alles mit allem zusammen. Manchmal, wenn Succow merkt, wie viel er jetzt schon wieder geredet hat, wie sehr es aus ihm heraussprudelt, schiebt er ein "So" ein, wie einen Stöpsel. "So", sagt er dann. "Ich darf nicht zu viel erzählen." Und dann erzählt er meistens weiter.

Ist die Zeit allerdings wirklich knapp, weiß Succow sie zu nutzen. Wie damals, zur Wendezeit 1989/90, als die DDR aufhörte zu sein. Der letzte Beschluss auf der letzten Sitzung der letzten Regierung des Arbeiter- und Bauernstaates lautete: 4.882 Quadratkilometer werden unter Naturschutz gestellt - rund 4,5 Prozent des Staatsgebietes. Fünf Nationalparks, sechs Biosphärenreservate, drei Naturparks.

Jahrhundertwerk

Das "DDR-Nationalparkprogramm" war ein Coup, den man sich in Babelsberg oder Hollywood nicht besser hätte ausdenken können, so unwahrscheinlich und auch noch mit Happy End. "Ein Jahrhundertwerk, geschaffen in weniger als einem Jahr", so Olaf Tschimpke, bis 2019 Präsident des Naturschutzbundes Deutschland. Der damalige BRD-Umweltminister Klaus Töpfer nannte es das "Tafelsilber der deutschen Einheit".

Michael Succow, 79, gilt als Vater des Nationalparkprogramms. Der Biologe, dem wegen seiner Kritik am DDR-System trotz Promotion eine Universitätskarriere verbaut war, machte zur Wendezeit eine Blitzkarriere: Ende November 1989 wurde Succow zu einer Gesprächsrunde eingeladen, die im DDR-Fernsehen übertragen wurde - live, unzensiert. Er sprach offen über Umweltschäden, die es offiziell in der DDR gar nicht gab.

Anfang Dezember rief ihn Umweltminister Hans Reichelt an und bat ihn, sein Stellvertreter zu werden. "Ich habe an das System geglaubt, wurde missbraucht", sagte ihm Reichelt. "Sie sind glaubwürdig. Sie müssen es besser machen. Sie haben alle Freiheiten." So wurde Succow, der Outlaw, auf der Zielgeraden der DDR kurzzeitig Vize-Umweltminister. Er ernannte seine Weggefährten Hans Dieter Knapp und Lebrecht Jeschke, ebenfalls vom System Verstoßene, zu Hauptverantwortlichen für die geplanten Nationalparks und das "Grüne Band", zu dem der Todesstreifen entlang der deutsch-deutschen Grenze werden sollte. Klaus Töpfer kommandierte seinen Juristen Arnulf Müller-Helmbrecht aus dem Bonner Umweltministerium nach Ost-Berlin ab, um Succows Truppe beim Gesetzeschmieden zu helfen.

Das Nationalparkprogramm war ein bürokratisches Mammutprojekt. Nüchtern betrachtet: unmöglich, in der Kürze der Zeit. Aber es war keine nüchterne Zeit. Die Menschen hatten die Mauer zum Einsturz gebracht und auch in den Behörden waren Mauern gefallen. "Die Wendezeit", erinnert sich Succow, "war eine kurze Phase, in der die Menschen beseelt waren. In der auf einmal sehr, sehr viel möglich war."

Moor-Senke im Naturschutzgebiet Lanken.
© CC/Sven Segler

Erst der Anfang

Am 12. September 1990, dem Tag, als in Ost-Berlin der DDR-Ministerrat ein letztes Mal tagte, wurde das Nationalparkprogramm verabschiedet. Die Schutzgebietsverordnungen wurden Teil des Einigungsvertrages und traten am 3. Oktober 1990 in Kraft. 1997 wurde Michael Succow der "Alternative Nobelpreis" verliehen. Es wäre ein schönes Ende der Geschichte. Es wurde der Anfang des nächsten Kapitels.

Mit dem Preisgeld legte Succow den Grundstein für die Michael-Succow-Stiftung, die sich seit 1999 für das Naturerbe in Deutschland einsetzt sowie für Umwelt- und Klimaschutzprojekte etwa in Aserbaidschan und Weißrussland, China, Iran und Äthiopien. Wie man scheinbar Unmögliches in Staaten mit scheinbar unmöglichen politischen Rahmenbedingungen schafft - wer wüsste das schließlich besser als Michael Succow? 2019, zum 20-jährigen Jubiläum der Succow-Stiftung, verkündete sie ihre Zwischenbilanz: 100 Projekte in 15 Ländern, 20 ausgewiesene Schutzgebiete, 20.000 Hektar wiedervernässte Moorflächen, 1.400 Hektar eigener Flächenbesitz, darunter auch das Naturschutzgebiet Lanken am Greifswalder Bodden.

Für eine kleine Stiftung sind das erstaunliche Erfolge. Denn trotz inzwischen rund 30 Mitarbeitern verfügt sie über keinen großen Kapitalstock, was sie, wie Succow sagt, zu einer "Bettelstiftung" macht. Wirklich betteln muss Michael Succow allerdings nicht. Wie schon zur Wendezeit kann er sich auf ein großes Netzwerk an Freunden und Unterstützern verlassen, zu dem etwa Klaus Töpfer oder Michael Otto ("Otto-Versand") zählen. Besondere Unterstützung erfuhr er durch den heuer im April verstorbenen sauerländischen Unternehmer Dieter Mennekes, der vor einigen Jahren, inspiriert von Succows Einsatz für naturbelassene Natur, erklärt hatte, seinen 340 Hektar großen "Heiligenborner Wald" fortan Wildnis werden zu lassen.

Mennekes’ Umweltstiftung war es auch, die das fünftägige "Succow-Seminar" sponserte, das rund 20 Studenten - Umweltwissenschafter, Landschaftsökologen, Land- und Forstwirtschafter - im Spätsommer 2019 an den Greifswalder Bodden führte. Eine Exkursion zum Thema "Mensch und Natur in Partnerschaft", für die Professoren in ganz Deutschland Kurzzeit-Stipendiaten vorschlagen konnten. "Succownauten" hatte Mennekes die Teilnehmer getauft. Ein Ehrentitel, in dem die Hoffnung mitschwingt, dass sie sich in Succows Geist für eine enkeltaugliche Welt einsetzen werden.

Die "Succownauten" auf Exkursion.
© Sascha Montag/Zeitenspiegel

Die Exkursion war für Succow ein Versuch, den Funken des gesellschaftlichen Engagements auf junge Wissenschafter überspringen zu lassen. Zur Wendezeit hätte er die wunderlichen Ereignisse um ihn herum mit der Distanz des Fachwissenschafters zur Kenntnis nehmen und sich aus der Politik heraushalten können - dann hätte es die Nationalparks und Biosphärenreservate so vermutlich nie gegeben. Auch aus dieser Erfahrung heraus wünscht er sich mehr Wissenschafter, die sich nicht auf ihre Rolle als Wissenschafter reduzieren. "Wissen allein reicht nicht", erklärt er. "Es geht darum, Wissen mit Verantwortung zu entwickeln. Dafür haben die Griechen ein schönes Wort: Weisheit."

Beim Succow-Seminar ist der tellerrandübergreifende Blick deshalb inklusive. Succow sagt, er wolle den Studenten etwas vermitteln, das beim Wissenstransfer an den Universitäten oft zu kurz komme: "Eine Erdverbundenheit, eine Ehrfurcht - ja, ich will mal sagen, eine Liebesbeziehung zur Natur." Könnte kitschig klingen, wäre es so dahingesagt. Aber Succow füllt die Worte mit Leben, lebt diese Beziehung vor. Wenn man ihn im Elisenhain bei Greifswald stehen sieht, der schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts wieder "sich selbst leben darf"; wenn man seinen durcheinanderrankenden Gedanken lauscht, bis er sich selbst mit einem "So, ich darf jetzt nicht zu viel erzählen" vergeblich zu bremsen versucht; wenn er da steht, Kopf im Nacken, und an den alten Eichen- und Rotbuchen-Riesen ergriffen emporblickt, würde es einen nicht wundern, wenn er im nächsten Moment an einen der Riesenbäume herantreten und ihn umarmen würde.

Macht er dann doch nicht. Das machen dafür drei seiner Succownauten, die, Hand in Hand, gerade so um den mächtigen Stamm herumreichen. Succow lächelt. Scheint doch ganz gut zu klappen mit der Erdverbundenheit.

Die Küste des Naturschutzgebiets.
© CC/Assenmacher

Naturverbunden

Auch Meerverbundenheit legen die Succownauten an den Tag. Als Michael Succow - "So" - seine Ausführungen in den Dünen am Greifswalder Bodden beendet hat, werfen sie ihre Kleider in den Sand und rennen für ein Erfrischungsbad in die Ostsee. Einen Augenblick später trottet auch Succow ins Wasser. Selbst während der Badepause sprudeln die Gedanken weiter aus ihm heraus.

Und so hält er dort, im seichten Ostseewasser, die Succownauten im Halbkreis um sich versammelt, eine kleine Nacktvorlesung. Er wirkt ein wenig wie Poseidon - weißer Rauschebart, Wellen bis zum Bauch -, als er den Arm hebt und Antoine de Saint-Exupéry zitiert: "Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer." Ein Satz wie eine Kurzbeschreibung des Succow-Seminars. Ein Satz auch, der für Michael Succows Lebensleistung stehen könnte: Glücksorte auf der ganzen Welt schaffen und schützen. Denn es gibt Orte, die glücklich machen. Und Menschen, die dafür leben, dass es diese Orte gibt. Ohne Michael Succow wäre Deutschland heute um viele Glücksorte ärmer.

Markus Wanzeck geb. 1979, ist Reporter, Redakteur und Projektleiter bei der Reportergemeinschaft Zeitenspiegel in Weinstadt.