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Kärnten ist heute ein gutes Land

Von Janko Ferk

Reflexionen
Die Kärntner Landschaft war für die Lage im Land schon immer eine Vorgabe: Hier der Turnersee mit den Karawankenim Hintergrund.
© Getty Images/imageBROKER RF

Früher hielt ich mein Bundesland für zu schön für seine politische Wirklichkeit - das hat sich geändert: Eine persönliche Bilanz aus Anlass von "100 Jahre Volksabstimmung".


Vor einhundert Jahren hatte Kärnten noch viele Gebiete, die überwiegend von Sloweninnen und Slowenen bewohnt waren, heute sind es nur noch einzelne, beispielsweise Globasnitz/Globasnica, Ludmannsdorf/ Bilčovs oder Zell Pfarre/Sele Fara. In meiner Heimatgemeinde St. Kanzian/Škocijan waren die Assimilierungsbestrebungen so intensiv, dass die Dörfer um den Klopeiner See/Klopinjsko jezero mehr oder weniger eingedeutscht wurden. Die um den Turner See/Zablatniško jezero beheimateten Slowenen haben dem Druck besser standgehalten, so dass die Gemeinde St. Kanzian nicht ganz ohne zweisprachige Ortstafeln geblieben ist.

Wunderbares Erbe

Über den Abwehrkampf des Ortes St. Kanzian, aus dem immerhin so aufgeklärte Geister wie Eugen Freund und Johannes Ude stammen, gegen eine deutsch-slowenische Ortstafel bis zum Verfassungsgerichtshof kann man in den Weiten des Internet alles nachlesen. St. Kanzian am Klopeiner See hat mich für mein ganzes Leben geprägt. Schon bald habe ich bemerkt, dass nicht jeder zwei Sprachen, nämlich Deutsch und Slowenisch, kann oder können will. Die Jungen wollten Slowenisch nicht (mehr) können, und die sogenannten Alten konnten (noch) nicht richtig Deutsch.

Ich konnte und kann beides. Und darauf bin ich stolz. Dieses wunderbare Erbe verdanke ich meiner Familie und der zweisprachigen Volksschule des Orts. Erstere hat es mir mit Herz, letztere mit Hirn beigebracht. Mein Leben ist dadurch zweifellos zumindest um eine Dimension reicher. Ich kann heute nicht sagen, ob mich diese (Grund-)Erfahrung(en) zur Sprache und vor allem zur Literatur gebracht haben, nehme es aber mit Berechtigung an. Irgendwie verdanke ich St. Kanzian viel, trotzdem habe ich die Auseinandersetzungen um die - nicht aufgestellte - zweisprachige Ortstafel immer für zutiefst beschämend empfunden. Der Ort ist zweisprachig. Auch durch mich und wegen mir. Und wegen vieler anderer Frauen und Männer.

Denkmal für die Volksabstimmung (Drau-Gedenkradweg): "Volksabstimmung 1920" von Rolf Gutenberger.
© Johann Jaritz / CC BY-SA 4.0

Dennoch muss ich etwas sehr Positives dokumentieren. St. Kanzian ist schon deshalb meine ewige "Heimat"gemeinde, weil ich als Volksschüler bei den Feiern zum 10. Oktober immer der Erzaufsager war. Meine laute Stimme und mein sicheres Rezital prädestinierten mich dazu. Und ein Lehrer, der mich förderte, wie es in den alten Zeiten die Kleriker mit präsumtiven Priesteramtskandidaten machten. Der Mann war ausgefuchst, wie mir heute auffällt. Er hat mir, dem Kind einer Kärntner slowenischen Familie, keine dumpfen Gedichte in die Hand gedrückt, sondern Lyrik des Nazigegners Guido Zernatto. Heute lache ich mir ob so viel Gewitztheit und gesunden Menschenverstands ins Fäustchen.

Nach dem Ersten Weltkrieg und im Gefolge des Vertrags von Saint-Germain beanspruchte der SHS-Staat, der Staat der Serben, Kroaten und Slowenen, vulgo Jugoslawien, das zweisprachige Territorium. Dagegen wehrte sich Kärnten - ohne Hilfe aus Wien, sprich der Regierung - mit dem sogenannten Abwehrkampf. Der Friedensvertrag von Saint-Germain sah für Südkärnten eine Volksabstimmung vor, die am 10. Oktober 1920 stattfand.

Damals machte die slowenischsprachige Volksgruppe im Abstimmungsgebiet rund siebzig Prozent der Gesamtbevölkerung aus; etwas mehr als neunundfünfzig Prozent aller Stimmberechtigten votierten für Österreich, woraus unmissverständlich geschlossen werden kann, dass die Kärntner Slowenen dafür gesorgt haben, dass das Land bei Österreich geblieben ist. Gedankt hat man es ihnen nicht und nie wirklich.

Viele Abschaffungen

Gelockt hat man die Slowenen mit allem. Ich will nicht sagen, dass man sie für dumm verkauft hat. Die Kärntner Landesversammlung hat das Versprechen abgegeben, die sprachliche und nationale Eigenart der Slowenen "jetzt und alle Zeit" zu wahren, sogar von einer Kulturautonomie wurde einmal geschwafelt, was tatsächlich geboten wurde, waren eine Reihe von Abschaffungen, die dem slowenischen Volk massiv geschadet haben.

Abgeschafft wurde der obligatorische zweisprachige Unterricht in Südkärnten, die Amts- und Gerichtssprache wurde zurückgedrängt und zweisprachige Ortstafeln wurden erst aufgestellt, als die Assimilation schon so weit fortgeschritten war, dass man mit Rudimenten das Auslangen finden konnte. Aus ungefähr achthundert Kärntner slowenischen Dörfern, Weilern und Winkeln wurden ungefähr einhundertfünfzig. Und noch um diese wurde mit der Apothekerwaage gefeilscht. Eigentlich eine Schande für einen aufgeklärten Rechtsstaat wie Österreich im 21. Jahrhundert.

Nebenbei gesagt, auch die finanziellen Förderungen, die der Kärntner slowenischen Kultur von der Landesregierung und vom Bund gewährt werden, kann man salopp als rudimentär und mit der Apothekerwaage bemessen bezeichnen. Mehr Großzügigkeit hätte dem Renommee unserer Republik gutgetan. Und noch etwas nebenbei: Österreich konnte offensichtlich nie großzügig sein, weil es nach dem Ersten Weltkrieg zum Kleinstaat und gleichzeitig zum Kleingeist wurde, was aber auch heißt, dass es sich nie seiner großartigen Kultur und seines vielfältigen Erbes bewusst wurde und war. Es gibt in Europa und der Welt kaum einen Staat, der auf so viele große Künstler und Künstlerinnen verweisen kann.

Ortstafel-Schandfleck

Wie auch immer, die Kärntner Sloweninnen und Slowenen sind dem Land beständig und fortwährend treu geblieben. Sie haben nie mit Faschisten oder Nazis auch nur geliebäugelt. Diese waren und sind ihnen zuwider. Das Land Kärnten aber war - kurz und bündig gesagt - lange Zeit nichts anderes als slowenenfeindlich. Ich habe es selbst erlebt, weshalb ich früher oft und gern gemeint habe, die Kärntner Landschaft sei zu schön für die Kärntner Wirklichkeit.

Wer als vierzehnjähriger Gymnasiast, gemeint bin damit ich selbst, im Autobus zur Schule als Tschusch beschimpft wird, darf das später sagen. Das Delikate dieser Beschimpfung war, dass sie durch sogenannte dumme Buben aus assimilierten, das heißt ehemals slowenischen Familien, wie eine carinthische Selbstverständlichkeit erfolgte. Sie ereignete sich auch, weil zu Beginn der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts ein Verein, der sich aus eigener Machtvollkommenheit als für den Dienst an der Heimat zuständig erachtete, mein Gymnasium, nämlich das Slowenische in Klagenfurt/Celovec, als "Das große Gift" bezeichnete, wofür sich diese Vereinigung bis heute nicht entschuldigt hat. Als Absolvent dieser Anstalt warte ich nach wie vor auf eine angemessene Abbitte.

Gedenk-Gemälde zur Volksabstimmung von Felix Esterl (1930).
© Reprografie

Meine Altersgenossen und jüngere Menschen haben mir - vor allem in den letzten drei Jahren - immer wieder gesagt, man müsse aus der vatikanisch-katholischen Kirche Kärntens austreten. Ich habe immer gefragt, was mich, bitte, ein Bischof Alois Schwarz schere, der von Kärnten keine Ahnung hatte, und habe im Weiteren entgegnet, dass es mir nicht einmal am Rand eines Traums einfalle, die Kärntner Kirche zu verlassen, zumal sie nach dem 10. Oktober 1920 beziehungsweise in den letzten Jahrzehnten die einzige war, die den Kärntner Sloweninnen und Slowenen - nach ihren Möglichkeiten - Gerechtigkeit widerfahren habe lassen.

In dieser Gedankenfolge habe ich immer auf meinen Ortspfarrer, so heißt es im Kanonischen Recht, Jožef Koglek in Sankt Kanzian, und auf den mutigen Diözesanbischof Egon Kapellari verwiesen. Wäre nämlich das offizielle Kärnten, namentlich die Kärntner Landesregierung, so mit der zweiten Landessprache umgegangen wie die Kirche, dann hätten wir in unserem Land weder einen Ortstafel- noch einen Sprachenkonflikt gehabt.

Heute können wir froh sein, dass den Ortstafel-Schandfleck der österreichischen Politik, für den Jahrzehnte sozialistische Politiker mit ihrer absoluten Mehrheit in Kärnten verantwortlich waren, zwei beherzte Männer weggewischt haben, nämlich Bundesminister Josef Ostermayer und Landeshauptmann Gerhard Dörfler. Beiden gratuliere ich bei dieser Gelegenheit nunmehr schriftlich und wiederhole auf diese Weise meinen verbalen Dank, der bereits mehrere Jahre alt ist. Sie haben dieses Land geändert, weil sie es befriedet haben!

Literatur-Versäumnisse

Ich sage es bewusst und mit Nachdruck: Kärnten ist heute ein gutes Land. Auch und vor allem wegen Peter Kaiser als Landeshauptmann. Ich bin heute, das sei wieder nebenbei erwähnt, in einem Alter, in dem ich nicht mehr wegen meiner richterlichen Zensurschere im Kopf davor zurückschrecke, auch politische Wahrheiten beim Namen zu nennen. Ich habe es viel zu lange praktiziert.

Also, noch einmal, Kärnten ist heute ein gutes Land. Aber es kann noch besser werden. Und dennoch muss ich konstatieren, dass in der Literatur, und gerade für diese erachte ich mich als kompetent, viel, und zwar sehr viel, vorsätzlich versäumt worden ist. Kärnten war in den späten Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts ein Universitätsgegner, was sich heute rächt, und es war genauso ein Literaturgegner, was sich ebenso rächt. Es war überhaupt ein Kulturgegner. Manchmal habe ich das Gefühl, Kärnten hätte die Aufklärung genauso abgelehnt wie die slowenische Kultur, Literatur und Sprache.

Heute ist Graz unzweifelhaft die Literaturhauptstadt Österreichs. Klagenfurt hätte es zur literarischen Metropole gebracht, wenn auch nur ein Fünkchen an förderndem Willen vorhanden gewesen wäre. Aber Kärnten hatte Angst vor der Literatur. Ich weiß, wovon ich schreibe, weil ich ein Zeitzeuge bin. Kärnten hatte Angst vor seinen Literaten. Vor einer Revolution, wie lächerlich... Dabei hatte dieses Land ein Potential wie kein anderes in Österreich, Graz, das es - weitsichtig! - genützt hat, ausgenommen. Kärnten hatte das Potential für eine Parallelveranstaltung zu Graz, für "manuskripte" und "Forum Stadtpark" in Kärntner Façon. Die Politik war zu feige und zu "unintellektuell", die finanziellen und geistigen Mittel zur Verfügung zu stellen, die literarischen Ressourcen waren jedenfalls vorhanden - und wie: Gustav Janu, Peter Handke, Gert Jonke, Christine Lavant, Peter Turrini, Del Vedernjak, Josef Winkler und viele andere.

Alles wurde vorsätzlich verschlafen. Man war immer zu sehr auf das Gespenst des 10. Oktober 1920 konzentriert, weil man dieses Datum nie wirklich verstehen wollte. Der 10. Oktober 1920 war, wie gesagt, immer eines: Das Bekenntnis der großen Mehrheit der Kärntner Sloweninnen und Slowenen zu Kärnten - und vor allem zu Österreich. Heute muss jeder vernunftbegabte Mensch zugeben, dass ohne das Kärntner slowenische Votum das Land nie österreichisch geblieben wäre. Nicht einmal der nationalistischste Historiker, und in Kärnten hat es sie immer zuhauf gegeben, wird das Gegenteil behaupten (können). Und der Dank? Wie gesagt, Ungerechtigkeit über Jahrzehnte!

Bei dieser Gelegenheit muss ich es einmal als Zeitzeuge und zu dokumentarischen Zwecken klipp und klar festhalten und ausdrücklich betonen: Ich habe in meinem ganzen Leben, inzwischen ist es mehr als fünfmal ein Dutzend Jahre alt, nie, und zwar überhaupt nie, eine Kärntner Slowenin oder einen Slowenen getroffen, die lieber jugoslawische Staatsbürger gewesen wären. Und deshalb ist diese dämonische Kärntner Urangst ein Betrug der historischen Sonderklasse. Eigentlich müsste das Unrecht, das Sloweninnen und Slowenen durch Jahrzehnte angetan wurde, mit einem Denk- oder Mahnmal abgearbeitet werden. Einfach der Psychologie wegen, ohne bei irgendeiner Schuldfrage auch nur anzustreifen. Wer dies nicht versteht, möge sich, bitte, nicht in eine Diskussion einmengen.

Alpen-Adria-Raum

Der jetzige Landeshauptmann könnte das Unrecht, das seine sozialistischen Vorgänger verursacht haben, wiedergutmachen. Er hätte alle Möglichkeiten, ein Denk- und Mahnmal in Auftrag zu geben. Und bei dieser Gelegenheit darf ich, um die Sache zu konkretisieren, Künstlernamen nennen, die jederzeit imstande wären, ein mahnendes und wiedergutmachendes Kunstwerk für Kärnten zu schaffen. Peter Kaiser kennt sie gut, sie heißen Valentin Oman und Karl Vouk. Einer besser als der andere. Ich versichere dem Herrn Landeshauptmann an dieser Stelle, und ich werde mein Versprechen nicht vergessen, dass ich nicht eher innehalten werde, als dieses Ehrenmal Form und Stil annehmen wird.

Doch zurück. Eine der vielschichtigsten Literaturregionen in Europa ist zweifellos der Alpen-Adria-Raum. Ein Bereich, der aus dreizehn Regionen besteht. Neben Kärnten gehören das Burgenland, Oberösterreich und die Steiermark, die Lombardei, Venetien, Friaul-Julisch Venetien, mehrere ungarische Komitate, Slowenien und Kroatien dazu. Es handelt sich, wie man unschwer erkennt, um die Anrainerländer der Alpen und der Adria. Seien wir uns dieser wunderbaren Geografie bewusst und handeln wir nach ihr. Es muss doch einmal Schluss sein können mit dem Kleinkrämergeist, der bisher so vieles verhindert hat.

Es kommt auf das Kreuzen und Verflechten der kulturellen und literarischen Fäden an. Auch auf die alpen-adriatischen, die für alle eingewebten Spuren maßgeblich sind. Sie sind die Bindeglieder, die dazu beitragen, dass sich vielleicht eine Alpen-Adria-Kultur-und-Literatur entwickeln wird, ohne dass nationale Kulturen und Literaturen ihre Eigenständigkeit verlieren, wobei ich eingestehen muss, dass ich ohnehin den Eindruck habe, dass sich Alpen-Adria nicht in den erwähnten dreizehn Regionen abspielt, sondern hauptsächlich in Österreich, Slowenien und Italien.

Kärnten könnte - mit etwas Weitsicht - der Angel- und Drehpunkt werden, wenn es seine Optionen nicht ein weiteres Mal verkennt und versäumt. In Kärnten gibt es nicht weniger als drei slowenische beziehungsweise zweisprachige Verlage, und zwar den Drava Verlag/Založba Drava, den Hermagoras Verlag/Mohorjeva Založba sowie den Wieser Verlag/Založba Wieser, alle in Klagenfurt zu Hause und für eine Vermittlerrolle prädestiniert.

Heute bin ich froh, dass die Kärntner Landschaft so schön ist. Die Wirklichkeit bemüht sich jetzt in Form von vernünftigen Menschen jeden Tag, sich ihr anzupassen. Der 10. Oktober 2020 könnte zum Plebiszit für ein modernes und bedingungslos zukunftsorientiertes Kärnten werden. Es muss nur die vorhandene Kärntner Vernunft ihrem naturgemäßen Gebrauch zugeführt werden.

Janko Ferk arbeitet und lebt in Klagenfurt. An der Universität Wien
studierte er Rechtswissenschaften, Deutsche Philologie und Geschichte. Er ist Richter des Landesgerichts Klagenfurt, Honorarprofessor für
Literaturwissenschaften an der Alpen-Adria-Universität
Klagenfurt/Univerza v Celovcu und Schriftsteller. Zuletzt
veröffentlichte er den Essayband "Kafka, neu ausgelegt" (Leykam Verlag,
Graz).