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Bei den Ismailiten

Von Priska Seisenbacher (Text & Fotos)

Reflexionen

Im tadschikischen und afghanischen Hochgebirge Pamir hat ein liberaler Islam Wurzeln geschlagen. Die Früchte reifen bis heute, in vielen ist dennoch der Wurm drin.


Das Wakhan-Tal mit dem Blick auf die Bergspitzen des Hindukusch und dem Fluss Panj, der die Landesgrenze zwischen Afghanistan und Tadschikistan bildet.
© PRISKA SEISENBACHER

Im Park. Eine junge Frau lehnt lässig an einem Baum, stützt sich mit ihrem Fuß am Stamm ab. Sie trägt weiße Turnschuhe und blaue Jeans, ist vielleicht 15 Jahre alt. Daneben ihre Freundin. Die Art und Weise, wie sie ihre Haare seitlich der Stirn zu kleinen Zöpfen zusammengebunden hat, lässt glauben, sie hätte Teile ihrer Haare abrasiert, so viel Kopfhaut ist zu sehen. Ihre Hände stecken locker in den Taschen ihres violett-weiß-gestreiften Sommerkleides, das auch ein sehr langes Hemd sein könnte.

Dach der Welt

Baumwechsel. Eine junge Frau in einem schwarzen, knielangen Sommerkleid mit weißen Punkten geht entschlossenen Schrittes durch die Wiese. Hand in Hand mit ihrem Freund, einem großgewachsenen jungen Mann mit kurzen Jeans. Jugend in Chorugh. Man hätte genauso gut in Wien und nicht im städtischen Zentrum des tadschikischen Pamir stehen können - und die Jugendlichen dort hätten sich wohl nicht anders verhalten oder gekleidet.

Die Jugend in Chorugh, dem städtischen Zentrum des tadschikischen Pamirs, trifft sich anlässlich des "Roof-of-the-World-Festivals" im Park.
© PRISKA SEISENBACHER

Das Hochgebirge Pamir bildet zusammen mit Tibet und dem Himalaya das sogenannte Dach der Welt und teilt sich in mehrere Pamire auf. Auch wenn der größte Teil der Gebirgslandschaft in Tadschikistan liegt, erstreckt sie sich darüber hinaus auch über einen kleinen Teil Afghanistans, Chinas und Kirgistans. Der Park im Zentrum Chorughs ist an diesem Abend so gut besucht, weil dort das Roof-of-the-World-Festival stattfindet. Auf der zentralen Showbühne ertönt ein Hoch auf die vielfältige Kunst und Kultur der Pamiris. Frauen und Männer in traditionellen Roben führen regionale Tänze vor, musizieren und singen in ihren unterschiedlichen Sprachen und Dialekten.

Der heutige Abend stiftet Identität. Oder konsolidiert diese einmal mehr. Sich als Pamiri zu bezeichnen, heißt vor allem, sich von den sunnitischen Tadschiken abzugrenzen. Was sie abgesehen von ihren ostiranischen Muttersprachen und dem Leben im Hochgebirge von den Tadschiken unterscheidet? Ihr ismailitisches Glaubensbekenntnis. Was damit einhergeht? Der Durst nach Bildung, der Ruf nach Freiheit.

In seiner pamirischen Ausprägung wurde das schiitische Ismailitentum massiv vom Philosophen und Poeten Nasir Khusraw beeinflusst. Eine siebenjährige Sinnsuche führte den Intellektuellen im 11. Jahrhundert nicht nur bis nach Ägypten, sondern auch zum ismailitischen Glaubensparadigma, das er schließlich in der Pamir-Region unters Volk brachte.

In seiner Vision eines ismailitischen Glaubenswegs ging es darum, dass es jedem Individuum erlaubt sein sollte, an seiner Selbstverwirklichung zu arbeiten, um sein volles Potential ausschöpfen zu können und damit das größte Maß an Freude zu erreichen. Die spirituell-intellektuelle Bildung des Selbst sollte immer der Humanität verpflichtet sein, um auch für Erfüllung und Freude in der Gesellschaft zu sorgen.

Die Opposition von Humanität bilden Khusraw zufolge Ignoranz und Unrecht, die nicht Freude, sondern Schmerz schaffen. Für Khusraw war es außerdem essenziell, dass dem angehäuften Wissen und der Bildung des eigenen Intellekts auch dementsprechende Taten folgen müssen. Ohne Handlung bleibt das Wissen nutzlos, ohne Wissen die Handlung entbehrlich. Darin liegen die philosophischen Grundlagen des bis heute im Pamir praktizierten Glaubens.

Varianten von Egalität

Jubelgeschrei. Dann sogleich nicht weniger enthusiastische Buhrufe. Es ist später Nachmittag in der tadschikischen Siedlung Vamd und ein Fußballspiel findet statt. Es scheint um alles und nichts zu gehen. Weniger für die Spieler, die mäßig motiviert auf dem kaum als Spielfläche erkennbaren Platz hin- und herlaufen. Mehr für die vielen Frauen und Kinder am Straßenrand, die für gehörige Stimmung sorgen.

Es ist das finale Spiel einer kleinen Fußballmeisterschaft zwischen den verschiedenen Straßen der besagten Siedlung. Am heutigen Abend entscheidet sich, ob Barsharv oder Shiyongoh als Sieger vom Platz gehen und dafür das Preisgeld von 600 Somoni, etwas mehr als 50 Euro, kassieren werden.

Mit Steinchen und Dreck gefüllte Plastikflaschen sorgen für zusätzlichen Krach. Die vielen Frauen und Mädchen, deren Söhne, Brüder und Cousins auf dem Spielfeld stehen und laufen, schreien sich die Seele aus dem Leib, machen Luftsprünge, reißen die Arme in die Höhe und klatschen in ihre Hände.

Auf der anderen Flussseite in Afghanistan wäre eine solche Szene undenkbar. Im afghanischen Distrikt Shighnan, der nicht anders als Vamd von ismailitischen Pamiri bewohnt wird, haben Frauen nicht die Freiheiten, die sie im tadschikischen Pamir haben. Aber Geschlechtergerechtigkeit ist auch im sowjetisch geprägten Pamir so eine Sache. Wenngleich ein liberaler Islam praktiziert wird, liegt die endgültige Entscheidungsmacht auch hier bei Ehemann oder Vater.

Nicht wenige Väter sind bemüht, dass auch ihre Töchter und nicht nur ihre Söhne die bestmögliche Schulbildung erlangen. Das versichert mir auch die 16-jährige Manizha, die gemeinsam mit ihrer Mutter jeden Sommer ein Gästehaus nahe den heißen Quellen von Bibi Fatima betreibt. Ihr Vater bekräftigt sie in ihrer Entscheidung, Tourismus zu studieren.

Selbstverständlich ist das nicht. Während die religiöse Lehre auf Egalität zwischen den Geschlechtern pocht, sieht die Lebensrealität vieler Frauen im tadschikischen Pamir anders aus. Oft drängen die Erwartungen der eigenen Familie die jungen Frauen wieder in traditionelle Lebens- und Verhaltensmuster. Immer wieder halten aber unter Druck gesetzte Frauen ihren Familien entgegen, dass die ismailitische Lehre ihren Lebensweg als gebildete und emanzipierte Frauen rechtfertigt.

Dann verteidigen Frauen ihre Freiheit und berufen sich dabei auf den ismailitischen Glauben, der sich durch einen hohen Stellenwert von Bildung auszeichnet und Ignoranz verurteilt. Denn nur durch Bildung könne die für den Philosophen Khusraw erstrebenswerte Selbstentfaltung und Gleichberechtigung erreicht werden.

Wo ich aussteigen möchte, fragt mich der Fahrer. "Noch vor der Stadt, direkt am Grenzübergang nach Afghanistan." Stille. "Afghanistan, hm? Wakhan?" Ich nicke. Niemand in diesem Jeep kennt sich. Bei Fahrten mit der Marshrutka, einem Sammeltaxi, bestimmt der Zufall die Reisegemeinschaft auf Zeit. Wir folgen dem Flussverlauf des Panj. Knappe 200 Kilometer südöstlich von Vamd beginnt der Wakhan, ebenfalls Heimat der ismailitischen Glaubensgemeinschaft. Bei dem Tal handelt es sich um einen natürlichen Korridor, wo die Gebirgszüge Pamir und Hindukusch zusammenlaufen. Die Bewohner, Wakhis genannt, zählen zu den Pamiris.

Schätzungen zufolge sollen heute rund 50.000 Wakhis entlang der Täler des Pamirknotens und verstreut auf Tadschikistan, Afghanistan, Pakistan und China leben. Dem Great Game zwischen Russland und Großbritannien ist es zu verdanken, dass im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Landesgrenze mitten durch das Tal entlang des Flussverlaufs gezogen wurde. Die ismailitische Bevölkerung des Tals war damit zweigeteilt - und ist es bis heute.

Burkas im Bazar

Nach all den holprigen, aber am Ende erfolgreichen Versuchen, mich auf Tadschikisch zu unterhalten, legt der Fahrer seine Stirn in Falten und entlässt mich mit den Worten: "Ismaili are good people." Sein Gesicht entspannt sich. Er lächelt. Ich tue es ihm gleich. Ich glaube zu verstehen. Die Menschen im Wakhan sind alle aus demselben Holz geschnitzt, scheint er mir sagen zu wollen. Ganz gleich, ob ihr Pass sie als Afghanen oder Tadschiken ausweist.

Zwei Visastempel und wenige Stunden später ziehe ich durch Ishkashims Stadtzentrum. Die staubige Hauptstraße der afghanischen Siedlung wird links und rechts von kleinen Läden gesäumt. Wer orientalische Bazare kennt und liebt, wird den in Ishkashim nicht als Schönheit bezeichnen. Die Läden sind schlicht, die Auswahl an Waren überschaubar. Ich plaudere mit einem Schuhverkäufer, da zieht ein blauer Schatten an mir vorbei. Alles, was ich sehe, ist ein in Bewegung versetzter Stoff, aus dem Hände hervorragen - gestikulierend, deutend.

Burka tragende Frau im Bazar von Ishkashim, Afghanistan
© PRISKA SEISENBACHER

Alle Frauen in Ishkashims Straßen - viele sind es nicht - tragen Burkas. Die Frau feilscht um den Preis für ein Paar Schuhe. Erfolgreich. In der linken Hand hält sie ihren Koffer, ihr Smartphone und ihre restlichen Einkäufe, während sie mit der rechten den Kopf ihrer Tochter tätschelt. Das kleine Mädchen mit ihrem auffälligen weißen Kleid und dem verspielten Haarreif samt blauer Feder und Stoffrosen wirft mir noch einen skeptischen Blick zu, bevor sie an ihrer Mutter vorbei aus dem Laden saust. Bis auch sie sich mit der Burka arrangieren muss, wird es nur noch wenige Jahre dauern.

In Ishkashim ist der Anteil der sunnitischen Einwohner über die Jahre immer größer geworden. Für die hier lebenden Sunniten wäre es undenkbar, dass Frauen ohne Ganzkörperverschleierung das Haus verlassen. Nach und nach stieg der Druck auf die schiitische Bevölkerung. Jetzt tragen auch ismailitische Frauen Burka, wenn sie in der Stadt Besorgungen erledigen. Mit der Kultur der Pamiris bzw. Ismailiten hat diese extreme Form der Verschleierung nichts zu tun. Schon wenige Kilometer raus aus der Stadt gen Osten sind keine Burkas mehr zu sehen. Dann blickt man in von Wind und Wetter gezeichnete Frauengesichter und sieht farbenfrohe Kopftücher, die bei Weitem nicht alle Haare verdecken.

Es ist bereits später Nachmittag, als es mich auf die sattgrünen Felder in der näheren Umgebung meines Gästehauses in Ishkashim drängt. Natürlich bleibt mein Streifzug nicht unbemerkt. Ein junger Mann und zwei kleine Jungs gesellen sich zu mir. Der Mann, vielleicht wenige Jahre jünger als ich, schickt einen der Buben, um seine Frau zu holen. Sie könne nämlich Englisch, erklärt er mir euphorisch. Wenige Augenblicke später sitzt nicht nur seine Ehefrau namens Shekeba neben mir, sondern auch ihre Schwiegermutter, eine Cousine, eine Tante, zwei Onkel und eine ganze Kinderschar. Es ist eine ismailitische Familie, wie ich sie auch am anderen Ufer in Tadschikistan hätte treffen können.

Das Verhältnis zwischen den Frauen und Männern ist ungezwungen. Die Stimmung ausgelassen. Ununterbrochen treiben die Frauen ihre Späße und verhalten sich ganz und gar nicht zurückhaltend. Shekebas gute Englischkenntnisse rühren daher, dass sie Englischlehrerin ist.

Auch Shekebas Schwiegervater ist Teil der Runde. Ein älterer Herr mit Gehstock und weißem Vollbart. Seine Augen sind von Stolz erfüllt, als er mir von seiner ältesten Tochter erzählt: "Sie ist Ärztin, arbeitet für die Aga-Khan-Stiftung und ist nun für drei Monate im Kleinen Pamir stationiert." Zweifelsohne ist das religiöse Oberhaupt der Ismailiten namens Aga Khan und seine gleichnamige Stiftung von immenser Bedeutung für die Pamiris. Die Aga-Khan-Stiftung bemüht sich mit gezielten Initiativen um die Zukunfts- und Bildungschancen von Frauen. So finden sich immer wieder Pamiri-Frauen, die Lehrerinnen, Ärztinnen, ja auch Bergführerinnen sind, oder Computer- oder Englischkurse belegen.

Relative Freiheit

Die Pamiri-Häuser im afghanischen Wakhan sind schlichter als auf der tadschikischen Seite. Meistens leben mehrere Generationen auf engstem Raum miteinander.
© Priska Seisenbacher

Dennoch. Die vielen Initiativen und farbenfrohen Kleider können nicht über die Armut hinwegtäuschen, die das Leben der afghanischen Ismailiten zeichnet wie Wind und Wetter. Der Lebensalltag der Menschen hier ist hart, der ökonomisch bedingte Verzicht groß. Die traditionellen, nicht selten von Ruß geschwärzten Pamiri-Häuser sind schlichter als jene auf der tadschikischen Seite. Mehrere Generationen leben unter einem Dach auf engstem Raum. Reichtum findet sich hier nicht, nicht im herkömmlichen Sinn.

Aber: Die bitterarmen Lebensverhältnisse verhindern nicht, dass die Pamiri, auch hier von ihrem religiösen Führer Aga Khan und den ismailitischen Glaubensgrundsätzen geleitet, den Wert von Bildung anerkennen und Gewalt ablehnen. Freiheit ist relativ. Die vielen Mädchen und jungen Frauen hier würde - gemessen an einem westlichen Lebensstil - wohl niemand als frei bezeichnen.

Und doch. Vergleicht man ihr Leben mit dem so vieler anderer junger Frauen im Land, dann sind sie freier als die meisten. Niemand verlangt von ihnen, ihr Gesicht zu bedecken, wenn Fremde ins Haus einkehren. Den Mädchen im Wakhan wird die gleiche Schulbildung wie den Buben zuteil, manche von ihnen schaffen es sogar auf die Universität.

Neben der Aga-Khan-Stiftung bemüht sich vor allem die Rupani Foundation um eine nachhaltige Entwicklung des Wakhan und unterstützt die lokale Bevölkerung, unter anderem mit der Kultivierung von diversen Nutzpflanzen. Aber ihr Engagement geht darüber hinaus. Vor kurzer Zeit wurde eine mobile Schule ins Leben gerufen. Es ist ein zur Schule umfunktionierter LKW, in dem unterrichtet wird. Nicht dass keine Schulen für Mädchen und Buben im Wakhan vorhanden wären, aber ergänzend gibt es nun für jüngere Kinder diese LKW-Schulen, die mit ihren kunterbunten und bildhaften Lernmaterialien viel faszinierender wirken als jeder Klassenraum. Spielerisch wird den Kindern die lateinische Schrift nähergebracht und erste englische Wörter werden gelernt. Schließlich geht es aber auch um Grundlegendes, etwa wie man richtig Zähne putzt.

Lehrerin in LKW-Schule im afghanischen Wakhan.
© PRISKA SEISENBACHER

All das erzählt Bibishirin Zahid, die Lehrerin, die mit dem LKW alle drei Tage von einem Dorf zum nächsten zieht und vom Erfolg dieser Initiative überzeugt ist. Inayat Ali, der die NGO-Projekte im Wakhan leitet, ist vor wenigen Jahren von Pakistan nach Ishkashim gezogen. Ein erheblicher Teil der Pamiris lebt über die afghanischen Landesgrenzen hinweg im Norden Pakistans. Noch bevor Russland und Großbritannien den Wakhan-Korridor als politische Pufferzone auserkoren, die Grenzen endgültig festgelegt und die Pamiri-Bevölkerung damit geteilt hatten, floh der Machthaber von Wakhan 1883 mit rund einem Viertel der Bevölkerung in das heutige Pakistan und lebte fortan im Exil.

Die Pamiris sind also nicht nur zwei-, sondern drei-, ja sogar viergeteilt, doch eint sie alle der ismailitische Glaube, der sich mit seinen säkularen und emanzipatorischen Grundsätzen ausgerechnet in der unwirtlichen Hochgebirgswelt des Pamir verankern konnte.

Priska Seisenbacher, 1990 geboren, lebt und arbeitet in Wien. Als
Fotografin und Autorin liegen ihre Schwerpunkte auf dem persischen
Kulturraum und Zentral-asien. In ihrem jüngst erschienenen Lesebildband "Im Pamir. Vom besonderen Leben in einer entlegenen Welt" (Verlag Reisedepeschen) gewährt sie Einblicke in die Lebenswelten von
Frauen, erzählt über das Alleine-Reisen und über historische und
politische Zusammenhänge, die das Leben im Pamir bestimmen.