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Beteigeuze und das Maß der Sterne

Von Christian Pinter

Reflexionen
Der Riesenstern Beteigeuze: von wegen kugelrund und scharf umrissen!
© ESO

Vor 100 Jahren gelang es erstmals, den Durchmesser einer fernen Sonne zu bestimmen. Der Erfolg stellte sich anhand eines Roten Riesen ein.


Manche Menschen glauben, sie könnten die Größe von Fixsternen mit freiem Auge abschätzen: Schließlich muten die hellsten Lichtpunkte am dunklen Himmel ja ausgedehnter an als die schwächsten. Dem dänischen Astronomen Tycho Brahe erschienen sie 1596 sogar sechsmal so groß. 1632 entlarvte Galileo Galilei das als Täuschung: Er führte den Effekt auf einen erst im Auge entstehenden Strahlenkranz zurück, der vorzugsweise bei hellen Sternen auftritt. Um ihn auszuschalten, ließ Galilei die auffällige Wega im Sternbild Leier hinter einer gespannten Schnur verschwinden. Dann maß er die Distanz vom Aug’ zur Schnur. Wegas Durchmesser würde, so schrieb der Italiener, nicht mehr als fünf Bogensekunden betragen. Das war höchstens noch ein Vierundzwanzigstel des Brahe’schen Werts. Eine Bogensekunde ist der 3.600. Teil eines Winkelgrads: So klein erschiene einem Wiener ein erwachsener Mensch in München (350 km Abstand).

Im März 1637 beobachtete Jeremiah Horrocks, wie sich der Mond gemächlich ans Siebengestirn im Sternbild Stier heranschob und dessen Sterne bedeckte. Sie verschwanden jeweils schlagartig hinterm dunklen Mondrand. Die scheinbaren Winkeldurchmesser der Sterne, so schloss der Engländer ganz korrekt, mussten deshalb noch viel, viel winziger sein, als Galileis Obergrenze vermuten ließ.

Die Vollmondscheibe misst aus irdischer Perspektive rund 1.800 Bogensekunden; ebenso unsere Sonne. 1672 konnte man erstmals die Distanz zur Sonne abschätzen. Damit wurde auch ihre gewaltige Dimension klar. Tatsächlich ist sie 150 Millionen km von uns entfernt. Ihr Durchmesser von 1,39 Millionen km übertrifft den der Erde ums 109-Fache. Ab 1838 gelang es, auch die verschiedenen Distanzen der Fixsterne, also anderer Sonnen, zu messen. Diese berücksichtigend, ließ sich aus deren scheinbarer Helligkeit am irdischen Himmel berechnen, wie viel Licht sie wirklich ins All strahlten. Die wahre Leuchtkraft erwies sich als höchst unterschiedlich.

Riesen und Zwerge

Aus den Spektren der fernen Sonnen las man die Oberflächentemperaturen ab. Das Bewegungsspiel von Doppelsternen gab deren Massen preis. Nun waren die wichtigsten Zustandsgrößen bekannt. Für die sogenannten "Hauptreihensterne", die das Gros aller Sonnen stellen, ergab sich eine verblüffend einfache Beziehung: Je mehr Masse, desto höher die Oberflächentemperatur und damit auch die Leuchtkraft. Die kühlen, rötlichen Hauptreihensterne waren arm an Masse und leuchteten vergleichsweise schwach. Ihre heißen, weißbläulichen Kollegen besaßen hingegen sehr viel Masse und fluteten den Raum geradezu mit Licht. Doch abseits dieser Norm existierten paradoxerweise auch rötliche, kühle Leuchtkraftprotze und weißbläuliche, heiße Leuchtkraftgnome. Derartige Extravaganzen ließen sich nur mit ungewöhnlich großen oder kleinen Sterndurchmessern erklären. Solche Ausreißer in puncto Leuchtkraft wurden "Rote Riesen" bzw. "Weiße Zwerge" getauft.

Größenvergleich: Ein Roter Zwerg, unsere Sonne und zwei Blaue Riesen.
© Grafik: ESO

In unserem Auge werden die Lichtstrahlen am Pupillenrand gebeugt. Das Abbild des aus unserer Entfernung praktisch punktförmig erscheinenden Fixsterns breitet sich somit über etliche Stäbchen- und Zapfenzellen aus. Im Teleskop entsteht diese Beugung am Objektivrand. Ein Stern ist auch darin kein ultrafeiner Punkt, sondern ein kleines Beugungsscheibchen. Es wird von konzentrischen, nach außen hin sehr rasch schwächer werdenden Beugungsringen umsäumt. Die Beugung überdeckt den eigentlichen Sterndurchmesser und setzt der teleskopischen Trennschärfe Grenzen.

Albert Abraham Michelson wurde einst nahe Posen geboren. 1890 ließ er, mittlerweile US-Bürger, das Licht nur durch zwei längliche Öffnungen am linken und rechten Rand ins abgedeckte Teleskop eindringen. Ein Interferenzmuster aus hellen und dunklen Streifen tauchte auf. Es verschwand, als der Abstand der Spalte in einem bestimmten Verhältnis zum Winkeldurchmesser der Lichtquelle stand. 1891 maß Michelson so die winzigen Winkeldurchmesser der vier größten, einst von Galilei entdeckten Jupitermonde. Dann baute er optische Entfernungsmesser für die Armee. 1907 erhielt er als erster US-Amerikaner den Physiknobelpreis.

Im Herbst ihres Lebens verlassen Sterne die Hauptreihe und blähen sich gewaltig auf. Das lässt ihr Antlitz abkühlen. Die Leuchtkraft pro Quadratkilometer sinkt daher. Doch die nun stark angewachsene Oberfläche macht diesen Verlust mehr als wett. Rote Riesen wie Beteigeuze (auch "Betelgeuse" genannt) fallen daher selbst noch aus weiter Distanz auf. Dieser Stern markiert die linke Schulter des Wintersternbilds Orion.

Beteigeuze mit Planetenorbits: An die Stelle unserer Sonne gesetzt, reichte Beteigeuze womöglich bis fast zur Jupiterbahn.
© ESO

1920 prognostizierte der englische Astronom Arthur Eddington: "Der Stern mit dem größten scheinbaren Durchmesser ist fast sicher Beteigeuze." Allerdings schien es praktisch unmöglich, die zur Bestimmung seines Winkeldurchmessers nötige, extrem feine Teleskopauflösung zu erzielen. Die kalifornische Mount-Wilson-Sternwarte wollte es trotzdem versuchen und lud Michelson ein. Doch für Beteigeuze war selbst das damals weltgrößte Teleskop (Durchmesser: 2,5 m) noch zu klein.

Periskop-Trick

Um die Standlinie zu erweitern, montierten Mitarbeiter einen Stahlträger rechtwinkelig vor dem Teleskop. Die beiden periskopähnlichen Geräte an dessen Enden spiegelten das Sternenlicht nun aus größerer seitlicher Distanz in Teleskop. In der Nacht des 13. Dezember 1920 lagen die äußeren Umlenkspiegel 303 cm voneinander entfernt. Jetzt sah der Astronom Francis Pease das Lichtstreifenmuster verschwinden. Aus dem gegenseitigen Abstand der "Periskopspiegel" errechnete man einen Winkeldurchmesser von mindestens 0,046 Bogensekunden: Beteigeuze erschien demnach so klitzeklein wie ein Apfel auf dem Münchner Viktualienmarkt - von Wien aus gesehen.

Damals nahm man für Beteigeuze eine Distanz von 180 Lichtjahren an und errechnete so einen Durchmesser von 380 Millionen km. Mittlerweile geht man von der drei- bis vierfachen Erdentfernung aus. Der äußerst massereiche Stern übertrifft unsere Sonne 760- bis 1.100-fach an Größe. Allerdings ist er weder kugelrund noch scharf umrissen. Vielmehr pulsiert er halbregelmäßig in mehreren Perioden und stößt Plasmawolken aus, die später zu dunklem Staub kondensieren. Entsprechend unstet ist seine Helligkeit: Im Oktober 2019 glänzte er noch kräftiger als der Stern Aldebaran im Stier. Dann verfolgten Sternfreunde mit freiem Auge mit, wie Beteigeuzes Glanz um ein Drittel einbrach. Im Februar 2020 glich er nur noch dem Stern Bellatrix an Orions rechter Schulter. Danach stieg seine Helligkeit wieder. In vielleicht hunderttausend Jahren geht dem Riesen der Brennstoff aus. Er sollte in dieser Phase kurz schwächeln, um anschließend als Supernova zu explodieren. Am irdischen Himmel strahlt er dann kurzzeitig so kraftvoll wie der Mond.

Der Rote Riese VY Canis Majoris im Großen Hund übertrifft unsere Sonne im Durchmesser wahrscheinlich sogar ums 1.400-Fache, der Stern Westerlund 1-26 vielleicht ums 2.000-Fache: An die Stelle der Sonne gerückt, reichte er bis zur fernen Saturnbahn. In einigen Milliarden Jahren wird sich auch unsere Sonne in einen Roten Riesen verwandeln. Sie wächst dann vermutlich bis zur heutigen Erdbahn. Der verhältnismäßig geringen Masse wegen bleibt ihr - anders als Beteigeuze - ein Ende als Supernova erspart. Die Sonne wird bloß ihre Gashülle abstoßen und so ihren Sternenkern freilegen. Die Kernfusion ist darin zum Erliegen gekommen. Weiße Zwerge sind solch funktionsuntüchtig gewordene, exponierte Reaktoren. Die anfangs extrem heißen Kugeln kühlen im Lauf von Jahrmilliarden aus. Sirius B, der unscheinbare Begleiter des aus unserer Perspektive allerhellsten Fixsterns, zählt zu diesen Knirpsen. Er vereint die heutige Masse unserer Sonne in sich - in einer Kugel von bloßer Erdgröße.

Neutronensterne sind ultrakompakte Reste von Supernova-Explosionen.
© Grafik: NASA

Neutronensterne sind noch winziger, etwa so wie eine Stadt. Sie bleiben von Riesen à la Beteigeuze übrig. Am Schauplatz der Supernova-Explosion wirbelt dann ein extrem dicht gepacktes, rasch rotierendes Objekt um die eigene Achse: kein funktionstüchtiger Stern, sondern eine "Sternleiche". Im Neutronenstern PSR B1257+12 drängen sich 1,4 Sonnenmassen zusammen, in einer Kugel mit fünf km Radius.

Möchtegern-Sterne

Kehren wir aber zu den Hauptreihensternen zurück. Mehr als 300 Sonnenmassen können sie wahrscheinlich nicht umfassen. Spitzenreiter sind Schwergewichte wie der bläuliche R136a1 in der Großen Magellanschen Wolke. Er ist 19 bis 35 Mal ausgedehnter als unsere Sonne und mit Sicherheit jünger als die Menschheit. Denn derart massenreiche Sterne verzehren sich allzu rasch. Oberflächentemperatur: 50.000° C. Auch der ganz leicht bläulich anmutende Rigel, der rechte Fußstern des Orion, ist ein heißer Gigant. Die drei Gürtelsterne der Orionfigur überragen unsere Sonne ebenfalls um ein Vielfaches an Größe.

Unsere Sonne gehört mit einer Oberflächentemperatur um 5.500° C zu den weniger heißen Hauptreihensternen. Sie gilt als "Gelber Zwerg". Astronomen ersannen diese Bezeichnung vorschnell. Denn später entpuppten sich die allermeisten Sonnen als noch viel schmächtiger: Diese leuchtschwachen Roten Zwerge bilden das untere, kühle Ende der Hauptreihe. Proxima Centauri ist ein solcher Dreikäsehoch, mit einem Achtel der Sonnenmasse und einem Siebentel ihres Durchmessers. Proximas Antlitz ist nur 2.800° C heiß. Der geringen Leuchtkraft wegen braucht es ein Fernrohr, um den Roten Zwerg zu erspähen - obwohl er uns doch näher steht als jeder andere Fixstern!

Besonders winzig ist der Zwergstern EBLM J0555-57Ab: Er besitzt ein Zwölftel der Sonnenmasse, den Radius des Planeten Saturn und damit bloß den neunfachen Erddurchmesser. Kleiner geht es bei funktionstüchtigen Sternen kaum: Denn unter einem Vierzehntel der Sonnenmasse lastet zu wenig Druck auf dem Kern eines Sterns. Die fundamentale Verschmelzung von Wasserstoff zu Helium startet bei solchen "Möchtegerns" nicht: Diese Braunen Zwerge scheitern gewissermaßen an sich selbst.

Christian Pinter, geboren 1959, schreibt seit 1991 über Astronomie und Raumfahrt im "extra". www.himmelszelt.at