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Tegel: Landeplatz für neue Ideen

Von Stefan May

Reflexionen
Grün und nachhaltig soll Berlin TXL, die künftige Smart City am Flughafengelände, werden.
© Stefan May

Auf dem Areal des stillgelegten Berliner Flughafens soll eine Stadt der Zukunft entstehen - nach Vorbild der Wiener Seestadt Aspern.


TXL - das war nicht nur bis zum 8. November 2020 der Code von Berlins traditionsreichem Flughafen im Stadtteil Tegel, es war auch die Linienbezeichnung des Autobusses, der von dort in die Innenstadt fuhr. Neben zwei anderen Buslinien, denn Tegel verfügte über keine Schienenanbindung.

Kaum war der neue Flughafen Berlin-Brandenburg südlich der deutschen Hauptstadt nach neunjähriger Verzögerung eröffnet, war auch das Ende für zwei der Busverbindungen zum Airport Tegel gekommen. Nur eine fährt noch vom Bahnhof Zoologischer Garten dorthin. Allerdings heißt der Endpunkt nun "Urban Tech Republic". Er greift weit in die Zukunft, der Name der aktuellen Endstation, denn die Planer rechnen mit einer Entwicklungszeit von 20 bis 30 Jahren.

Hier soll die Reise dereinst hingehen, in die Urban Tech Republic.
© Stefan May

Grau und einsam dösen die Landebahnen vor sich hin, das architektonisch geniale Oktogon des Empfangs- und Abfluggebäudes mit dem benachbarten Tower wirkt wie eine verlassene modernistische Kirche. Die Endstation des 109ers liegt nicht mehr daran angedockt, sondern vor einer gottverlassenen Seiteneinfahrt, an die Schrebergärten grenzen. Über sie donnern seit 8. November auch nicht mehr im Minutentakt bedrohliche Schatten werfende Flugzeuge hinweg. Es herrscht die Stille vom Ende der Welt.

Das wird nicht so bleiben, denn die etwas großspurige Zielanzeige im Bus ist Programm. Auf der Fläche des ehemaligen Flughafens soll in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ein völlig neuer Stadtteil entstehen, die Wiener Seestadt von Berlin sozusagen: Berlin TXL. Philipp Bouteiller, Geschäftsführer von Tegel Projekt, ist für sein Werden zuständig. Zwar zerdrückt er anstandshalber eine wehmütige Träne über den geschichtsträchtigen Airport in Innenstadtnähe, "weil sehr viele Menschen an dem Flughafen hingen", doch eigentlich freut er sich, dass er mit seinem Team nun endlich loslegen kann.

Wenige Tage, nachdem die letzte Maschine von Berlin-Tegel nach Paris gestartet war, joggte Bouteiller über die drei Kilometer lange Start- und Landebahn - siebenmal hin und zurück wäre bereits ein Marathon. Doch bis Mai dieses Jahres passiert hier erst einmal nichts, denn frühestens sechs Monate nach dem Ende des Flugbetriebs darf der Flughafen endgültig geschlossen werden. Es könnte sich noch ein Flieger von irgendwo hierher verirren...

Mit neun Jahren Verspätung wurde der neue Berliner Flughafen Ende Oktober 2020 eröffnet. Neun Jahre, in denen Bouteillers Team Zeit hatte zu planen: "Wir erwarten auch, dass sich die gründlichen Vorbereitungen auszahlen und wir jetzt in die Umsetzung eines Projektes gehen, das wirklich außergewöhnlich ist." Über die Verzögerung des Flughafenumzugs in Berlins Süden ist er gar nicht unglücklich, denn 2012 "hätten wir nur ein Stück Erde gehabt, ohne Planungsrecht".

So geht Bouteiller nun mit einem sehr ausgereiften Projekt an den Start. Vor einem Jahr, im Februar 2020, fand die letzte öffentliche sogenannte Standortkonferenz zur Zukunft von Tegel statt: In einem historischen Kühlhaus, wo früher einmal Butter gelagert wurde, eine typische Berliner Event-Location: Betonböden und -decken, angerostete Stahlträger, Ziegelwände - die Ästhetik industrieller Kargheit. Auf den Etagen, die ein Atrium einrahmen, waren Stände aufgebaut, an denen sich jene präsentierten, die in Tegel einziehen werden, etwa die Beuth-Hochschule für Technik. Auf einem Zukunftsbild am Stand ist eine Kletterwand am Tower zu sehen. Ein großes Gewächshaus soll im Innenhof des sechseckigen Abfluggebäudes stehen, wo bis vor wenigen Monaten noch die Taxis vorfuhren. Die Studierenden werden sich dort Gedanken machen, welche Pflanzen und welche Pflege in der Stadt der Zukunft notwendig sein werden. 5.000 Studentinnen und Studenten erwartet der Campus Tegel.

Präsentation des neuen Tegel-Projekts in einem ehemaligen Kühlhaus in Berlin (noch vor Corona).
© Stefan May

Grüne & blaue Dächer

Urban Gardening wird in der Hochschularbeit eine Rolle spielen sowie die Wechselwirkung zwischen Schatten und Stadt in Zeiten des Klimawandels. Es wird um verschiedene Texturen und Materialien im öffentlichen Raum gehen - und darum, welche positiven Effekte sich durch Landschaftsarchitektur im Stadtraum gewinnen lassen.

Regenwasser soll künftig nicht mehr über die Kanalisation abgeleitet, sondern am Ort des Niederschlags gehalten werden. In Tegel und den angrenzenden Wohngebieten werden Schwammstadtattribute wie Gründächer und Mulden-Rigolen-Systeme entstehen. Dabei handelt es sich um das wiederentdeckte System von Straßengräben, in denen das Regenwasser in bepflanzten Gebieten zum Teil versickert und das Grundwasser anreichern kann, vor allem aber Verdunstungskühle erzeugt.

Zum Gründach gesellt sich das grün-blaue Dach: Das hat unter dem Pflanzenteppich eine Speicherkonstruktion, die volllaufen kann, wenn das Grün darüber bereits vom Niederschlag gesättigt ist. Bei Trockenheit kann es wieder Flüssigkeit abgeben. Damit wird auch die Kanalisation entlastet, die nach Gewittern oft überläuft.

Wasser als Energiespender: Das wird Green Energy umsetzen, ein Joint Venture aus Berliner Stadtwerken und dem Energieerzeuger Eon, das bei der Präsentation ebenfalls einen Stand im Fabriksbau hatte. Green Energy hat die Ausschreibung zur Wärme- und Kälteversorgung der Zukunftsstadt gewonnen. Es handelt sich dabei um ein Niedertemperatur-Wärmenetz, genannt Low-Ex-Netz, das im Sommer mit 40 und im Winter mit 20 Grad betrieben wird. Laut Green Energy handelt es sich dabei um das derzeit größte Rohrleitungsprojekt dieser Art in Europa.

Im Sommer sorgt ein Wärmetauscher wie im Kühlschrank für die Kälteversorgung. Eine weitere Besonderheit ist, dass es sich um ein sogenanntes Prosumernetz handelt. Das heißt, Energie wird nicht nur wie in einer Einbahnstraße verteilt, sondern fließt auch ins Netz, zum Beispiel wird Abwärme von Industrie und Gewerbe aufgenommen und wieder abgegeben. Das intelligente Rohrleitungssystem fungiert gleichsam als Tauschplatz, als Energie-Börse, und leistet somit weit mehr als ein Fernwärmenetz.

Grün und nachhaltig soll Berlin TXL also werden: ohne Straßenverkehr, dafür mit Flaniermeilen und Radschnellwegen. Die Stadt der Zukunft wird auch einen Schienenanschluss erhalten. Überlegt wird ein fahrerloser Straßenbahnbetrieb, zumindest in Abschnitten. Geplant ist auch ein Umspannwerk nach neuesten Standards. Es wird eine Menge auszuleuchten geben. Denn das gesamte Areal umfasst eine Fläche von fünf Quadratkilometern. Davon bleibt etwa die Hälfte Frei- und Naturraum, 80 Hektar sind für Industrie reserviert, der Rest für Forschung und Gewerbe.

Konkurrent Siemens

Die Berliner Wirtschaft ortet zurzeit großen Bedarf, denn Flächen beginnen in der Stadt knapp zu werden. Man wird sich in Tegel dennoch ordentlich ins Zeug legen müssen, denn nicht weit entfernt, im Stadtteil Siemensstadt, möchte der Siemenskonzern an seine Berliner Vorkriegstradition anknüpfen und schon ab 2022 um 600 Millionen Euro einen privaten Innovationspark schaffen, ganz so wie in Tegel.

Hier werden aber erst einmal öffentliche Einrichtungen die Zugpferde in der Stadt der Zukunft sein. Etwa die Berliner Feuerwehr, die ihre Feuerwehr- und Rettungsdienstakademie in Tegel unterbringen möchte. Sie hat dafür schon geeignete Gebäude im Auge, nämlich die Hangars, die sich aufgrund ihrer Architektur zur witterungsgeschützten Schulung eignen. In der Feuerwehrakademie sollen künftig auch Notfallsanitäter ausgebildet werden. Anders als in Österreich wird in Deutschland bei Krankheits- oder Unfällen nicht die Rettung, sondern die Feuerwehr gerufen, die über Notärztinnen und Sanitäter verfügt.

Noch bevor aber heuer die Um- und Neubauarbeiten in Berlin TXL beginnen, wird für kurze Zeit die Kunst einziehen, mit der dritten Ausgabe des Klangkunstfestivals Sonambiente. Das "Festival für Hören und Sehen" will für kurze Zeit Ausstellungen und Live-Veranstaltungen bieten. Solch spezielle Orte des Übergangs, die für das Festival typisch sind, finden sich selbst in Berlin nur noch selten.

Neues Wohnquartier

Berlin TXL wird aber nicht nur aus seinem Labor der Zukunft bestehen, der Urban Tech Republic, wie sich die Smart City nennt, sondern auch aus einem neuen Wohnviertel für 10.000 Menschen, dem Schumacher-Quartier. Als Wohnadresse mit 700.000 Quadratmetern Brutto-Geschoßfläche soll es ein soziales und ökologisches Berliner Modellviertel am Ende der heutigen Lande- und Startbahnen werden. Die 5.000 Wohnungen werden einen Sozialwohnungsanteil von 40 Prozent aufweisen.

Auf den ehemaligen Flugfeldern herrscht zurzeit noch die Stille vom Ende der Welt . . .
© Stefan May

Derzeit würden sich die Anfragen für Berlin TXL häufen, sagt Philipp Bouteiller. Sie kämen von unterschiedlichsten Firmen aus dem Bereich der urbanen Technologie: Energie, Mobilität, IT. Die Seestadt Aspern habe man schon früh konsultiert. "Was sie dort wirklich ganz toll gemacht haben: Ein Bewusstsein für Erdgeschoßzonen zu schaffen, um eine lebendige Stadt zu bekommen." Diesen Gedanken habe man für Berlin übernommen. In Teilaspekten sei die Seestadt durchaus ein Vorbild für Tegel, räumt Bouteiller ein.

Die Veränderungen durch die Corona-Pandemie, insbesondere das Arbeiten von daheim aus, sind in die Planungen eingeflossen: Es soll ein Quartier der kurzen Wege werden, denn der Mobilitätsbedarf sinkt: "Das ist genau das, was wir in den Städten erreichen wollen." Eine totale Abkehr von der Philosophie der 50er und späterer Jahre, als die einzelnen Funktionen auseinandergerissen und Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Freizeit an einzelnen Orten der Stadt zentralisiert wurden.

Der neue Stadtteil wird sich zu seiner Vergangenheit bekennen, nicht nur, weil die Flughafenbauten aus den 70er Jahren unter Denkmalschutz stehen. "Wir haben dieses sehr markante Gebäude immer auch als einen Kristallisationskern empfunden. Jede neue Geschichte braucht eine Verwurzelung in der alten, damit Kontinuität entsteht", sagt Philipp Bouteiller. Auch die nördliche Startbahn wird erhalten bleiben: "Im Schumacher-Viertel über fünf Kilometer freie Fläche und den Wald dahinter in die untergehende Sonne gucken, darauf freue ich mich schon!"

Stefan May, geboren 1961, lebt als Jurist, Journalist und Autor in Berlin und Wien.