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Gänsehautmoment des Protests

Von Solmaz Khorsand

Reflexionen

Pathos hat das Potenzial, Machtverhältnisse, Normen und Werte neu zu verhandeln. Darum kommt es als Geste, Ritual und Symbol so gerne und oft zum Einsatz.


Pathos kann Berge versetzen. Kleine wie große. Aristoteles wollte, dass es das Publikum in der antiken Tragödie dermaßen bewegt, dass es sich selbst reflektiert, sein Leben abklopft, um dann ethischer, von allen Affekten gereinigt, seines Weges zu gehen. Aufrütteln soll das Pathos. Den Status quo umkrempeln. Nicht umsonst wird es immer dann eingesetzt, wenn dieser in Frage gestellt wird. Pathos bedeutet Veränderung. Nicht Stillstand. Das ist seine größte Wirksamkeit. Und die wissen auch jene zu nutzen, denen in der Regel die Macht fehlt, an diesem Status quo zu rütteln.

Als nach einem Amoklauf in Parkland, Florida im Februar 2018 ein 19-Jähriger in seiner ehemaligen High School 14 Schüler und drei Erwachsene erschoss, stand das Land unter Schock. Wie so oft nach einem Schulmassaker in den USA. Das Pathos des Amokläufers, das sich mörderisch entladen hatte, verfehlte nicht seine Wirkung. Der Ist-Zustand war für einen Moment aus den Angeln gehoben. Wie so oft. Doch dieses Mal dauerte dieser Moment ein Weilchen länger. Der Grund: Die Überlebenden ließen ihn nicht verstreichen. Sie antworteten mit ihrem Pathos.

Dem Pathos auf der Spur: Autorin & Journalistin Solmaz Khorsand
© © Luiza Puiu

Wenn der Präsident nur seine Gedanken und Gebete aufzubieten habe, dann liege es "an uns, den Opfern", für den Wandel zu sorgen, brüllte Emma González wie ein verwundetes Tier in das Mikrophon auf dem Podium einer Kundgebung wenige Tage nach dem Amoklauf. Die Schülerin und Überlebende des Massakers forderte unter Tränen eine Verschärfung der Waffengesetze und machte sich einen mächtigen Feind: die amerikanische Waffenlobby, die NRA. "Wenn der Präsident mir ins Gesicht sagt, dass das eine schreckliche Tragödie war (...) und dass man nichts tun kann, frage ich ihn, wie viel Geld er von der National Rifle Association bekommen hat. (...) Ich weiß es: 30 Millionen Dollar!" Jeder Politiker, der sich von der NRA sponsern lässt, solle sich schämen. "Shame on you!", brüllte González vom Podium.

Das Publikum stimmte mit ein. Und hatte in diesem Moment seine Ikone. Das Mädchen mit dem kahlgeschorenen Kopf und der Wut im Bauch wurde zum Gesicht einer Generation, die es satt hatte, ihr Leben zu riskieren, wenn sie zur Schule geht, nur weil sich Erwachsene beharrlich weigerten, Gesetze zu ihrem Schutz zu verabschieden. "The School Shooting Generation Has Had Enough", titelte das "Time Magazine" und dokumentierte, wie es ein paar trauernden Teenagern gelang, die Politik dazu zu bewegen, Waffengesetze zu verschärfen, die seit Jahrzehnten niemand anzufassen wagte.

Innerhalb von einem Monat wurden diese Jugendlichen zur mächtigsten Waffenreformbewegung, die das Land in zwei Jahrzehnten erlebt hatte. Weder die NRA noch die republikanische Partei, deren Vertreter sich oftmals als die obersten Hüter des zweiten Zusatzartikels der Verfassung präsentierten und sich damit gegen jegliche Einschränkung von Waffenbesitz stellen, trauten sich in diesen Ring zu steigen, in dem ihre Gegner Kinder waren - und noch dazu Opfer eines Schulmassakers. Das war kein Match, das sie gewinnen konnten. Das zeigten bereits die Umfragewerte. Nur 37 Prozent der Amerikaner hatte zu diesem Zeitpunkt ein positives Bild von der NRA. Das war der niedrigste Wert, den die Organisation seit 2000 verzeichnet hatte. Partner distanzierten sich plötzlich von der Waffenlobby. Firmen wie Delta Airlines oder Hertz kündigten ihre Zusammenarbeit mit der NRA. Emma González’ Beschämungstaktik hatte gefruchtet.

Und im März 2018 passierte das Unfassbare: Florida verschärfte seine Waffengesetze. Verboten wurden Schnellfeuerkolben für halbautomatische Waffen, jene Aufsätze, wodurch sie so schnell schießen können wie Maschinengewehre. Ebenso wurde das Mindestalter für den Erwerb von Waffen von 18 auf 21 Jahre angehoben. Außerdem müssen Käufer in Zukunft drei Tage warten, bis ihnen die Waffe ausgehändigt wird, damit in dieser Zeit Backgroundchecks gemacht werden können. An Personen, die als psychisch krank diagnostiziert wurden, durften von nun an keine Waffen verkauft werden.

González und ihre Mitstreiter hatten sich mehr erhofft. Dennoch. Es war ein erster Schritt. Etwas hatte sich bewegt, und dieses Etwas war mehr als nach jedem Massaker zuvor. "Die sozialen Medien waren unsere Waffe", erklärte González’ Schulkollegin Jaclyn Corin im Interview mit dem "Time Magazine". Ohne die sozialen Medien hätte die Bewegung nie so schnell an Fahrt aufgenommen, wäre so schnell gewachsen, hätte so viele erreicht. Jeder konnte González’ Rede nachsehen. Ihr zuhören, wie sie beim landesweiten Schulstreik, dem sich knapp eine Million junger Menschen angeschlossen hatten, in Washington vor die Masse trat. Genau 6 Minuten und 20 Sekunden stand sie dort auf der Bühne. Die meiste Zeit schweigend, bis ein Wecker läutete und sie ihre Stille aufklärte: 6 Minuten und 20 Sekunden, so lange hatte der Amokläufer benötigt, um 17 Menschen zu ermorden.

Simple Geste

Ein Gänsehautmoment. Protest lebt von solchen Momenten. Protest lebt von Pathos. Von pathetisch aufgeladenen Gesten, Ritualen, Symbolen und Hashtags. Wenn es zum richtigen Zeitpunkt das richtige Publikum affiziert, löst es mehr aus als nur Gänsehaut. Dann beginnt die Veränderung. Das hat die Vergangenheit immer wieder gezeigt. Eine geballte Faust, ein gestreckter Arm, ein knieender Körper, ein schweigender Marsch, eine unter Tränen erstickte Stimme. Das bleibt im Gedächtnis. Oftmals mehr als die Sache selbst.

Die breite Masse weiß kaum etwas über das politische Engagement der afroamerikanischen Schneiderin Rosa Parks. Aber alle wissen, wie sie die Schwarze Bürgerrechtsbewegung mit einer scheinbar simplen Geste befeuert hat, als sie sich am 1. Dezember 1955 weigerte, ihren Sitzplatz in einem Bus in Montgomery, Alabama für einen weißen Fahrgast zu räumen. Oder etwa die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg. Alle kennen das blonde Mädchen mit den geflochtenen Zöpfen, wie es jeden Freitag mit seinem Schild in Stockholm vor dem schwedischen Parlament für ein Umdenken in der Klimapolitik streikte. Ihre konkreten Inhalte kann kaum einer wiedergeben, das Gros kennt bestenfalls Thunbergs schmerzverzerrtes Gesicht, wenn sie auf Podien die Staatsmänner dieser Welt beschämt, sie voll Wut zitternd anklagt, wie sie es wagen können, ihr die Kindheit und die Träume zu rauben, statt zu handeln.

Tausende hat die Jugendliche damit inspiriert. Und es geschafft, was vor ihr keiner Wissenschafterin und keinem Nobelpreisträger mit Power-Point-Präsentation gelungen ist: die Klimaproblematik ganz vorne auf die politische Agenda zu bringen, gar nationale Wahlkämpfe zu beeinflussen.

Pathos hat das Potenzial, Machtverhältnisse, Normen und Werte neu zu verhandeln. Egal aus welcher Ecke. Auch eine Demonstration rechtsextremer Hipster tritt pathetisch auf, ein Aufruf von Wissenschaftsleugnern mit Alu-Hüten, ein Fackelzug zum Grabmal eines Kriegsverbrechers, eine blaue Kornblume am Revers.

Pathos per se kennt keine Ideologie. Es ist weder schön noch hässlich. Sauber oder dreckig. Alle können pathetisch sein. Ohne Zugangsbeschränkungen. Dem Pathos wohnt ein egalitärer demokratischer Zauber inne, wenn man so will. Um für eine Bewegung zu taugen, muss es nur von einer relativen Mehrheit als würdevoll und authentisch empfunden werden, erklärt Kommunikationswissenschafter Armin Scholl, der am Institut für Protest und Bewegungsforschung arbeitet.

"Letzten Endes ist es schon eine im kommunikativen Prozess hergestellte Zuschreibung, ob man Pathos würdevoll, lächerlich oder anmaßend findet", sagt er. Doch solange das Pathos als "echt" wahrgenommen wird - und sei das nur innerhalb einer Gruppe -, dann wirkt es, egal ob es tatsächlich echt ist oder bloß sehr gut inszeniert.

Stoppschild

In der Psychoanalyse wird das Pathos als Lösungsansatz für einen Missstand interpretiert, erklärt die Psychoanalytikerin Ulrike Kadi. Allein der Hysterikerin ist es etwa zu verdanken, dass es die Psychoanalyse in den medizinischen Diskurs geschafft hat. Wären im 19. Jahrhundert nicht so viele Frauen plötzlich aus unerfindlichen Gründen ohnmächtig geworden und hätten anfallsartig gezuckt, ohne körperliche Beschwerden zu haben, wäre die Wissenschaft damals nie auf die Idee gekommen, Geist und Körper als Einheit zu betrachten.

Pathos dient als Stoppschild, gar als Korrektiv für all jene, die sich dem Lauf der Dinge entgegenstellen, weil sie nicht länger mitkönnen oder mitwollen. Es sorgt nicht nur für Aufmerksamkeit, wie etwa die Hysterikerin, die möchte, dass man sie ansieht, dass man erstaunt ihren Zuckungen und ihrer Ohnmacht folgt, sondern es dient auch dazu, einen Bezugsrahmen zu schaffen, in dem andere in die Pflicht genommen werden zu reagieren.

Wenn Kinder etwa erst zu weinen beginnen, wenn sie wissen, dass die Eltern sie beobachten, und es seltsamerweise nicht tun, wenn sie unbeobachtet sind, dann hat das Pathos eine konkrete Funktion. Es ist der Versuch, eine Beziehung aufzurufen. "Diese Symptome sind nicht so sehr Krankheitszeichen als Lösungsversuche", erklärt Kadi. "Selbst das theatralische Symptom hat die Aufgabe, Konflikte zu lösen."

Dieser Text ist ein Auszug aus dem am 22. Februar erscheinenden Buch "Pathos", in dem die - einige Jahre für die "Wiener Zeitung" und nun für das Schweizer Magazin "Republik" tätige - Journalistin Solmaz Khorsand Pathos als Machtinstrument und als Nährboden für Veränderung in allen
politischen und emotionalen Spielarten zeigt und analysiert. (Verlag Kremayr & Scheriau, 128 Seiten, 18.- Euro)