Zum Hauptinhalt springen

Das Ende des Verbrechens?

Von Adrian Lobe

Reflexionen
Auf den ersten Blick scheint die Verbreitung von Tracking-Technologien die digitale Spurensuche zu erleichtern . . .
© Getty Images / Leo Patrizi

Von jeher streiten Philosophen über die Frage, ob es so etwas wie das perfekte Verbrechen geben kann. Das Internet der Dinge verändert die Prämissen dieses Ideenstreits nun grundlegend.


In Friedrich Dürrenmatts Roman "Der Richter und sein Henker" gibt es einen denkwürdigen Dialog zwischen dem Berner Kommissär Hans Bärlach und seinem Widersacher Gastmann, der einen bankrotten deutschen Kaufmann auf dem Gewissen hat. Im Zigarettennebel einer Schenke in Tophane hatten die beiden vor 40 Jahren eine Wette abgeschlossen. Gastmann behauptete kühn, in der Gegenwart Bärlachs ein Verbrechen begehen zu können, ohne dass dieser es beweisen könnte. Er stellte die These auf, dass die "Verworrenheit der menschlichen Beziehungen" es möglich mache, "Verbrechen zu begehen, die nicht erkannt werden könnten".

Detektiv Smartphone

Bärlach hielt dagegen, dass "die menschliche Unvollkommenheit, die Tatsache, dass wir die Handlungsweise anderer nie mit Sicherheit vorauszusagen vermögen", und der Zufall der Grund seien, dass die meisten Verbrechen zutagetreten. Ein Verbrechen zu begehen sei eine "Dummheit", weil es unmöglich sei, "mit Menschen wie mit Schachfiguren zu operieren".

Seit jeher streiten Philosophen über die Frage, ob es das perfekte Verbrechen gibt. Während die einen schon die erkenntnistheoretischen Bedingungen eines Verbrechens und dessen Beweisbarkeit bzw. Erkennbarkeit in Frage stellen, behaupten die anderen, dass das perfekte Verbrechen schon deshalb eine Fiktion sei, weil sich die Perfektion eines Verbrechens bloß der Unzulänglichkeit der Ermittlungen verdanke. Die Ermittler machen Fehler, übersehen Spuren oder werden auf eine falsche Fährte gelockt. Ein Verbrechen zu begehen, ohne Spuren zu hinterlassen, sei quasi unmöglich. Durch den technischen Fortschritt - Stichwort Internet - verändern sich jedoch die Prämissen dieser Überlegungen.

Plötzlich laufen Milliarden Menschen mit Smartphones herum, also mit digitalen Detektiven, die mit Kameras, Mikrofon und Sensoren ausgestattet sind und den Träger auf Schritt und Tritt verfolgen. Beschleunigungssensoren erkennen, ob man gerade zu Fuß oder mit dem Auto unterwegs ist, Bewegungssensoren erfassen, wie viele Schritte und Stufen man am Tag zurückgelegt hat. Wohnort, Arbeit, Kontakte, intime Geheimnisse - das Smartphone weiß alles. Aus den Standortdaten lassen sich detaillierte Bewegungsprofile erstellen. Wenn man weiß, dass sich die GPS-Daten zwischen 23 Uhr und 7 Uhr nicht verändert haben, kann man mit großer Wahrscheinlichkeit auf den Übernachtungsort schließen. Gadgets wie die Apple Watch verfügen über Sensoren, die sogar den Blutsauerstoff und die Herzfrequenz messen. In jedem dritten US-Haushalt steht mittlerweile ein Smart Speaker wie Amazon Echo, der "private" Gespräche aufzeichnet und in die Cloud sendet.

Wenn Lautsprecher mithören.
© Mack Male from Edmonton, AB, Canada, CC BY-SA 2.0

Smart Meter, intelligente Messsysteme, erheben nicht nur Verbrauchsdaten, sondern erstellen auch detaillierte Nutzungsprofile. Aus den Daten kann man ablesen, wann jemand die Mikrowelle einschaltet und sogar, welches TV-Programm er zum Zeitpunkt X geschaut hat. Die digitalen Speichertechnologien bergen einen kriminalistischen Datenschatz. Mark Stokes, Chef der digitalen und cyberforensischen Einheit der Londoner Metropolitan Police, frohlockte: "Der Tatort von morgen wird das Internet der Dinge sein." Auf den ersten Blick scheint die Verbreitung von Tracking-Technologien die digitale Spurensuche zu erleichtern. IT-Forensiker haben in der Vergangenheit auf alle möglichen Geräte zugegriffen, um Verbrechen aufzuklären: Smartphones, Smart Speaker, Smart Meter, Suchmaschinen, Fitnesstracker, Unfalldatenspeicher.

Hacker im Herzen

Sogar smarte Herzschrittmacher wurden schon durchsucht. Zum Teil mit Erfolg. So konnte in den USA ein Versicherungsbetrüger und Brandstifter anhand seiner Herzfrequenzdaten überführt werden. Auf den ersten Blick würde man sagen: Vorteil Ermittler. Auf der anderen Seite bieten digitale Technologien wie das Internet aber auch ein ideales Betätigungsfeld für Kriminelle. Durch Anonymisierungstools wie Tor lassen sich im Darknet, einer digitalen Unterwelt, unerkannt Waffen oder Drogen handeln, ohne Spuren zu hinterlassen. Seit einiger Zeit geistert bei Sicherheitsbehörden auch die Angst vor einem "Online-Mord": Hacker könnten durch das Einschleusen einer Schadsoftware medizinische Geräte wie Insulinpumpen oder smarte Herzschrittmacher kompromittieren und so den Tod von Patienten herbeiführen. Die letale Information käme durch die Datenleitung.

Womöglich würde nicht einmal jemand Verdacht schöpfen; man würde dies als tragischen Unfall durch einen technischen Defekt verbuchen. Ein Horrorszenario. Der frühere US-Vizepräsident Dick Cheney ließ sich von seinem Kardiologen sogar prophylaktisch seinen Herzschrittmacher deaktivieren - aus Angst, Terroristen könnten diesen hacken. Man mag das für paranoid halten. Doch je technisierter und vernetzter unser Alltag ist, desto mehr Einfallstore gibt es für Hacker.

Katz-und-Maus-Spiel

"Das perfekte Verbrechen", schreibt der Soziologe Jean Baudrillard in seinem gleichnamigen Werk aus dem Jahr 1995, "ist das einer uneingeschränkten Realisation der Welt durch Aktualisierung aller Daten, durch Transformation all unserer Handlungen, aller Ereignisse in reine Information - kurz: die Endlösung, die vorzeitige Auflösung der Welt durch Klonung der Realität und Vernichtung des Realen durch sein Double."

Auch im digitalen Zeitalter ist die Verbrecherjagd ein Katz-und-Maus-Spiel. Auf der ganzen Welt setzen Polizeibehörden intelligente Computerprogramme ein (predictive policing), die aus historischen Daten eine Wahrscheinlichkeit für Delikte in der Zukunft errechnen. Das Ziel: Verbrechen verhindern, bevor sie ausgeübt werden. Mit "Minority Report" hat das wenig zu tun, dafür sehr viel mit Statistik. Die mathematischen Modelle beruhen auf der - wissenschaftlich nicht ganz unumstrittenen - Broken-Windows-Theorie, der zufolge ein nicht instandgesetztes Fenster automatisch die Zerstörung weiterer Fenster nach sich zieht. Der Grund: Ein zerborstenes Fensterglas signalisiert eine fehlende oder unzureichende Raumkontrolle sowie ein geringes Entdeckungsrisiko, potenzielle Nachahmer brauchen sich keine Sorgen zu machen, erwischt zu werden.

Das System fußt auf der Annahme, dass Verbrechen wiederkehrenden Mustern folgen. Die Software der US-Firma PredPol etwa nutzt einen Algorithmus, der aus der Erdbebenvorhersage stammt. Für PredPol ist das Verbrechen ein "physikalischer Prozess", der sich wie Wellen im Raum berechnen lässt. Doch die deterministischen Modelle versuchen ja genau das Element zu eliminieren, das Verbrecher enttarnt: den Zufall. Das heißt, eine Polizeistreife, die in ein Quartier ausrückt, wo die Software eine hohe Einbruchswahrscheinlichkeit errechnet hat, entdeckt weniger zufällig Regelverletzungen. Und das könnte Kriminellen in die Hände spielen. Neben dieser Präventionsstrategie wird in der Kriminalistik ein viel weitergehender Präemptionsansatz diskutiert: die Verunmöglichung von Verbrechen.

Mit technischen Vorrichtungen wie einer Alkohol-Wegfahrsperre könnten Straftaten schon im Ansatz unterbunden werden. Bevor der Fahrer die Zündung aktivieren kann, muss er einen Alkoholtest durchführen. Wenn der elek-trochemische Sensor Alkoholgehalt in der Atemluft registriert, startet der Motor erst gar nicht. Gesetzt den Fall, die Technik funktioniert und ließe sich nicht manipulieren, würde das Delikt der Trunkenheit im Verkehr im Vorfeld unmöglich gemacht. Der objektive Tatbestand, im Verkehr ein Fahrzeug unter Alkohol- oder Drogeneinfluss zu führen, wäre faktisch nicht erfüllbar. Man kann schon gar nicht mehr gegen die Norm verstoßen. Der amerikanische Rechtsprofessor Michael L. Rich nannte das 2012 in einem Gastbeitrag in der "New York Times" das "perfekte Nichtverbrechen": den Leuten die Freiheit zu nehmen, eine Straftat zu begehen.

Kameras sind allgegenwärtig, aber verhindern sie auch Delikte?
© Lianhao Qu

Schon in den Anfängen der Fotografie glaubte man, die Technologie könnte das Ende des Verbrechens einläuten. Wenn jeder Bürger einen Fotoapparat in der Tasche hat, würde das so abschreckend wirken, dass sich kein Missetäter mehr irgendetwas trauen würde. Würde dieses Theorem stimmen, müssten wir aber heute, wo jeder mit einer hochauflösenden Smartphone-Kamera herumläuft, in einer gewaltfreien Welt leben. In einem Überwachungsstaat wie China, wo 600 Millionen Videokameras installiert sind, dürfte es gar keine Kriminalität mehr geben, was sich empirisch nicht belegen lässt. Zu glauben, man könne "das" Verbrechen qua Technik abschaffen, ist eine Illusion. Denn das, was ein Verbrechen ausmacht, was legal oder illegal ist, ist am Ende eine soziale Konstruktion.

Für den Soziologen Émile Durkheim war das Verbrechen "normal" - es gehört zu einer modernen Gesellschaft dazu. In seinem Werk "Regeln der soziologischen Methode" (Erstveröffentlichung 1895) entwickelt er ein interessantes Gedankenexperiment: "Man stelle sich eine Gesellschaft von Heiligen, ein vollkommenes und musterhaftes Kloster vor. Verbrechen im eigentlichen Sinne des Wortes werden hier freilich unbekannt sein; dagegen werden dem Durchschnittsmenschen verzeihlich erscheinende Vergehen dasselbe Ärgernis erregen wie sonst gewöhnliche Verbrechen in einem gewöhnlichen Gewissen."

Systemstabilisierung

Will heißen: Moral und Verbrechen sind relativ. Was der Rechtsgemeinschaft eine lässliche Sünde ist, ist der Klostergemeinschaft ein Vergehen. Anders gewendet: Auch in der sehr strengen, von Riten und Frömmigkeit geprägten Gesellschaft von Mönchen wird es immer noch Abweichungen und deviantes Verhalten geben. Moralische Vergehen stiften in gewisser Weise sogar Nutzen für die Rechtsgemeinschaft, weil es ihr erlaubt, sich ihrer gemeinsamen Werte zu versichern. "Das Verbrechen", schreibt Durkheim, "ist also eine notwendige Erscheinung; es ist mit den Grundbedingungen eines jeden sozialen Lebens verbunden und damit zugleich nützlich."

Der Ideenstreit über die Frage, ob es ein perfektes Verbrechen geben kann, geht daher am Problem vorbei. Denn ein Verbrechen ist nach Durkheim immer imperfekt, weil es seine Ahndung immer perfekter macht. Es mag paradox klingen, aber selbst ein unaufgeklärter Mord wirkt am Ende systemstabilisierend auf das Rechtssystem.

Adrian Lobe, geboren 1988 in Stuttgart, studierte Politik- und
Rechtswissenschaft und schreibt als freier Journalist für diverse
Medien im deutschsprachigen Raum.