Zum Hauptinhalt springen

Die Entzauberung einer Straße

Von Peter Payer

Reflexionen
Die Praterstraße im Festschmuck, um 1900 (in der linken Bildhälfte der Alliiertenhof, davor die Ständeruhr, im Hintergrund die Nepomukkirche).
© Sammlung Peter Payer

Die Wiener Praterstraße war eine prächtige Avenue. Durch Nazi-Gräuel ruiniert und heute wiederbelebt, ist sie von ihrer Blüte nach wie vor weit entfernt.


"Die Leopoldstadt war zu jener Zeit noch ein vornehmes und angesehenes Viertel, und insbesondere ihre Hauptstraße, in der auch das Carltheater stand, wußte etwas von ihrem Glanz auch über die spärlichen Stunden hinaus zu bewahren, da in Equipagen und Fiakern, die große, die elegante, die leichtlebige Welt von den Pferderennen oder von Blumenfesten aus der ‚Hauptallee‘ zurückgesaust kam."

In Arthur Schnitzlers Erinnerungen nahm die Praterstraße stets einen besonderen Stellenwert ein. Im Haus Nr. 16 wurde er geboren, im Jahr 1862, als die Straße noch Jägerzeile hieß. Noch im selben Jahr erhielt sie ihren heutigen Namen, der Aufstieg zur großstädtischen Avenue begann. Schon bald galt sie als eine der schönsten und vornehmsten Straßen Wiens. Nur die Ringstraße sollte sie später an Glanz übertreffen. Und wie die Ringstraße erlebte auch die Praterstraße durch den Nationalsozialismus einen radikalen Bruch in ihrer Entwicklung. Ihre alte Pracht ist dennoch bis heute spürbar. Nach wie vor einzigartig ist der Blick stadteinwärts - mitten in das Herz von Wien, direkt auf den Stephansdom zu.

Öffnung des Praters

Ihre herausragende Stellung verdankt die schnurgerade Straße ebendieser topografischen Lage. Als zentrale Achse zwischen Donau, kaiserlichem Prater und Innenstadt stellte sie ein wichtiges Bindeglied zwischen Stadt und Umland dar. Mit der allgemeinen Öffnung des Praters durch Kaiser Josef II. im Jahr 1766 setzte ein erster Aufschwung ein, Gaststätten und Vergnügungslokale entstanden, die Vorstadt ringsum verdichtete sich. 1781 öffnete das Leopoldstädter Theater seine Pforten, alsbald eine der wichtigsten Wiener Volksbühnen. Der 1838 in Betrieb genommene Nordbahnhof brachte einen weiteren Impuls. Die Verkehrsfunktion der Straße gewann an Bedeutung, ebenso die soziale Prägung als bevorzugtes Wohngebiet für jüdische Zuwanderer. Letzteres führte 1858 zur Eröffnung des in einer Seitengasse gelegenen Leopoldstädter Tempels. Hier entstand nach Plänen Ludwig Försters die größte Synagoge Österreichs. Ein imposanter Gebäudekomplex, der sich neben dem religiösen auch zum wichtigen kulturellen und wissenschaftlichen Zentrum entwickelte.

Das katholische Pendant war bereits eineinhalb Jahrzehnte zuvor in Gestalt der Nepomukkirche errichtet worden, ebenfalls ein beeindruckender Bau, direkt an der Hauptstraße gelegen. Vergleicht man die Lage beider Gotteshäuser, wird deutlich, wie sehr die jüdische Gemeinde um Sichtbarkeit rang. Obwohl mittlerweile offiziell anerkannt, musste sie sich nach wie vor mit einem Standort in der kurzen und schmalen Tempelgasse begnügen. Dessen ungeachtet, war das jüdische Leben längst zur bestimmenden Leitkultur entlang der Straße geworden.

Um den Aufschwung zu festigen, fehlte allerdings noch eine wesentliche infrastrukturelle Voraussetzung. Denn über Jahrhunderte war die alte Jägerzeile ein gefährliches Terrain gewesen, regelmäßig heimgesucht von Hochwassern und dem damit verbundenen Ausbruch von Seuchen. Erst die 1870 in Angriff genommene große Donauregulierung brachte die nötige Sicherheit und Stabilität für die Weiterentwicklung der Straße. Sie erhielt eine zeitgemäße Verkehrsinfrastruktur, ihr Untergrund wurde befestigt und mit widerstandfähigem Granitpflaster versehen. Schon ab 1868 bestand eine stark frequentierte Pferdestraßenbahn, ab 1901 fuhr man elektrisch. Am Praterstern wurde 1886 das Tegetthoff-Denkmal eingeweiht als markantes, weithin sichtbares metropolitanes Signet. Die Straßenbeleuchtung wurde sukzessive verbessert, die zahlreichen Gaskandelaber wurden durch repräsentative Bogenlampen ersetzt. Modernes Stadtmobiliar hielt Einzug auf den breiten Gehwegen, von Litfaßsäulen über Poller und Hydranten bis zu Bedürfnisanstalten.

Auch einige bedeutsame technische Innovationen fanden hier statt. So wurde in der Synagoge, erstmals in Österreich, eine Warmwasser-Fußbodenheizung eingebaut. Vor der Praterstraße 31 prangte im November 1865 Wiens erste monumentale Ständeruhr: eine öffentliche Zeitanzeige mit dreiseitigem, nachts beleuchtetem Zifferblatt. Direkt vor dem Carltheater (das anstelle des Leopoldstädter Theaters errichtet worden war) gelegen, diente sie vor allem den Theaterbesuchern und wurde sogleich "bis spät in die Nacht von vielen Neugierigen angestaunt". Wiederum ein paar Häuserblocks weiter, im Hof des Hauses Praterstraße 49, bestand von 1880 bis 1892 ein großes Panorama-Gebäude, eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges und das einzige Panorama abseits des Praters.

Der Dogenhof (Haus Praterstraße 70).
© Peter Gugerell, CC0, via Wikimedia Commons

Die Gebäude entlang der Straße wuchsen in die Höhe, wurden herrschaftlicher und repräsentativer. Zu den zahlreichen Palais (Wenkheim, Rohan, Bellegarde, Divan de Pade) und Hotels (Kronprinz Rudolf, Nordbahn, Continental) gesellten sich bald große Miethäuser (Lloydhof, Alliiertenhof, Nestroyhof, Fürstenhof, Dogenhof), Handels- und Geschäftshäuser, Passagen, vor allem aber unzählige Kaffeehäuser, Gaststätten und Unterhaltungsetablissements.

Jähes Ende 1938

Die Praterstraße avancierte zum mondänen "Broadway von Wien". Sie führe "direkt ins Vergnügen", sollte Joseph Roth einmal bemerken, und in der Tat, rund um das Carltheater war bald eine Dichte an Kulturstätten entstanden, die ihresgleichen in der Stadt suchte. Das Carltheater selbst erlebte unter Johann Nestroy (Direktion von 1854-60) sowie danach als Operettenbühne eine Blüte. Dazu kamen das legendäre Budapester Orpheum (später Rolandbühne), die Jüdische Bühne, die Freie Jüdische Volksbühne, die Künstlerspiele sowie diverse kleinere Kabaretts und schließlich auch Kinos.

Eine breit gefächerte Kreativzone bildete sich heraus. In ihrem Humus gediehen so unterschiedliche Personen wie der erwähnte Arthur Schnitzler, der im Carltheater die Welt der Bühne kennenlernte und später regelmäßig in den Salon Epply, Praterstraße 51, zum Rasieren kam ("von irgendeiner Probe nach Haus, will mich noch bei Epply rasiren lassen", notierte er 1913 in sein Tagebuch). Oder der Komponist und Dirigent Johann Strauss Sohn (er wohnte auf Nr. 54, wo er auch den Donauwalzer schuf), der Theaterdirektor und Kulturmanager Gabor Steiner (der Gründer des Vergnügungsparks "Venedig in Wien" wohnte auf Nr. 56) oder der Psychotherapeut Alfred Adler (Ordination auf Nr. 44), um nur einige der bekanntesten zu nennen.

Gedenktafel für Johann Strauss Sohn (Praterstraße 54).
© GuentherZ, CC BY-SA 3.0

Auch Elias Canetti kannte die Straße genau. Als Bub besuchte er regelmäßig seinen Großvater, der dort in einem Hotel lebte und ein angesehener Bürger der jüdischen Gemeinde war, wie sich der Enkel erinnerte: "Zu seinen Passionen gehörte das Einsammeln von Geld für arme Mädchen, die heiraten wollten und keine Mitgift hatten. Ich sah ihn oft auf der Praterstraße, wenn er jemand anhielt, von dem er zu diesem Zweck Geld wollte. Schon zückte er sein rot-ledernes Notizbuch, in das die Spenden mit Namen des Gebers eingetragen wurden."

Die kulturelle Blütezeit erreichte ihren Höhepunkt in der Zwischenkriegszeit - und ihr jähes Ende 1938. Der Brand der Synagoge in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November markierte nur allzudeutlich den Beginn des Kommenden. "Der Judentempel war in wenigen Minuten ein Raub der Flammen", verkündete der Radioreporter mit hörbarer Genugtuung. Die Feuerwehr war bewusst nicht eingeschritten: "Wir haben uns eigentlich nur die Hände gewärmt und gewartet, bis sich die Grundmauern von selbst niederlegen." Der Großteil der Praterstraßen-Bewohner wurde vertrieben und ermordet, Wohnungen und Betriebe wurden arisiert. In Nr. 34 und 50 entstanden sogenannte "Sammelwohnungen", in Nr. 25 ein Lager für polnische Zwangsarbeiter.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs blieb, so der Feuilletonist Peter Herz, nur mehr eines übrig: eine "entzauberte Praterstraße". Ihr einstiger Glanz war dahin, viele Gebäude waren im "Kampf um Wien" zerstört worden. Auch das Carltheater ragte lange Zeit als riesige Ruine in den Straßenraum. Im Jahr 1951 wurde es abgetragen, an seiner Stelle steht heute der Galaxy-Tower. Das Besondere war verloren, die Anmutung einer gewöhnlichen Bezirksstraße stellte sich ein, ausgerichtet in erster Linie auf den Verkehr, der mit gleich vier Fahrbahnen dominierte. Die Nachkriegsideologie der "autogerechten Stadt" hatte durchgeschlagen. Erst in den 1980er Jahren setzte ein Umdenken ein. Im Zuge der Errichtung der U-Bahnlinie 1 entfernte man die Straßenbahn von der Oberfläche, rund hundert Platanen wurden gepflanzt, breitere Gehsteige und schmale Radwege angelegt.

Die Nachkriegsideologie der "autogerechten Stadt" wirkt auch auf der Praterstraße nach.
© Peter Gugerell, Public domain, via Wikimedia Commons

Und ganz langsam setzte eine kulturelle und gastronomische Wiederbelebung ein. Ausgangspunkt war der Beginn der Praterstraße, wo sich ein gründerzeitliches Ensemble erhalten hatte. Umrahmt vom Lloydhof, einem der bedeutendsten Wohnbaukomplexe des Historismus in Wien, und dem Haus "Zum Jonas" mitsamt dem davorstehenden Nestroy-Denkmal, war ein pariserisch anmutendes Viertel entstanden, in dem die mittlerweile stadtbekannten Lokale Mochi und Ansari eröffneten. Weitere Trend-Lokale folgten stadtauswärts (Balthasar, Supersense). Und auch die Kultur erfuhr einen Aufschwung: Etwa eröffneten die ehemaligen Künstlerspiele in der Praterstraße 34 als Theater Hamakom erneut ihre Pforten. Und auch als Bildungsstandort etablierte sich die Praterstraße: 2014 zog die Webster University in das ehemalige Palais Wenkheim ein.

Sucht man heute im Straßenbild nach Hinweisen auf die jüdische Vergangenheit, ist man auf Fragmente angewiesen. In die Gehsteige eingelassene "Steine der Erinnerung" gemahnen an die ermordeten Hausbewohner, aber auch an die Kaufleute und Schauspielerinnen, die in der Praterstraße ihren Beruf ausübten. In der Tempelgasse hat sich der linke Seitentrakt der Synagoge erhalten, daneben weist eine Gedenkstätte auf die Pracht des einst an dieser Stelle befindlichen Bethauses hin.

Von ihrer einstigen Blütezeit ist die Praterstraße aber nach wie vor weit entfernt. Rein städtebaulich könnte sie deutlich mehr, als sie bietet. Ein Schicksal, das sie übrigens mit ihrer großen Schwester, der Ringstraße, teilt - aber das ist eine andere Geschichte.

Peter Payer ist Historiker und Stadtforscher sowie Kurator im Technischen Museum Wien. Zahlreiche Publikationen, zuletzt: "Stille Stadt. Wien und die Corona-Krise" (gemeinsam mit Christopher Mavric, Falter-Verlag 2021).