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Lob des Buches

Von Richard Swartz

Reflexionen
Überlebenshilfe Buch: Ein Lesender liegt mit Hilfe eines Rettungs-Schwimmanzuges auf dem Wasser. Abbildung aus "Berliner Illustrirte Zeitung" 33/1912.
© ullstein bild

Maßlose Leidenschaft mit Hang zum Tragikomischen: Bekenntnisse eines Bibliophilen.


Wie jede Leidenschaft beginnt mein lebenslanges Verhältnis zum Buch mit einem Sündenfall: Ich vergriff mich an einem.

Ein Geschenk der Eltern, geschrieben von einem gewissen Doktor Hoffmann. Das Buch erzählte, wie man mit sadistischem Erfindungsreichtum ein ungehorsames Kind bestrafen kann, indem man ihm die Finger abschneidet. Ich werde fünf oder sechs gewesen sein und konnte nicht lesen. Aber die Bilder verstand ich. Selbst noch ein Kind, identifizierte ich mich mit Struwwelpeter und schnitt, inspiriert vielleicht von dem Sadismus, statt des Doktors sein Buch entzwei. Kinder verstehen sich nicht auf Toleranz, sehr wohl aber auf Vergeltung.

Es muss die erste solidarische Handlung meines Lebens gewesen sein, und die Schere hatte ich in einer Küchenlade gefunden. Meine blinde Rachsucht wurde von den Eltern bestraft, wie genau, weiß ich nicht mehr. Doch hatten sie es sicher aus der Überzeugung heraus getan, ein Buch sei (fast) wie ein Mensch: Sich am geschriebenen Wort zu vergehen ist eine schwere Sünde, die zu unterlassen einem nicht früh genug eingeschärft werden konnte.

Struwwelpeter ließ mich ahnen, was Solidarität ist. Einige Jahre später weckte Onkel Tom mein Mitgefühl: Dank eines Buches weinte ich zum ersten Mal über jemand anderen als mich selbst. Mein Vater hatte im Kinderzimmer das Licht ausgemacht, ich sollte schlafen, aber mit Hilfe einer Taschenlampe las ich über das schreckliche Schicksal des armen Sklaven weiter. Unter der Decke - um der Bestrafung zu entgehen, aber wohl auch, weil ich mich meiner Tränen schämte.

Welt unter der Decke

Da, unter der Decke, weitete sich meine Welt. Sie erwies sich als unendlich. Plötzlich befand ich mich mit völlig fremden Menschen an Orten, an denen ich nie zuvor war, und jetzt, als ich lesen konnte, brauchte es nicht mehr als ein Buch, um dort zu verweilen. Oder genauer: nicht eines, sondern mehrere. Unzählige. Bücher gab es im Überfluss, so zahlreich, dass es mich schon früh mit lustvoller Verzweiflung erfüllt haben musste.

War es überhaupt möglich, alle zu lesen? Das hielt ich für ausgeschlossen. Dennoch begann ich, Bücher zu sammeln, ohne die Absicht oder Hoffnung, auch nur die wenigen lesen zu können, die ich besaß. Ohne zu wissen wie, war ich auf dem Weg, Büchersammler zu werden. Noch wusste ich nicht, dass ein Sammler genauso maßlos ist wie sich darüber im Klaren, seine Sammlung werde niemals vollständig sein, und ihn das, wie er da so in seinem Lesesessel sitzt, umgeben davon, was er gesammelt hat, zu einer provisorischen, eigentlich tragikomischen Person macht.

Mit der Zeit sollte meine Büchersammlung zu einer kleinen Bibliothek und zu einer Leidenschaft an der Grenze zum Missbrauch anwachsen. Mein eigener Lesesessel wurde vor fast hundertfünfzig Jahren hergestellt, in der Möbelfabrik meines Urgroßvaters im südschwedischen Halmstad, ein unförmiges, unverwüstliches Stück, mehrmals neu bezogen, das ich nun bald ein halbes Jahrhundert lang zwischen meinen verschiedenen Adressen kreuz und quer durch Europa transportiert habe. Seit einigen Jahrzehnten steht der Lesesessel in Wien; alles spricht dafür, dass dies seine letzte Adresse wird, umgeben von vielleicht fünfundsiebzig Laufmetern an Büchern.

Das mag viel klingen. Aber alle, die etwas von Büchern verstehen, wissen sofort, es handelt sich um eine ziemlich bescheidene Sammlung, die es kaum verdient, Bibliothek genannt zu werden.

Dennoch stehe ich oft dort vor meinen Regalmetern, bevor das Abenteuer beginnen kann und es Zeit für die Andacht im Lesesessel wird.

"Hast du die alle gelesen?"

Um Gottes willen! Ständig diese einfältige Frage, halb widerwillige Bewunderung, halb Verachtung. Wer sie stellt, hat vermutlich seit der Schule kein Buch mehr aufgeschlagen und steht im Leben auf keinem guten Fuß mit dem, der seines fast ausschließlich darauf verwendet, zu lesen und zu schreiben. Die Welt ist voll von solchen einfältigen Menschen. Und auf diese Frage kann es nur eine Antwort geben: Selbstverständlich nicht.

Zum Leben erweckt

Wer eine Bibliothek besitzt und etwas anderes behauptet, lügt. Zu mehr als zwei Dritteln sind meine Bücher ungelesen und werden es bleiben, bis ich das irdische Leben verlasse. Denn eine Bibliothek ist keine Sammlung gelesener Bücher; eher eine Vision oder ein Traum, der physische Gestalt angenommen hat, voll mahnender, trauriger Erinnerungen an das, woraus nichts geworden ist, oder voll von Verheißungen, auf die man sich morgen mit größtem Eifer stürzen wird.

Ich gelobte, im Lesesessel still zu sitzen - sagen wir, zwei Jahrzehnte lang.
© © stock.adobe.com / Fly_dragonfly

Meist Letzteres. Zwischen den Buchdeckeln lockt das, was ich selbst nicht erlebt habe, ein Leben, das nicht meines ist: Der, dem es gehört, ist einsam auf einer Insel oder kämpft gegen Windmühlen, irgendein armer Teufel, an den Boden gefesselt von Menschen, nicht größer als Insekten, oder jemand, der mir ähnlich ist, aber Josef Schwejk, Julien Sorel oder Emma Bovary heißt.

Eine gesamte Welt: Konserviert von der Fantasie, gepökelt von der Erinnerung und aufbewahrt in deren Kühltruhe - oder Gefühle und Gedanken, trocken raschelnd wie in einem Herbarium. Im Schein der Leselampe wird alles wieder zum Leben erweckt. Cicero meinte, wer einen Garten und eine Bibliothek hat, dem wird es an nichts fehlen. Er vergaß zu ergänzen, dass eine Sammlung an Büchern eher einem wild wachsenden englischen Garten gleicht als einem gestutzten französischen Schlosspark; dass sie ihr eigenes Leben hat, von ihrem Inhaber nur als Fußnote beeinflussbar.

"Hast du die alle gelesen?"

Abermals: Selbstverständlich nicht. Doch die Frage des analphabetischen Besuchers macht diesen unfreiwillig zum wichtigsten Anwalt der Bücher, deren einzige Existenzberechtigung es ja ist, gelesen zu werden - jemand soll sie aufschlagen und Seite um Seite benutzen. Eine Bibliothek ist für Bücher daher ein höchst unbehaglicher Ort; ein Platz frustrierten Wartens ohne Garantie, dass dieses je zu Ende geht, noch dazu gemeinsam mit unzähligen anderen. Das schafft Gedränge, Konkurrenz und Uneinigkeit untereinander, oft Feindschaft. Unerträglich.

Aber schon die Urheber der Bücher waren voll gegenseitiger Eifersucht und Gemeinheiten, und finden sie einmal lobende Worte, geschieht es mit einer so bombastischen Übertreibung, dass die Absicht zu erahnen ist: Lass mich, bitte, in Ruhe. Oder der andere soll mit übertriebenen Schmeicheleien unter die Erde gebracht werden, wie es Jean-Paul Sartre einst mit Jean Genet versuchte.

Zwangsgemeinschaft

Bücher sind nicht anders. Eine Bibliothek wird leicht zu einer Zwangsgemeinschaft, mit dem Risiko, in schlechte Gesellschaft zu geraten. In meiner Abteilung "Drittes Reich" entdeckte ich, dass sich Anne Frank und ihr Tagebuch Buchdeckel an Buchdeckel mit einer Biografie über Hans Frank wiederfand, in Nürnberg als Kriegsverbrecher hingerichtet. Da, nebeneinander, konnten sie schon seit Jahren gestanden haben. Horribile dictu. Zwar war Frank der Einzige, der in Nürnberg, bevor er gehängt wurde, Reue zeigte, doch dies war dennoch so skandalös, dass ich mich sofort genötigt sah, ihn zu verweisen.

Wo ist er gelandet?

Vielleicht bei den Memoiren oder der Unterabteilung "Polen". Wahrscheinlicher noch an unbekanntem Ort. Wie auch immer - er ist verschwunden. Bücher nehmen ständig Reißaus. In einer Bibliothek fühlen sie sich meist unwohl und reagieren in ihrem ungeduldigen Warten darauf, gelesen zu werden, höchst unterschiedlich: Einige stehen in strammer Haltung allzeit bereit, andere verdrücken sich, lassen sich nicht blicken und verstecken sich, oft hinter den Nachbarn. Oder sie haben sich hingelegt, selbst mitten am Tag, oft auch übereinander.

Nur wenige harren mit Gleichgesinnten aus, zu einer Gemeinschaft gefügt, die mit Inhalt oder auch Maß zu tun hat, ungefähr so, wie Soldaten der Größe nach ins Glied treten. Oktav wie Gefreiter, Foliant wie Major. Wenngleich in einem kleinen Buch mehr passieren kann - und sogar geräuschvoller - als in einem großen, das mehr Platz im Regal beansprucht.

Manche bleiben ganz einfach unauffindbar, auch wenn sie da irgendwo sein müssen. Seit bald zehn Jahren suche ich nun nach meiner Erstausgabe von Stefan Zweigs "Die Welt von Gestern". Vergeblich. Sie ist genauso verschwunden wie das verlorene biblische Schaf, inniger und mit mehr Liebe vermisst als die ganze fügsame und abgezählte Herde.

Alle meine Bücher stehen ja da auf meine Kosten in trächtigem Zustand, bereits bei Anschaffung von meinen Erwartungen befruchtet. Oft kommt es natürlich vor, dass gar nichts geboren wird. Unzählige Bücher warten vergeblich, auch wenn sich ein solches Buch, sollte ich es zufällig öffnen, selten als Missbildung oder Totgeburt herausstellt. Der Unterschied, Cervantes’ Ritterroman zu kennen oder ihn, in voller Rüstung gewissermaßen, im Regal stehen zu haben, kann entscheidend sein, da der Entschluss, ihn sich vorzunehmen, der plötzlichen Eingebung geschuldet ist, also dem reinen Zufall, selten einem Plan.

Don Quijote und Sancho Panza. Bronzefiguren am Denkmal für Cervantes in Madrid.
© Gemeinfrei

Die Hand kann sich dann sofort nach dem Ritter von der traurigen Gestalt ausstrecken. Jahrzehnte hat er da auf seinem Rosinante ausgeharrt und will, nach langer und stummer Bereitschaft, nun zeigen, was in ihm steckt.

Wann? Keine Ahnung. Über diesen Augenblick bestimmen weder der Ritter noch Cervantes oder ich. Wann wird das Begehren nach gerade diesem Buch geweckt? Vielleicht niemals. Feststellen lässt sich nur, dass es zu meinem und zum Vorteil des Buches wäre, wenn es sich rein physisch da vor Ort befindet. Denn auch wenn die Wartezeit mitunter lang ausfällt, lässt sich in der Welt der Bücher nichts mit Fahrplan regeln.

Mit Raum hingegen schon, jenem Platz, der immer knapp bemessen ist, weil eine Bibliothek nur wachsen, nicht schrumpfen kann. Einmal schaffte man dieses bestimmte Buch an, weil man meinte, es müsse gelesen werden, es dann aber nie tat. Also weg damit?

Nein. Durch seine bloße Anwesenheit im Regal bewahrt es ein verborgenes Wissen, so wie wir uns an Tischmanieren festhalten, ohne eigentlich zu wissen, warum sich Besteck und Gläser exakt dort befinden sollen, wo sie sich tatsächlich befinden. Dennoch kommt es vor, dass man seine Bibliothek verkleinern muss. Das hat mit dem knapperen Raumangebot modernen Lebens zu tun. Aber fast jeder Versuch scheitert; die wenigen Male, als ich Bücher weggegeben oder verkauft habe, meist aus Verzweiflung über Platzmangel, habe ich es danach immer bereut. Ein Buch ist nie wichtiger und wird nie so stark vermisst wie das Buch, das wir einst besaßen, von dem wir uns aber aus praktischen Gründen getrennt haben.

Schon das Ausleihen ist ausgeschlossen. Denn ein Büchersammler ist das Gegenteil eines Bibliothekars: Er kann ein Buch höchstens verschenken, eher Warnung als Gabe, eine Art Aderlass, um seine Sammlung zu stärken, gegen die Krankheit, die andernfalls droht, wenn die vorübergehende Abwesenheit eines Buches (die sich aller Erfahrung nach als dauerhaft erweist) Anlass gibt, zur unhaltbaren Gewohnheit zu werden.

Denn hinter der scheinbar so harmlosen Frage: "Kann ich das ausborgen?", verbirgt sich tödliche Gefahr. Gegen Licht und Staub kann man eine Büchersammlung in Schränken mit Vorhängen oder Glastüren schützen, aber gegen den Buchentleiher hilft ausschließlich rigoroses Verbot. Das Gerücht einer gut bestückten Bibliothek verbreitet sich schnell, und jeder Entleiher muss schon im Keim unschädlich gemacht werden, indem man die Bücher außerhalb seiner Reichweite unter Quarantäne stellt.

Alle? Ja. Ausnahmslos alle. Denn wer es sich leiht, ist der schlimmste Feind des Buches: Bekommt man es entgegen aller Vermutung zurück, ist der Rücken gebrochen, der Schutzumschlag verschwunden, und die Seiten haben Eselsohren oder Rotweinflecken. Von den Ausrufezeichen an den Rändern ganz zu schweigen. Struwwelpeter lässt grüßen.

Ein Ding an sich

Für den pathologischen Büchersammler - den Bibliophilen - handelt es sich um Vergewaltigung. Das Buch ist, wie einst mein Struwwelpeter, für immer verdorben, weil es ja außer Inhalt auch Objekt ist, ein Ding an sich. Als junger und von der Krankheit schwer befallener Bibliophiler leistete ich mir von besonders nachgefragten Büchern zwei Exemplare: die Erstausgabe, am besten fadengeheftet und nicht aufgeschnitten (folglich unlesbar), und ein billiges Leseexemplar desselben Buchs.

Das Original hatte einzig und allein die Aufgabe, jungfräulich unbefleckt da im Regal zu stehen. Ich sammelte schwedische Belletristik. Andere waren klüger; sie kauften alte lateinische Bücher mit Holzschnitten, die Ameisen oder chinesische Foltermethoden darstellten. Diese waren in Schweden in den 1960er Jahren billig zu bekommen, großteils kontinentale Kriegsbeute aus dem Dreißigjährigen Krieg, die aus schwedischen Schlössern und Herrenhäusern bei Buchauktionen oder in Antiquariaten gelandet waren und dort von Sonderlingen und jungen Studenten aufgekauft wurden. Jedoch leider nicht von mir.

Den Käufern der Ameisenbücher ging es nicht im Traum darum, diese zu lesen. Sie waren Spekulanten, keine Bibliophile. Wir, die sammelten, um zu lesen, straften sie mit Verachtung. Aber als Investoren hatten sie richtig entschieden: Meine schwedischen Erstausgaben sind heute so gut wie wertlos, während der eine oder andere der Verachteten immer noch gut davon lebt, hin und wieder nach London oder Paris zu reisen, um ein oder zwei Ameisenbücher zu verkaufen.

Das Büchersammeln ist mir teuer zu stehen gekommen. Nicht so sehr in Erwerb oder Wertminderung, sondern in der Aufbewahrung. Als moderner kosmopolitischer Europäer versuche ich, mich mit leichtem Gepäck durchs Leben zu bewegen, eine Bibliothek hingegen ist physisch unbeweglich. Außerdem sind Bücher sowohl sperrig als auch schwer; es ist nicht wahr, dass die Last der Gelehrsamkeit leicht zu tragen ist. Ziemlich rasch passt das nicht zusammen.

Meine Bibliothek ist daher versprengt, die Bücher sind mittlerweile über vier Haushalte in Europa verteilt. Dort vermehren sie sich in meiner Abwesenheit (dieser Vorgang gehört der literarischen Metaphysik an) und drohen, auch Küchen und Garderoben zu besetzen. Wenn ich auftauche, meist um Rechnungen zu bezahlen und abgestorbene Zimmerpflanzen wegzuwerfen, wird die restliche Zeit darauf verwandt, Papier- oder Plastiktaschen mit Büchern zu füllen, um sie auf den Dachboden zu tragen. Nicht, um sie loszuwerden - vielmehr als vorübergehende Adresse im Warten auf die große Wiedervereinigung, zu der es nie kommt.

Letzten Herbst verbrachte ich in Stockholm mehrere Tage damit, nicht weniger als vierzig (40!) Taschen auf den Dachboden zu schaffen, eine Art Inventur und Ordnung meines Lebens. Eigentlich auf Befehl meiner Frau. Obwohl auch ihr Leben hauptsächlich aus Lesen und Schreiben besteht, geht sie in der Art von Frauen praktischer vor, achtet bei Büchern stärker auf den Inhalt als auf deren Objektcharakter, und da die Frau das stärkere Geschlecht ist, wirkt sich das auch auf meine Bücher aus: Nicht einmal Kochbüchern wurde erlaubt, die Küche einzunehmen.

Also hinauf damit auf den Dachboden. Unbemerkt konnte mein Unterfangen in einem Mietshaus mit vielen kleinen Wohnungen, bewohnt von sehr jungen Menschen mit wahrscheinlich wenigen Büchern, natürlich nicht bleiben. Am dritten oder vierten Tag beobachtete ein junges Mädchen, wie ich im Aufzug meine Papiertaschen stapelte, und wies darauf hin, das hier sei der vierte Stock und der Müllraum befinde sich im Erdgeschoss. Sie hatte es gut gemeint: Ich muss erschöpft und verwirrt ausgesehen haben. Der vierte Stock sei schon richtig, ich würde hier wohnen, wie ich hinzufügte.

Dass ich das seit bald vierzig Jahren tat, sagte ich nicht. Es stellte sich heraus, dass auch das junge Mädchen im vierten Stock wohnte. Als sie vorsichtig fragte, was ich mit so vielen Büchern zu tun gedachte, antwortete ich ausweichend: Schließlich hatte sie den Müllraum erwähnt, vor allem aber, weil sie wohl noch kein Bedürfnis hatte, in ihrem eigenen Leben Inventur und etwas Ordnung zu machen. Schon gar nicht mit Hilfe von Büchern.

Müde von einem langen gutenbergischen Arbeitstag ging ich ins Bett und sprach das Abendgebet des Büchersammlers: Ich bat darum, mein ewiges Leben möge zeitlich begrenzt werden, um statt im Himmel hier auf Erden in meiner wiedervereinten Bibliothek bleiben zu dürfen, bis es mir gelungen wäre, alle meine ungelesenen Bücher zu lesen, gelobte, im Lesesessel still zu sitzen - sagen wir, zwei Jahrzehnte lang - und niemanden zu stören, um mich dann, nachdem ich alle Ausgaben von Karl Kraus’ "Die Fackel", Gibbon über das Römische Imperium sowie Robert Walsers und Adalbert Stifters (ja, Stifter!) gesammelte Werke von Anfang bis Ende gelesen hatte, ohne weiteren Protest ins Grab zu legen. Zu viel verlangt?

Richard Swartz
© Paul Zsolnay Verlag

Aber im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott. Sich dem Wort zu widmen ist eine sa-krale Handlung, und ich kann nur hoffen, dass sich Unser Herr genauso fest an Sein eigenes hält wie amüsiert das anderer liest, und deshalb mein Gebet erhört. Dann schlief ich ein. Ich träumte davon, wie eines fernen Tages eine dieser Papiertaschen auf einem Dachboden entdeckt wird, gefüllt mit dicht bedruckten Seiten zwischen Buchdeckeln, die ein herbeigerufener uralter Bibliothekar oder ein fast ebenso alter Archäologe etwas zögernd, aber glücklich als Funde aus dem Zeitalter der Gutenberggalaxis bestimmen wird.

Richard Swartz, geboren 1945, lebt als Schriftsteller in Stockholm, Wien und Istrien. Zuletzt ist von ihm das Buch "Austern in Prag" (Zsolnay, 2019) erschienen.

Der Text wurde aus dem Schwedischen von Andrea Fredriksson-Zederbauer übersetzt und ist Ende März in der Schweizer Ausgabe der "Neuen Zürcher Zeitung" erstmals erschienen.