Zum Hauptinhalt springen

Doppelgesichtige Schnappschüsse

Von Anton Holzer

Reflexionen
Heinrich Steinfest: Pferderennen, 1956.
© Wien Museum

Zur Geschichte der Wiener Straßenfotografie zwischen Nostalgie und Ironie.


Wien ist anders. Anders als etwa New York und auch Paris. In beiden Metropolen gibt es eine lange, selbstbewusste Tradition einer experimentellen, innovativen Straßenfotografie. In Wien gibt es diese nicht. Warum ist das so?

Die Wiener Fotografinnen und Fotografen zeichneten seltener das Bild einer vibrierenden Großstadt, nur ab und zu probierten sie neue, frische Zukunftsbilder der Stadt aus. Das fotografisch vermittelte Wien-Bild ist bis heute auffallend rückwärtsgewandt und konservativ geprägt. Wenn wir die Wiener Fotoszene seit der Mitte des 19. Jahrhunderts überblicken, stand im Zweifelsfall die Nostalgie vor dem Experiment.

Spießer statt Flaneur

Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse hat diesen weit über die Fotografie hinausreichenden, tief verankerten antiurbanen Reflex, der die Aura der Großstadt auf kleinbürgerliche Maßstäbe zurechtstutzt, einmal sarkastisch auf den Punkt gebracht: "Der Boulevard", schreibt er, "existiert in Wien nicht in Form von Straßenzügen, sondern bloß als Zeitungslandschaft, und er gehört nicht dem Flaneur, sondern dem Spießer."

Durchkreuzt wird dieser Hang zur Nostalgie aber immer wieder durch ein süffisantes Augenzwinkern, eine ironische Wendung. Beides, Nostalgie und Ironie, haben tiefe Spuren in der Wiener Straßenfotografie der letzten eineinhalb Jahrhunderte hinterlassen.

Bereits in der Frühzeit der Wiener Straßenfotografie, die in den 1860er und vor allem 1870er Jahren im Umfeld einer rasanten Stadterweiterung und der ersten großen touristischen Erschließung der Stadt vor und um die Weltausstellung 1873 einsetzte, die aber durch den Börsenkrach im selben Jahr rasch wieder einen Dämpfer erhielt, taucht diese Ambivalenz zwischen Fortschrittsgeist und defensivem Rückzug auf.

Gemeinsam mit Frauke Kreutler ist Anton Holzer Herausgeber von "Augenblick! Straßenfotografie in Wien" , Ausstellungskatalog Wien Museum, Kehrer Verlag, Heidelberg 2021, 448 Seiten. Der Katalog ist ab 29. Juni im Wien Mu-seum MUSA, Felderstraße 6-8, und online unter www.wienmuseum.at/de/besucherinfo/shop erhältlich. Die begleitende Ausstellung wird von 19. Mai 2022 bis 23. Oktober 2022 zu sehen sein.

Auch in den Jahren um 1900, einer rasanten Phase der Stadtentwicklung, feierte die Fotografie neuerlich mit nostalgischem Gestus die alte, überschaubare, aber als bedroht empfundene Stadt, die von Wachstum und Immobilienboom verdrängt werde. Die Wiener Straßenfotografie dokumentierte in diesen Jahren weniger die Großstadt als multikulturellen Schmelztiegel und Treffpunkt unterschiedlicher Lebensweisen, sondern als Bühne vertrauter Figuren und Alt-Wiener Typen. Dazu gehören nicht nur allegorisierte Porträts von Blumenfrauen, Dienstmännern, Fiakern oder Maronibratern, sondern auch die Darstellung vertrauter, typischer Wiener Orte und Gegenden, etwa der Naschmarkt oder der Prater. Die fotografischen Reportagen etwa von Emil Mayer stellten um 1900 dem turbulenten Chaos der Großstadt das vergnügliche (und überschaubare) Leben im Wiener Prater gegenüber, der als archaische Insel inmitten der sich rasant transformierenden Metropole imaginiert wird.

In den Jahren um 1930 trat die Wiener Straßenfotografie in eine neue Ära ein, demonstrativ wandte sie sich von den Vorbildern der Vergangenheit ab. Amateure, aber auch neugierige Fotoreporter und -reporterinnen brachten neue Themen, Stile und Sujets in die Straßenfotografie ein und dockten - zumindest für kurze Zeit - an die internationalen Trends der einsetzenden Street Photography an. Der dokumentarische Anspruch, der bisher die Wiener Straßenfotografie geprägt hatte, wurde nun zurückgedrängt. An seine Stelle trat ein zum Teil spielerischer, zum Teil experimenteller Zugang, der die Straße als metaphorischen, poetischen Raum öffnete.

Zwei Gruppen

Grob gesprochen können wir zwei Stränge dieser neuen Straßenfotografie unterscheiden: den stärker sozialdokumentarischen Zugang auf der einen und den eher feuilletonistischen auf der anderen - Positionen, die sich mitunter auch mischten. Während die sozialdokumentarisch arbeitenden Fotografinnen und Fotografen, etwa Edith Suschitzky, Mario Wiberal oder Hans Popper, sich einer ungeschminkten Schilderung von Not und Armut zuwandten oder die sozialen Kämpfe dieser Jahre in eindrucksvollen Bildern dokumentierten, näherte sich die zweite Gruppe von Lichtbildnern den Szenen des Alltags auf der Straße auf subjektiv-poetische Weise an.

Sie spielten mit Licht und Schatten, Dämmerung und Gegenlicht, mit Formen und Schriften, mit Perspektive und Abstraktion, mit Aus- und Anschnitten, mit Zooms und Details. Es kam zu einer folgenreichen Umschichtung der Motive und Themen: weg vom Außergewöhnlichen, hin zum Alltäglichen, weg von den Silhouetten des touristischen Wien, hin zur Anonymität der Vorstadt.

Trostlose Stadt

Die ideologisch angehauchte, bewusst heitere Bildwelt, die die Wiener Fotografie in der Zeit des Ständestaates und des Nationalsozialismus geprägt hatte, verschwand nach dem Zweiten Weltkrieg für einige Jahre aus der Öffentlichkeit. Dafür machte sich in den späten 1940er und 1950er Jahren eine düstere, albtraumhafte Bildsprache bemerkbar.

Nach dem zerstörerischen Krieg und den Erfahrungen des Nationalsozialismus lag die Stadt buchstäblich auf dem Boden. In eindringlichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen schilderten Fotografen und Fotografinnen wie Erich Lessing, Ernst Haas, Franz Hubmann, Barbara Pflaum, Heinrich Steinfest, Wolfgang Hamerschlag und andere das traumatisierte, erschöpfte Leben auf Wiens Straßen: die große Not, die Zerstörungen auf den Straßen, die körperlichen Versehrungen, die Rückkehr der Kriegsgefangenen und, inmitten des alltäglichen Dramas, immer wieder kleine Momente des Glücks.

In den breiten Strom der resignativen Bilder des Wiener Alltags mischten sich nach und nach auch andere Aufnahmen: Übergangsszenen, die zwar das Grau der Stadt dokumentierten, es aber in suggestiven Licht-und-Schatten-Spielen zu ästhetischen Kompositionen verdichteten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Fotoserie "Licht und Schatten", die Elfriede Mejchar in den 1960er Jahren aufnahm. In den späten 1950er und in den 1960er Jahren wurden die trostlosen Bilder des NachkriegsWien allmählich durch heitere und zukunftsfrohe Gegenbilder ergänzt und schließlich abgelöst. Die Straße wurde nun zur Arena der plakatierten Versprechungen, zur Bühne kollektiver Sehnsüchte und vor allem: zur Kulisse des Massenkonsums.

Leo Jahn-Dietrichstein, um 1960.
© Wien Museum

Die prickelnde Erotik, die um die Jahrhundertwende noch recht verschämt Eingang in die Straßenfotografie gefunden hatte, wurde nun im öffentlichen Raum offen ausgelebt. Die Fotografie der 1950er und 1960er Jahre kultivierte über weite Strecken den voyeuristischen Blick und die spannungsreiche Inszenierung der Geschlechter.

Franz Hubmann, der wie kein anderer Fotograf die Wiener Street Photography der 1950er und 1960er Jahre geprägt hat, fing in seinen Bildern immer wieder diese Welt von Erotik und Sex-Appeal ein. Ihm gelang es wie kaum einem Fotografen dieser Jahre, auf subtile Weise moderne Urbanität mit tradierten Wien-Bildern zu verknüpfen. Am augenscheinlichsten zeigt sich dieser Zugang in Hubmanns frühen Wien-Bildbänden, in denen er die moderne Street Photography mit gängigen, auch touristisch vermarktbaren Wien-Klischees verband.

Als der Fotograf Peter Dressler Anfang der 1970er Jahre am Wiener Brunnenmarkt fotografierte, schlug er einen ganz neuen Ton in der Stadtfotografie an. Die 1972 entstandene Fotoarbeit mit dem Titel "Brunnenmarkt, Sonntag um ½ 12" zeigt eine von Menschen verlassene Marktstraße in Wien-Ottakring. Nicht der dokumentarische Anspruch steht hier im Vordergrund, sondern ein spielerisch-konzeptueller Umgang mit den Bildern. Dressler verdichtete die frontal aufgenommenen Marktstände zu einem seriell angeordneten, konzeptuellen Tableau. In dieser Arbeit zeichnet sich ein neuer Zugang in der Wiener Straßenfotografie ab: Der dokumentarische Gestus tritt in den Hintergrund, das einzelne Foto weicht einer Bildserie, die ganz unterschiedliche Lesarten erlaubt.

In den 1980er Jahren veränderte sich der Blick auf die Stadt (und damit die Straße) zunehmend. Nicht nur im Umkreis einer sich herausbildenden Alternativkultur entwickelte sich ein neues Verständnis des öffentlichen Raums. Politische Initiativen wurden gegründet, um vernachlässigte Jahrhundertwendeviertel vor dem Abriss und modernen Neubauprojekten zu retten. Entlegene Fabrikareale wurden zu Kultur- und Jugendzentren umgestaltet, vergessene Stadtbrachen, wie der Donaukanal, aber auch das Wiental, die in den 1980er Jahren in Fotobänden vorgestellt wurden, gerieten in den Fokus der künstlerischen Aufmerksamkeit.

Alltag & Architektur

Am Beispiel des Fotobands "Donaukanal" (1986) des Wiener Fotografen Matthias Cremer lässt sich dieser neue Blick auf die Stadt illustrieren. Als Cremer in den 1980er Jahren den Alltag und die Architektur entlang des Wiener Donaukanals zu fotografieren begann, war dieser ein vernachlässigter Brachraum, eine wenig beachtete Gegend in der Stadt.

Seine fotografischen Studien sind zwischen nüchterner Stadtdokumentation, Reise in die Vergangenheit (architektonische Details aus der k. u. k. Zeit) und ethnologischer Recherche angesiedelt, die den Alltag der Menschen am Wasser erforscht. Der Fotograf beobachtet Männer, Frauen und Kinder, die sich die betonierte Welt des "Kanals" für ihre Zwecke zu eigen gemacht haben: Sonnenanbeter und Angler, Rastende und sich Ertüchtigende, Große und Kleine - mit und ohne Hunde. Die Sehenswürdigkeiten, die die Wiener Straßenfotografie so oft begleitet haben, sind hier fast vollkommen ausgeblendet. Der aufmerksame, beobachtende Blick des Fotografen hält die Balance zwischen Anteilnahme und leiser Ironie.

Die Ironie, ist - neben dem bereits diagnostizierten nostalgischen Grundton vieler Wiener Straßenfotos - ein zentrales Kennzeichen der Straßenfotografie dieser Jahre. Ein zentrales Transportmittel für die Spielarten der Ironie, die die Wiener Stadtfotografie bis heute prägt, ist das bildliche Spiel mit Schrift und mit Worten. Keiner hat das mehrdeutige, mit viel Ironie durchsetzte Jonglieren mit Typologie und Schrift weiter getrieben als der Schriftsteller und Fotograf Bodo Hell. In seinem 1983 erstmals publizierten Band "Stadtschrift" hat er die Stadt und das in ihr vorgefundene Zeichensystem an Mauern, Fassaden und Wänden im Fahrwasser der literarischen Avantgarde regelrecht durch- und ausbuchstabiert. Indem Bodo Hell diese Schriften mit der Kamera einsammelt und zu Tableaus und neuen Textfolgen arrangiert und montiert, löst er den ursprünglichen Sinnzusammenhang auf subtile, oft augenzwinkernde Weise auf.

Die experimentellen Aufbrüche der 1980er Jahre haben den in der Wiener Fotografie fest verankerten Rekurs auf das Vergangene nur punktuell hinterfragt, aber nicht aufgelöst. Jenseits der avantgardistischen Bild- und Sprachspiele der 1970er und 1980er Jahre setzte sich der in der Nachkriegszeit etablierte Mainstream der Straßenfotografie unbeirrt fort - im Grunde bis heute.

Dicke Marktfrau

Die fotografische Ikonografie der Wiener Märkte hat sich schon an der Wende zum 20. Jahrhundert (etwa bei Moriz Nähr oder Anton Carl Schuster) herausgebildet. Zu ihren Prototypen gehört unter anderem die dicke Marktfrau, die an ihrem Marktstand steht oder sitzt. Diese klischeehaft gezeichnete Figur, die Franz Hubmann, Wolfgang Hamerschlag und viele andere in den 1950er und 1960er Jahren in nostalgischer Zuspitzung gezeichnet hatten, tauchte in den folgenden Jahren immer wieder in ähnlicher Darstellung auf: In den 1970er Jahren etwa bei Barbara Pflaum oder bei Georg Riha, der sie, im Geist der Zeit, in einen sozialkritischen Kontext setzte.

Und auch ein zweiter atmosphärischer Topos der Wiener Straßenfotografie, die Tristesse der Großstadt, hat sich als überaus haltbar erwiesen. Die Bilder des "trostlosen Wien" wurden immer wieder aufgegriffen, etwa von Franz Hubmann, Heinrich Steinfest, Barbara Pflaum, Erich Lessing und anderen. Diese Bildsprache wurde Jahre später, unter anderen Vorzeichen, erneut aufgenommen, etwa in einer Fotoserie von Gerhard Trumler aus den späten 1970er Jahren.

Der Kollaps der kommunistischen Nachbarstaaten und die Grenzöffnungen des Jahres 1989 haben die Position Wiens deutlich verändert. Die Stadt ist innerhalb weniger Jahre vom österreichischen Eckplatz und vom äußersten Rand des Westens ins mitteleuropäische Zentrum gerückt und wirtschaftlich enorm aufgeblüht.

Reinhard Mandl: Franz-Josefs-Kai, 2000.
© Wien Museum

Diese tiefgreifende Transformation hat sich in der Stadtfotografie auf seltsam widersprüchliche Weise niedergeschlagen. Während etwa die Fotografin Annelies Oberdanner in ihrem künstlerischen Fotoband "Wien" (2001) unter anderem den (oft gewaltsamen) Zusammenstoß von entfesseltem Neubau und alten Straßenzügen festhält, dokumentiert Reinhard Mandl in einer umfangreichen Fotoserie die Veränderungen der Stadt um das Jahr 2000 mit ganz anderen ästhetischen Mitteln.

An der Schwelle zur digitalen (und farbigen) Fotografie entschied er sich bewusst für ein poetisch angehauchtes Schwarz-Weiß, das stilistisch in der Tradi-tion der Wiener Nachkriegsfotografie steht. Seine Bilder, die oft regnerische Grau-in-Grau-Stimmungen einfangen, halten atmosphärisch die Waage zwischen dem Neuen und dem eben Vergangenen, zwischen der Neugier auf das, was ist, und der Trauer darüber, was war.

Wie nahe Dokumentation, Nostalgie und Ironie beieinanderliegen, zeigt eine ganz andere Fotoarbeit, die etwa zeitgleich in den Jahren 1998 bis 2003 entstand. Unter dem Titel "Wiener Autofahrer unterwegs" lichtete der Fotograf Andreas Baumann durch das Autofenster die Fahrzeuginsassen in Nahaufnahme ab. Im Titel seiner Arbeit spielt er kokett mit populärkulturellen Signets. Die österreichische Radiosendung "Autofahrer unterwegs", eine nationale Institution, die seit den späten 1950er Jahren lief, wurde 1999 eingestellt. Die Bilder stellen also auch eine Art Nachruf dar.

Der Fotograf rückt ganz nah an die Gesichter heran. In der seriellen Anordnung schlägt die auf den ersten Blick nüchterne Dokumentation ins Ironisch-Groteske um, jenen Zug der Wiener Fotografie, der die direkte Aussage so oft subversiv durchkreuzt. Pointierter kann man die Doppelgesichtigkeit der Wiener Fotografie, die immer wieder zwischen Ironie und Nostalgie changiert, nicht kennzeichnen.

 

 

Anton Holzer, geboren 1964, ist Fotohistoriker, Publizist, Ausstellungskurator und Herausgeber der Zeitschrift "Fotogeschichte". www.anton-holzer.at