Zum Hauptinhalt springen

Czernowitz, die Stadt mit vielen Namen

Von Christian Hütterer

Reflexionen

Die Vielfalt der Habsburgermonarchie auf kleinstem Raum: Rückblick auf einen mythenumwobenen Ort.


Czernowitz, Tscherniwzi, Tschernowzi, Cernăuti, Tschernowitz, Czerniowice, das "kleine Wien im Osten", das "kleine Jerusalem am Pruth" - es sind viele Namen für eine Stadt, die in der österreichischen und europäischen Geschichte zu einem Symbol für das friedliche Zusammenleben wurde. Hier kamen, wie der aus der Bukowina stammende Schriftsteller Karl Emil Franzos schrieb, "Ost und West, Nord und Süd, und alle erdenklichen Kulturgrade" zusammen. Auch wenn vieles sicherlich verklärt wurde, das Zusammenleben der Volksgruppen nicht immer harmonisch und die gute, alte Zeit nicht immer so gut war, wie sie in der Erinnerung erscheint, so hatte die Region doch einen ganz eigenen Charakter, der durch die Schrecken des Zweiten Weltkrieges ein Ende fand.

Blicken wir am Anfang unserer nostalgischen Reise in die Bukowina zurück: 1772 konnte Österreich durch die Teilung Polens große Gebiete im Osten gewinnen, die als Königreich Galizien und Lodomerien Teil der habsburgischen Monarchie wurden. Siedler, die vor allem aus dem süddeutschen Raum, aber auch aus Rumänien oder Polen kamen, wurden in das nur dünn besiedelte Land gelockt.

1849 wurde sein östlicher Teil abgespalten und als Herzogtum Bukowina ein eigenständiges Kronland der Monarchie. Abenteuerliche Dinge wurden über diesen Landstrich erzählt, er galt als arm und rückständig. Seine Bewohner hatten alles andere als einen guten Ruf und wurden in Reiseberichten wahlweise als unzivilisiert, bösartig oder kriminell dargestellt. Oft diente diese Darstellung auch der Propaganda, denn diese Schilderungen sollten das österreichische Wirken in der Region als vorbildlich darstellen und beweisen, dass Österreich mit seiner mission civilisatrice Bildung und Fortschritt in den hintersten Winkel Europas bringen würde.

Ethnische Vielfalt

Doch das Bild der rückständigen Region verfestigte sich in der öffentlichen Wahrnehmung, und so galt die Bukowina bald als eine Art Strafkolonie der habsburgischen Monarchie, unbeliebte oder unfähige Beamte und Militärs wurden in den äußersten Osten abgeschoben. Czernowitz erlebte aber einen rasanten Aufschwung, Straßen wurden befestigt, steinerne Häuser ersetzten die aus Holz, und Schulen wurden gebaut. Durch die Zuzügler aus vielen Teilen Europas entstand in Czernowitz außerdem ein Mitteleuropa im Kleinen: Deutschsprachige, überwiegend jiddisch sprechende Juden, Rumänen, Ukrainer und Polen waren die größten Gruppen, dazu kamen noch Minderheiten wie die Lipowaner und Armenier.

Die Ansiedlung vieler Juden machte Czernowitz nach Wien und Lemberg nicht nur zur drittgrößten jüdischen Gemeinde in der Monarchie, sondern auch zur einzigen Hauptstadt in ganz Europa, in der die jüdischen Einwohner die größte Bevölkerungsgruppe bildeten. Doch die jüdische Gemeinde der Stadt war kein homogener Block, sondern spaltete sich in Gruppen mit gänzlich unterschiedlichen Ansichten zu Religion und Leben.

Wappen der Stadt Czernowitz, 1908.
© Kreiner, Public domain, via Wikimedia Commons

Da gab es etwa jene Gruppe, deren bekanntester Vertreter der schon erwähnte Schriftsteller Karl Emil Franzos war. Sie waren überzeugte Modernisierer, die sich an Deutschland orientierten und die Assimilation der Juden an die deutsche Kultur als Bedingung für den Fortschritt sahen. Ganz anders war die Gruppe Morgenrojt eingestellt, die den Zionismus ablehnte, aber dafür den Sozialismus einführen wollte. Im Vorort Sadagora schließlich hatte sich ein chassidischer Wunderrabbi niedergelassen, der dort regelrecht Hof hielt und für seine zahlreichen Anhänger eine große Synagoge im maurischen Stil errichten ließ.

Doch nicht nur die jüdischen, auch die anderen Bevölkerungsgruppen waren in sich gespalten. So gab es unter den deutschsprachigen Czernowitzern eine kaisertreue Gruppe und eine andere, die sich an Deutschland orientierte. Bei den Ukrainern wiederum fühlten sich einige mit Russland verbunden und wollten Untertanen des Zaren werden, andere träumten hingegen von einem unabhängigen ukrainischen Staat. Kurz: Die Lage war kompliziert. Der sogenannte "Bukowinaer Ausgleich" sollte die Verhältnisse zwischen den Nationalitäten in politische Realitäten übersetzen.

Im Landtag sollten fünf nationale Kurien für Juden, Deutsche, Ruthenen, Rumänen und Polen geschaffen werden. Neu daran war, dass erstmals die jüdische Bevölkerungsgruppe als eigene Wählergruppe definiert wurde, bis dahin war sie nur als Religionsgemeinschaft gesehen worden. Doch die Regierung in Wien stimmte dem aus Czernowitz kommenden Vorschlag nicht zu und verbot die Einführung einer jüdischen Kurie. So mussten die jüdischen Czernowitzer mit den Deutschen eine gemeinsame Kurie bilden. Die ethnische Vielfalt fand auch im Stadtbild ihren Niederschlag. Jede der Bevölkerungsgruppen hatte als Treffpunkt ein eigenes Haus in der Innenstadt. So standen sich das Deutsche Haus und das Dom Polski gleich gegenüber, nur etwas weiter weg fanden sich das ukrainische Nationalhaus, das Jüdische Haus und der rumänische Nationalpalast.

Jiddisch-Kongress

1875 feierte die Bukowina hundert Jahre Zugehörigkeit zu Österreich. Die Stadt baute aus diesem Anlass ein Denkmal, das von einer großen Statue der Austria überragt wurde. Die feierliche Eröffnung legte man auf den Geburtstag des Kaisers, der wollte sich aber wohl die lange Anreise sparen und kam nicht. Aber er hatte ein spezielles Geschenk, um diesen Jahrestag zu feiern: Franz Joseph genehmigte die Errichtung einer Universität in Czernowitz. Dies war insofern eine sehr gute Nachricht für die Stadt und die gesamte Bukowina, weil das Bildungsangebot in dieser abgelegenen Region bis dahin sehr überschaubar war. An der Universität dominierten zwar wie in der Verwaltung der Bukowina die deutsche Sprache und Kultur, aber es gab auch Studien in Rumänisch und Ukrainisch.

Erzherzog Wilhelm Franz Joseph Karl, auch Wasyl Wyschywanyj genannt.
© Unbekannt, Public domain, via Wikimedia Commons

1908 sorgte ein anderes kulturelles Ereignis für Aufregung: In Czernowitz fand damals die weltweit erste Konferenz über die jiddische Sprache statt. Bei diesem Treffen, das vom Schriftsteller Nathan Birnbaum einberufen worden war, sollte eine sehr umstrittene Frage geklärt werden, nämlich ob Jiddisch oder Hebräisch die "nationale Sprache" der Juden sein sollte. In dieser Angelegenheit, die mit großen Emotionen verbunden war und viele politische Implikationen hatte, konnte zwar keine Einigkeit erzielt werden, aber der Kongress gilt immerhin als Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der jiddischen Sprache und Kultur.

Wie für ganz Mitteleuropa brachte der Erste Weltkrieg auch für Czernowitz einen tiefen Einschnitt. Rumänien blieb zuerst neutral und wurde von beiden Seiten umworben. Die Entente machte schließlich das bessere Angebot, indem sie Rumänien große Teile von Österreich-Ungarn, darunter auch die Bukowina, versprach. 1918 zerbrach die habsburgische Monarchie, aber die Lage in ihrem äußersten Osten war verworren. Rumänien wollte, wie von der Entente versprochen, die Region besetzen, Teile der Bevölkerung verlangten aber den Anschluss an den gerade erst geschaffenen Staat Westukraine.

Der habsburgische Erzherzog Wilhelm Franz Joseph Karl, der schon lange für die ukrainische Sache eintrat und sich sogar den ukrainischen Namen Wasyl Wyschywanyj zugelegt hatte, besetzte mit treuen Soldaten die Stadt, musste aber vor der anrückenden und viel größeren rumänischen Armee fliehen. Ein Jahr später wurden mit dem Vertrag von Saint Germain Tatsachen geschaffen und die Bukowina wurde Teil Rumäniens.

Es folgte eine rasche und umfassende Rumänisierung. Die rumänische Sprache wurde als einzige Amtssprache zugelassen und dominierte das bis dahin mehrsprachig gewesene Schulwesen, bei einer Bodenreform wurden ukrainische Bauern benachteiligt und durch eine Reform der Staatsbürgerschaft wurden viele Juden und Ukrainer zu Staatenlosen gemacht. Die Begründung der neuen Machthaber für all diese Maßnahmen lautete, dass ein Großteil der Bevölkerung eigentlich Rumänen seien, die im Lauf der Geschichte germanisiert oder slawisiert worden waren und dass diese Entwicklung nun rückgängig gemacht werden sollte. Das vergiftete politische Klima führte immer wieder zu Gewaltausbrüchen und mehrmals erschütterten politische Morde die Stadt.

Überzeugter Modernisierer: Schriftsteller Karl Emil Franzos (1848-1904).
© Unbekannt, Public domain, via Wikimedia Commons

Trotz dieser politischen Umbrüche und Gewaltexzesse kam es gerade in dieser Zeit zu einem kulturellen Aufblühen, das vor allem in der Literatur sichtbar wurde. Der prominenteste Vertreter ist bis heute sicherlich der 1920 in Czernowitz geborene Dichter Paul Celan, der in seinem Werk, allen voran in seinem bekanntesten Gedicht "Todesfuge", die Schrecken des Holocaust verarbeitete. Rose Ausländer und Selma Meerbaum-Eisinger, die mit nur 18 Jahren in einem Lager der Nationalsozialisten starb, dichteten auf Deutsch, Olha Kobiljanska auf Ukrainisch, dazu kam als weiterer Künstler der aus Czernowitz stammende Tenor Joseph Schmidt, der in Deutschland Karriere machte.

Der Zweite Weltkrieg beendete schließlich die ethnische Vielfalt der Stadt. Durch die Aufteilung Mitteleuropas zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion fiel Czernowitz an die Sowjetunion. Die deutsche Bevölkerung wurde "heim ins Reich" geholt, die Rumänen wurden vertrieben.

Besiegeltes Schicksal

1941 folgte der deutsche Einmarsch in der Sowjetunion, Czernowitz wurde von den Nationalsozialisten besetzt und das Schicksal der jüdischen Gemeinde war damit besiegelt. Nur eine Minderheit überlebte oder konnte fliehen, die meisten fanden in Lagern oder auf Erschießungsstätten ihr grausames Ende. Der Krieg und die sowjetische Siedlungspolitik führten dazu, dass die Stadt heute fast ausschließlich von Ukrainern bewohnt wird.

Czernowitz, das mitten in Europa liegt, war immer eine Stadt an der Peripherie, zuerst im äußersten Osten Österreichs, dann im nördlichsten Rumänien, heute im Westen der Ukraine. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs versucht die Stadt, an ihre Geschichte anzuknüpfen und den Mythos der mitteleuropäischen Metropole wiederzubeleben. Zwar verschlägt es so manchen Reisenden in die Stadt, diese hat ihre sprachliche und ethnische Vielfalt aber längst verloren. Von diesem einst multikulturellen Ort sind leider nur noch die Kulissen geblieben, die Akteure indes, sie sind verschwunden.

Christian Hütterer, geboren 1974, Studium von Politikwissenschaft und Geschichte in Wien und Birmingham, schreibt Kulturporträts und Reportagen.