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Ilse Aichinger: Effizient wie ein Film

Von Matthias Greuling

Reflexionen

Die Autorin, die am 1. November ihren 100. Geburtstag gefeiert hätte, liebte das Kino. Ihr Stil zeugt davon.


Ein bisschen wirkt das Werk von Ilse Aichinger durchaus vom Kino inspiriert. Aichinger, zeit ihres Lebens eine fast fanatische Kinogängerin, vor allem im höheren Alter, oftmals mit bis zu drei Filmbesuchen pro Tag, hat sich von diesem Medium so einiges abgeschaut, vor allem, was die erzählerische Effizienz betrifft: Im Film, das ist eine der vielen ungeschriebenen Regeln, gibt es bewusste Auslassungen, Verkürzungen und Verknappungen, um einen dramatischen Effekt zu erzielen und das Gesehene durch die Zuschauer weiterdenken zu lassen.

Es ist das Ziel, die Reflexion über ein Thema oder eine Geschichte nicht vorzugeben, sondern sie interpretativ zu gestalten, dem Zuschauer den Ball zuzuspielen und ihn darüber spekulieren zu lassen, was genau da nun auf der Leinwand passiert ist. Das ist, im Fall vieler Regisseure, die bewusste Auslassung von Aufnahmen und Gegenschüssen, die der Zuschauer erwartet haben mag, oder ein offenes Ende - und selbst innerhalb einer Szene gibt es den viel zitierten Grundsatz: "Get in late, leave out early". Steige also in die Szene möglichst spät ein und verlasse sie so früh als möglich.

Bei einer nächtlichen Ehekrise zeigt man beispielsweise nicht, wie sich der Streit schon beim Abendessen langsam aufgebaut hat, sondern steigt etwa dann ein, wenn die ersten Teller zu Bruch gehen. Dafür wartet man nicht die stundenlangen gegenseitigen wüsten Beschimpfungen der Eheleute ab, sondern zeigt, wie die Polizei anrückt, oder wie sich die Eheleute selig in den Armen liegen, je nachdem, wie der Streit ausgeht.

Exaktes Beschreiben

Ilse Aichinger liebte das Filmische, und auch in ihrem eigenen Werk wandte sie konsequent und mit dem Alter immer häufiger diese Verschlankung im Erzählen an. Eine Verknappung von Geschichten, oftmals reduziert auf nur wenige Sätze oder Worte. "Ich wollte am liebsten alles in einem Satz sagen, nicht in zwanzig", sagte Aichinger über ihren Debütroman "Die größere Hoffnung", der sie 1948 relativ rasch bekannt machte.

In diesem Buch stand ihr bei der Veröffentlichung immer noch "zu viel Text" drin, an ein Buch hatte Aichinger damals gar nicht gedacht, aber sie wollte "einfach alles festhalten", was es zu sagen gab. Trotzdem gab es in ihrem Werk den straffen Zug zum Wesentlichen, und es ist ein Kampf, den sie da mit den Worten ausficht. Aber einer, der sich lohnt: "Wenn mir zwei oder drei Sätze gelingen, dann habe ich das Gefühl, meine Existenz wäre nicht völlig absurd, als bliebe noch ein Funken Sinn übrig."

Das Kino hat Aichinger dabei geholfen, in diesen effizienten, oftmals kurzen Sätzen zu denken, eben völlig losgelöst vom Geist einer schwafelnden Prosa, hingewandt zum Pointierten, zum exakt Beschreibenden. In ihrem Buch "Film und Verhängnis" (2001) widmete sich Aichinger ihrer liebsten Freizeitbeschäftigung, der sie bis ins hohe Alter nachging. In dem Band legte sie dar, was die Faszination am Kino für sie ausmachte. Es ist eine Kunst des Verschwindens, und darum geht es in Aichingers gesamtem Leben; die bewegten Filmbilder werden erst bei der Projektion sichtbar, sie gehen also "vorüber", was das Kino zu einem grundsätzlich unsichtbaren Medium macht. Ein unsichtbares, das nur im Moment der jeweiligen Bewegung kurz aufflackert.

Wieso das mit dem Verschwinden so eine präsente Rolle in Aichingers Leben gespielt hat, ist leicht erklärt: Ihre Zeit während des Dritten Reichs ist eben eine solche des Verschwindens gewesen. Ilse Aichinger war die Tochter eines Lehrers und einer jüdischen Ärztin. 1942 wurden vor Aichingers Augen die eigene Großmutter und weitere Familienmitglieder deportiert, ihre Zwillingsschwester Helga Michie konnte bereits 1939 mit einem Kindertransport nach England fliehen, doch das gelang der restlichen Familie nicht mehr - der Krieg war ausgebrochen.

Also entschied sich Aichinger, bei der jüdischen Mutter in Wien zu bleiben - und dabei möglichst von der Bildfläche zu verschwinden. Beiden nutzte eine absurde Gesetzgebung der Nazis: Zwar galten die Rassengesetze und man hätte Aichingers Mutter mit Sicherheit längst deportiert gehabt, wenn da nicht der Umstand gewesen wäre, dass Ilse als unmündige "Halbarierin" unter dem unbedingten Schutz ihrer Mutter gestanden hatte. Diese Verantwortung der alleinerziehenden Mutter (das Ehepaar war schon 1927 geschieden worden) gegenüber dem Kind ermöglichte es, im NS-Staat noch vor den Rassengesetzen zu stehen. Absurd aus Sicht der Nazis, aber rechtens. Und trotzdem ein permanenter Gefahrenherd. Was, wenn die Exekutive dieses Gesetz anders ausgelegt hätte? Deshalb auch die "Duck and Cover"-Haltung der Aichingers in Wien. Einige Jahre ging das gut.

Dichter, kürzer, geraffter

Diese Erfahrungen des permanenten Verschwindens, des Lebens am Abgrund, hat Aichinger in ihrem ersten Roman verarbeitet, der zugleich ihr einziger blieb. Es ist die Geschichte vom Überleben des Krieges, das wie ein Kinderspiel wirkt, aber es sind dort auch viele Andeutungen zu finden, jedoch niemals die Begrifflichkeiten "Jude" oder "Nazis". Es sind wiederum Auslassungen, die man aus der Kinodramaturgie kennt, die Aichingers Stil schon in frühen Jahren geprägt haben. Aber es war eine Frau, die etwas zu sagen hatte, das blieb nicht unbemerkt.

Stilistisch ist Aichinger ab diesem Zeitpunkt mit dem Reduzieren beschäftigt. Alles wird dichter, kürzer, geraffter. Es ist unbarock, was sie von sich gibt. Die Texte sind nicht groß, sie ducken sich regelrecht, die Worte sind gar nicht vorhanden, um üppige Literatur zu verursachen. Wie in dem Band "Schlechte Wörter" angeführt, ist es Aichinger inzwischen unmöglich, die besten Wörter zu verwenden, es kommen lediglich die "zweitbesten oder drittbesten" zum Einsatz. Es ist nachvollziehbar, warum diese Autorin das so wollte: Das Erlebte suchte sich den Kanal der Sprachlosigkeit, in gewisser Weise. Es war etwas, wofür es eigentlich gar keine Worte gab.

Es muss hier nochmals auf "Film und Verhängnis" verwiesen werden, in dem Aichinger ihr filmisches Denken über das Leben erläutert. Da kommen Stan Laurel und Oliver Hardy genauso vor wie die Beatles-Filme, da sind die Schnittmengen von anspruchsvollem Denken mit Popkultur allgegenwärtig.

Späte Kolumnen

Das Ganze erreicht Aichinger mit einem Mix aus Filmkritiken, Bildbeschreibungen und einem "Journal des Verschwindens", in dem Fragmente einer (autobiografischen) Darstellung der Jahre 1921 bis 1945 beschrieben sind. Es ist ein wildes Sammelsurium aus Texten, ein Faszinosum, das das Medium Film preist, und auch die von den Nazis zum Verschwinden gebrachten Personen. Ein inneres Zerrbild der Emotionen ist es aber auch, das liest man zwischen den Zeilen. Die "Neue Zürcher Zeitung" befand damals, dass es sich bei dem Band um "etwas Großes" handelte. Das war genau das, was Aichinger nicht vorlegen wollte.

Ihre "Spiegelgeschichte" (1949) wurde von der Gruppe 47 ausgezeichnet, und bei einer der Zusammenkünfte dieser literarischen Vereinigung lernte sie den Hörspielautor Günter Eich kennen, mit dem sie bis zu dessen Tod 1972 zusammenlebte. Der gemeinsame Sohn Clemens Eich war dabei, sich als Schriftsteller zu etablieren, da riss ihn ein tragischer Unfall 1998 aus dem Leben. Zu diesem Zeitpunkt war Ilse Aichingers literarisches Schaffen an einem Nullpunkt angelangt. Ihr Wiener Lebensmensch Richard Reichensperger (auch er starb zu früh) hat sie dann aber doch noch dazu überredet, neue Texte zu verfassen, darunter auch Kolumnen für Zeitungen.

Aber es blieb bei kleinen Texten; Aichingers Werk selbst eine literarische Größe zu attestieren, dagegen hätte sie sich wohl entschieden gewehrt. Lieber präzise und kurz anstatt schwammig. Lieber hinter den Worten verschwinden, anstatt im Scheinwerferlicht der Literaturszene stehen. Das war ehrliche Literatur im besten Sinne. Und eine, die ihre Begrifflichkeit in einer fast cineastischen Genauigkeit gefunden hatte: Ilse Aichinger und das Kino, das war eine Freundschaft auf Lebenszeit, und zwar eine solche, die nicht nur in das Werk der Autorin hineinwirkte, sondern auch in ihr Herz.

Matthias Greuling ist Journalist, Regisseur und Filmkritiker der "Wiener Zeitung".